Möglichkeiten und Grenzen aktivistischer, emanzipatorischer Arbeit – Fragen zu #ausnahmslos

Gestern startete mit ausnahmslos.org eine Initiative, die gegen sexualisierte Gewalt und Rassismus eintritt. Das Statement, das ihr auch unterzeichnen könnt über dieses Online-Formular, wird derzeit auch mit dem Hashtag ‪#‎ausnahmslos‬ in den sozialen Netzwerken verbreitet. Personen, deren Arbeit ich sehr schätze und die ich für sehr fähig halte, haben bei der Vorbereitung und Formulierung dieser Kampagne viel Kraft und Zeit investiert. Mit über 700 Unterstützer_innen ist die Kampagne auch erfolgreich gestartet, wozu man ohne Frage gratulieren kann. Angesichts des Statements brennen mir (weitere) Fragen auf den Nägeln; einige davon beschäftigen mich in Bezug auf die Möglichkeiten emanzipatorischer Arbeit teilweise auch schon länger. Insofern bezieht sich natürlich nicht jede meiner Überlegungen stringent auf Inhalte des Positionspapiers.

Im Folgenden möchte ich meine Überlegungen teilen. Diese sind mit Sicherheit nicht vollständig und ebenfalls an vielen Stellen korrektur- und ergänzungsbedürftig. Mir geht es in einem ersten Impuls um folgende Fragen, und zwar in Bezug auf die Möglichkeiten und Grenzen von aktivistischer, emanzipatorischer Arbeit:

Was kann von Polizei, Justiz und Staat im Kampf gegen Sexismus und Rassismus und jegliche andere -ismen realistisch erwartet werden? Was hat uns die Politik der letzten Jahre gelehrt? Was ist mit der Rassifizierung und Kriminalisierung durch den Staat? Was ist mit Racial Profiling, den Einigungen auf eine weitere Verschärfung der Asylpolitik, unserer derzeitigen Sozialpolitik? Was ist mit Hartz IV bzw. insgesamt der Grundsicherung und dem Sozialabbau? Wo können wir angesichts dieser Instrumente, von denen es noch unzählige weitere gibt, auf Allianzen und Kooperationen hoffen? Können wir überhaupt darauf hoffen?

Was ist mit der systematischen und institutionalisierten Benachteiligung und Diskriminierung von marginalisierten Personengruppen? Was ist mit struktureller Gewalt? Was ist mit Täterschutz, und wenn er bisher aufgrund spezifischer Interessenlagen besteht, kann darauf gehofft werden, dass er abgeschafft wird? Was ist mit der sekundären Viktimisierung von Gewaltopfern durch die Polizei und anderen Instanzen? Was ist mit Polizeigewalt im Allgemeinen?

Was lehren uns Skandale wie die NSU-Mordserie? Was ist mit der (auch sexualisierten) Gewalt, die geflüchtete Frauen tagtäglich erleben müssen? Wann finden unsere Aufschreie statt, und wie heterosexistisch und weiß-feministisch sind sie? Was ist mit der systematischen ökonomischen, kulturellen und sozialen Benachteiligung von Personen?

Ist ein feministisches Consulting und/oder Coaching unserer Institutionen sozialer Kontrolle ein Teil der Lösung, wenn genau diese Institutionen oft auch Teil des Problems sind? Können wir mit guter Hoffnung an Apparate appelieren, die seit Jahrhunderten zur Standswahrung von Privilegien und Abhängigkeiten funktionieren? Was lehrt uns die Ethnisierung sozialer Missstände und die Befeuerung von Entsolidarisierungstendenzen? Was ist mit der Dethematisierung von Armut? Was ist mit Chancenungleichheit? Müssen wir über Kapitalverteilung sprechen?

Was ist mit unseren Beratungsstellen? Wie thematisieren wir die Reproduktionen von Rassismus, Ableismus, Klassismus, Transfeindlichkeit und auch Sexismus vieler Beratungsstellen in Deutschland? An wen richtet sich das Beratungsnetz in Deutschland? Wie divers ist es? Wann basiert es eher auf stereotypen Vorstellungen von Lebenswelten? Wer wird exkludiert? Und warum? Welche (historischen/politischen/sozialen) Interessenlagen bestehen an der Arbeit unserer Beratungsstellen und Initiativen? Was wird gefördert und was nicht oder weniger, und warum? Haben wir im Hinterkopf, dass die Arbeiten unserer Beratungsstellen nicht nur kontextlos und rein idealistisch-karitativ funktionieren, sondern immer auch in ein kulturelles System eingebunden sind? Wer profitiert von diesem kulturellen System (zum Beispiel bei der Vergabe von Fördergeldern), und wer wird marginalisiert? Wer profitiert bisher von den Beratungsangeboten und warum und wer nicht? Wie trägt unser Beratungsnetz zur Reproduktion von Marginalität und Privilegien bei? Wer berät und warum, und welche Macht- und Gewaltstrukturen, welche Paternalismen werden dadurch reproduziert?

