Der Koalitionsvertrag: Eine Geschichte von „beobachten“, „in den Fokus nehmen“ und einem denkwürdigen Gedenktag

CDU/CSU und SPD haben sich geeinigt. Jedenfalls deren Führungsriegen. Diese haben in den letzten Wochen einen Koalitionsvertrag verhandelt, der gestern vorgestellt wurde. Der Vertrag umfasst 185 Seiten und es werden viele Themebereiche angeschnitten. Hier werde ich einige Schlaglichter aufwerfen.

Allgemein lässt sich zusammenfassen: Wer_welche für den Staat nützlich ™ scheint, konservativere Wertvorstellungen vertritt und möglichst wenig abweicht von der „Norm“, wird irgendwie unterstützt. Sonst bleibt vieles schwammig, soll „in den Fokus“ gerückt oder „beobachtet“ werden.

Bis zum 12. Dezember können nun die SPD-Mitglieder noch bei einem Mitgliederbescheid über den Vertrag abstimmen.

(Lohn)Arbeit

Als großer Erfolg gefeiert: Es kommt eine Mindestlohnregelung. Doch was heißt das in diesem Fall wirklich? Zum einen greift die Regelung erst ab 2015 und dann auch nur für die Branchen, wo es bisher keine andere Regelung gibt.  Erst ab 2017 soll der Mindestlohn flächendeckend gelten. Mit einem Betrag von 8,50€. Dieser Betrag gilt heute schon als Niedriglohn, mit der Inflation wird er in vier Jahren noch weniger Wert haben. Es gibt natürlich Arbeitnehmer_innen, für die diese Regelung eine Verbesserung darstellt, trotzdem ist es keine revolutionäre Änderung.

Zum Thema Lohndifferenzen aufgrund von Geschlecht positioniert sich die Koalition zwar („nicht zu akzeptieren“), formuliert dann aber kaum wirkliche Verpflichtungen, sondern fordert Firmen eben auf sich zu kümmern. Zum Quotenwitz schrieb ich ja bereits letzte Woche. Der bleibt bestehen.

„Gleichstellung“

Ja, viel ist von all den SPD-Versprechen nicht übrig geblieben. Großmündig postuliert die Koalition: „Wir verurteilen Homophobie und Transphobie und werden entschieden dagegen vorgehen.“ Wie diese Regierung das machen möchte, verrät sie nicht. Stattdessen nimmt sie in den Vertrag auf, dass sie „das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Sukzessivadoption zügig umsetzen“. Na ganz große Leistung, wie auch schon auf karnele bemerkt wurde.

Bezeichnend ist, dass im Abschnitt „Sexuelle Identitäten respektieren“ nicht zu erst darauf hingewiesen wird, welche diskriminierenden_gewaltvollen Strukturen vorherrschen, stattdessen folgender vielsagender Fokus:  „Wir wissen, dass in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften Werte gelebt werden, die grundlegend für unsere Gesellschaft sind.“

Situation von Hebammen

Die Sicherstellung einer flächendeckenden Versorgung mit Geburtshilfe ist uns wichtig. Wir werden daher die Situation der Geburtshilfe und der Hebammen beobachten und für eine angemessene Vergütung sorgen.

Über 130.000 Menschen unterschrieben in den letzten Wochen eine Petition, welche noch am 20. November von CDU-Politiker Jens Spahn quasi als Shitsorm bezeichnet wurde, für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Hebammen. Im Koalitionsvertrag schlägt sich das in oben zitiertem Passus nieder. Und warum auch dieser so gefeiert wurde, erschließt sich mir nicht. Die Situation zu „beobachten“ könnte ungenauer kaum formuliert sein, und was denn eine angemessene Vergütung darstellen soll, wann über eine solche verhandelt wird, all dies bleibt offen – Genauso wie die Fragen zu Versicherungen.

Migration, „Integration“ und Flucht

Migranten leisten einen bedeutenden Beitrag zum Wohlstand und zur kulturellen Vielfalt unseres Landes. Leitlinie der Integrationspolitik bleibt Fördern und Fordern. Wir erwarten, dass Angebote zur Integration angenommen werden. Jedoch ist Integration ein Prozess, der allen etwas abverlangt. Sie ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Für alle gilt selbstverständlich die Werteordnung des Grundgesetzes.

Nützlichkeit. Anpassung. Fordern. – Die Prämissen der deutschen Migrationspolitik in wenigen Worten zusammen gefasst. Die doppelte Staatsbürger_innenschaft wird zwar eingeführt, aber nicht für alle möglich sein. Nur Menschen, die in Deutschland geboren sind müssen sich nun nicht mehr zur Volljährigkeit für eine Staatsbürger_innenschaft entscheiden.

Auf das Thema Flucht und Asyl hin hat bereits proasyl den Vertrag untersucht.

Gedenktag für die deutschen Heimatvertriebenen

Und statt all die oben genannten Themen anders anzupacken, schreibt die Koalition lieber einen geschichtsrevisionistischen Gedenktag fest, der das Herz einer Erika Steinbach erfreut:

Außerhalb des Koalitionsvertrags: Betreuungsgeld

Vielleicht habt ihr euch gefragt, warum hier bisher gar nicht das Betreuungsgeld erwähnt wurde.  Es taucht gar nicht erst im Vertrag auf, scheint also gar nicht erst Verhandlungspunkt zu sein. Kristina Schröder schrieb dazu bei Twitter:

2 Kommentare zu „Der Koalitionsvertrag: Eine Geschichte von „beobachten“, „in den Fokus nehmen“ und einem denkwürdigen Gedenktag

  1. Wenn ich drandenke, was für Verschlimmerungen unter der letzten großen Koalition in einem Entwurf für ein neues TSG (Transsexuellengesetz) vorgesehen waren, wird in diesem Punkt wie damals wohl leider Stagnation – bzw. kleinschrittchenweiser Fortschritt per Karlsruhe – wohl das geringste Übel sein.

Kommentare sind geschlossen.

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