Wie muss eine öffentliche Aufklärungsarbeit, eine geschlechtersensible Pädagogik aussehen, die Gewalt vermeiden kann, vor allem, wenn: siehe oben? Wie kann dafür gesorgt werden, dass eine solche Arbeit nicht nur kontextlos und fernab unserer historischen, sozialen und politischen Entwicklungen und Realitäten stattfindet? Was ist mit der Stärkung von Gegenkultur und wie kann diese aussehen? Wie kann eine anti-istische Arbeit aussehen, die nicht nur auf die „Gewissensberuhigung der Mehrheitsgesellschaft“ (Noah Sow) abzielt?

(Ich möchte bei dieser Gelegenheit auch transparent machen, dass ich selbst das Statement (noch) nicht unterzeichnet habe.)

5 Kommentare zu „Möglichkeiten und Grenzen aktivistischer, emanzipatorischer Arbeit – Fragen zu #ausnahmslos

  1. Danke! Ich selbst habe bei den Debatten auch immer das Gefühl, dass sie nur an der Oberfläche kratzen, dabei zahlreiche Ausschlüsse produzieren und viele Zusammenhänge und Ursachen ausgeblendet werden, was letztlich dazu führt, dass dann tatsächlich umgesetzte Maßnahmen mehr eine kosmetische Funktion haben, statt den Wurzeln der Ungleichbehandlung zu Leibe zu rücken oder schlimmer noch, bestehende Diskriminierungsormen noch verfestigt werden.

  2. Zu der Situation in Beratungsstellen: da sprechen mir deine Fragen aus der Seele!
    Ich habe selbst in zwei Beratungsstellen für von Gewalt betroffene Frauen gearbeitet bzw. Praktikum gemacht und diese Stellen haben sich die kritischen Fragen in Bezug auf die Reproduzierung von Ausschlüssen oder Stereotypen nicht gestellt bzw. die Ausschlüsse (zB von rassifizierten Frauen) achselzuckend in Kauf genommen. Es ist tatsächlich so, dass eine Vielzahl von Frauen dort nicht ankommt. An ein Beispiel erinnere ich mich bis heute noch lebhaft: es gab ein Beratungsangebot in einer nicht-deutschen Sprache, welches in dieser Sprache auch auf der Internetpräsenz der Beratungsstelle beworben wurde. Da zu dem selben Zeitpunkt Beratungen an sich eher weniger nachgefragt waren, fragte eine (weißdeutsche) Beraterin doch allen Ernstes mit besorgter Miene, ob der nicht-deutsche Schriftzug vielleicht „unsere Frauen“ abschrecke. Himmel hilf :(
    Im Moment arbeite ich mit Menschen mit so genannter Behinderung und habe so einige Klientinnen, die aufgrund von Gewalterfahrungen dringend spezifische Traumabegleitung bräuchten. Auch in einer so großen Stadt wie Berlin mit seinem breit gefächerten Angebot gilt: Therapieplätze sind nur mit viel Wartezeit zu haben und gerade für Menschen mit so genannter Behinderung mehr als rar gesät. Und die Beratungsstellen sind so hochschwellig, dass dort auch kaum wer das Angebot nutzt, der nicht dem weißdeutschen ableisierten Mittelschichts-Default entspricht.

    Dass die sexualisierte und andersförmige Gewalt, die geflüchtete Frauen erleben müssen, so wenig im Fokus von #ausnahmslos steht, finde ich auch schade. Das hätte mehr Raum einnehmen können. Trotzdem unterstütze ich die Initiative: ein Anfang ist besser als nichts.

  3. „Was kann von Polizei, Justiz und Staat im Kampf gegen Sexismus und Rassismus und jegliche andere -ismen realistisch erwartet werden? Was hat uns die Politik der letzten Jahre gelehrt? Was ist mit der Rassifizierung und Kriminalisierung durch den Staat? Was ist mit Racial Profiling, den Einigungen auf eine weitere Verschärfung der Asylpolitik, unserer derzeitigen Sozialpolitik? Was ist mit Hartz IV bzw. insgesamt der Grundsicherung und dem Sozialabbau? Wo können wir angesichts dieser Instrumente, von denen es noch unzählige weitere gibt, auf Allianzen und Kooperationen hoffen? Können wir überhaupt darauf hoffen?“

    Ich sehe das ähnlich wie Kimberlé Crenshaw: Gerade weil die Ideologie in unserer Gesellschaft eine zu große Rolle spielt, als dass der direkte Angriff auf die Herrschaft unmittelbar erfolgreich sein könnte, ist es nötig, sich innerhalb der ideologischen Apparate (Staat, Polizei etc) zu bewegen und ihre Möglichkeiten zu erweitern, um so allmählich eine „Gegenharmonie“ zu schaffen. Gegen eine Vereinnahmung hilft laut Crenshaw die Dekonstruktion. Also scheinbar naturgegebene, unveränderbare Dichotomien aufheben. (frei nach Queer und Anti-Kapitalismus).

    Natürlich müssen wir mehr als kritisch gegenüber staatlichen Institutionen sein, aber wir leben ja nun mal mit und in ihnen. Kurz- und mittelfristig werden wir mit ihnen zusammenarbeiten müssen. Die Zivilgesellschaft alleine wird es nicht schaffen. Langfristig ist es unabdingbar, dass sich diese Institutionen und Organe aber ändern, klar.

Kommentare sind geschlossen.

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