„In Deutschland herrscht faktische Straflosigkeit sexualisierter Gewaltdelikte“

Der Sommer ist hierzulande zwar offensichtlich vorbei, die Slutwalks aber noch lange nicht: Im deutschsprachigen Raum stehen als nächstes Bielefeld und Leipzig (jeweils am 15.10) auf dem Programm, am Wochenende darauf folgt die Demonstration in Wien (22.10.).  Nicht nur aus diesem aktuellen Anlass geben wir im Folgenden ein Interview wieder, das Maria Wersig mit  Dr.  iur. Ulrike Lembke für das ‚Missy Magazinegeführt hat, wo es vor knapp drei Wochen erschienen ist.  Herzlichen Dank an Maria Wersig, Ulrike Lembke und dem ‚Missy Magazine‘ für ihr Einverständnis zu dieser „Zweitverwertung“!

Das Thema Vergewaltigung wird öffentlich im Moment stark diskutiert. Du beschäftigst dich wissenschaftlich mit der Frage, warum Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung so schwer zu verfolgen bzw. zu verurteilen sind. Zunächst die Frage: Ist das so im Vergleich zu anderen Straftaten?

Selbstverständlich werden in keinem Bereich alle Straftaten angezeigt und verfolgt, es gibt überall ein sog. Dunkel­feld. Wenn es sich um Straf­taten mit geringer Sozialschädlichkeit handelt, mag man dies auch hinnehmen. Delikte gegen die sexuelle Selbst­bestimmung haben aber ganz gravierende Folgen für die betroffene Person, ihr soziales Umfeld und die Gesell­schaft. Gleich­zeitig weisen sie ein außergewöhnlich großes Dunkelfeld und eine signifikant niedrige Ver­ur­teilungs­quote auf. Nach einer repräsentativen Dunkelfeld-Studie aus dem Jahr 2004 haben 13% (also fast jede 7.) der in Deutschland lebenden Frauen seit dem 16. Lebensjahr strafrechtlich relevante Formen sexualisierter Gewalt erlebt. Allerdings werden insgesamt nur 5% bis höchstens 10% der tatsächlich verübten sexualisierten Gewaltdelikte angezeigt – bezüglich der sexualisierten Gewalt gegen Männer ist von einer noch höheren Dunkelziffer auszugehen. Von diesen angezeigten Delikten gelangen nur 14% zu einer Verurteilung, wobei die Strafen auffällig am unteren Ende des gesetzlichen Strafrahmens verbleiben. Werden nicht die angezeigten, sondern die tatsächlich begangenen Delikte zugrunde gelegt, werden nur 0,7% bis 1,4% sexualisierter Gewalttaten in der Bundesrepublik strafrechtlich geahndet, 99 von 100 Taten bleiben also ungesühnt.

Was sind die Erfahrungen in anderen Ländern?

Sexualisierte Gewalt ist auf Grund der genannten Strukturprobleme grundsätzlich nicht einfach zu verfolgen oder – was wichtiger wäre – zu verhindern (vgl. jüngst die Studie von Liz Kelly/Jo Lovett, Different systems, similar outcome? Tracking attrition in reported rape cases across Europe, 2009). In einigen Ländern gibt es aber rechtliche Regelungen, welche besser auf diese Struktur­probleme eingehen wie bspw. die Fahrlässigkeitsstrafbarkeit in Norwegen, mit der nicht mehr das Opfer beweisen muss, dass es alles getan hat, um ein Missverständnis des Täters bzw. der Täterin über sein Einverständnis in die sexuelle Handlung auszuschließen, sondern Täter/innen darlegen müssen, dass sie sich Klarheit über das Einverständnis verschafft haben. Das sind kleine Verschiebungen mit großer Wirkung. Im europäischen Vergleich ist die deutsche Verurteilungsquote von 14% tatsächlich unter­durch­schnittlich.

Woran liegt es, dass so wenige Fälle zur Verurteilung kommen?

Das ist eine Frage, mit der sich Udo Steinhilper bereits vor einem Vierteljahrhundert beschäftigt hat (Definitions- und Entscheidungsprozesse bei sexuell motivierten Gewaltdelikten, 1986). Schon damals wurden hauptsächlich Beweisschwierigkeiten für die defizitäre Strafverfolgung verantwortlich gemacht. Es ist zutreffend, dass die Strafverfolgung von Sexualdelikten mit nicht unerheblichen Beweisproblemen kämpft, da die Taten meist ohne Zeug/innen und oft auch ohne eindeutig verwertbare sonstige Beweise erfolgen. Allerdings genügte diese Erklärung allein schon Udo Steinhilper nicht. Er stellte fest, dass es auf allen Ebenen der Strafverfolgung (Polizei, Staatsanwaltschaft, Gericht) zu Prozessen der Selektion durch Einstellung oder Umdeutung kommt. Wie wir heute wissen, sind diese Selektionsprozesse wesentlich durch Sexualitätsmythen, Geschlechterstereotype und opferbeschuldigendes Alltagswissen geprägt. Es gibt diverse völlig falsche Vorstellungen darüber, wann wirklich eine Vergewaltigung vorliegt, wie sich Frauen gegenüber Männern  verhalten sollten (mit sexualisierter Gewalt gegen erwachsene Männer ist die deutsche Rechtspraxis mangels Anzeigen quasi nicht befasst, so dass diesbezüglich absolutes Unwissen und heftige Abwehrreaktionen zu beobachten sind), wann freiwilliges Einverständnis in sexuelle Handlungen vorliegt, welche Einflussmöglichkeiten das Opfer auf den Tatverlauf hat, welche Folgen ein sexualisiertes Gewaltdelikt für die Betroffenen haben kann, wie sich Traumata äußern etc.

Hinzu kommt, dass Sexualität ein Themenbereich ist, mit dem sich juristische Instanzen ohnehin schwer tun und den sie gerne aus ihrer Entscheidungspraxis heraushalten. In vielen Konstellationen ist das eine richtige Intuition, denn ein­ver­ständliche Sexualität zwischen Er­wachsenen sollte in der Tat nicht von Gerichten beurteilt werden. Ein völlig anderes Thema ist aber sexualisierte Gewalt, die als schwer­wiegende Rechts­verletzung selbst­ver­ständlich gericht­licher Sanktion zu­gäng­lich ist. Die Unter­scheidung zwischen Sexualität und sexualisierter Gewalt scheint aber nicht immer zu gelingen. Auch besteht im juristischen Diskurs wenig Klarheit über einen angemessenen Gewalt­begriff – entsprechende gesetzgeberische Be­mühungen zur Klärung werden von Rechts­praxis und Rechts­wissenschaft vielfach ignoriert – und Gewalt im Geschlechterverhältnis wird überhaupt nicht diskutiert. Schließlich gibt es interessante Forschungen darüber, warum Menschen sich von Opfern abgrenzen, ihnen die Glaubwürdigkeit absprechen oder ihnen erhebliche Mitschuld an einer Tat unterstellen (Just World Theory, Defensive Attribution Theory). Gegen die solchem opferbeschuldigenden Verhalten zugrunde liegenden Wünsche, dass in der Welt kein unbegreifliches Unrecht geschehen möge – weshalb das Opfer einfach irgendetwas falsch gemacht haben muss – und dass die eigene Person nicht in Gefahr sein möge – weshalb eine starke und abwertende Abgrenzung vom Opfer stattfindet – sind auch Richterinnen und Richter nicht gefeit.

Opferverbände weisen darauf hin, dass die meisten Vergewaltigungen oder sexuellen Nötigungen zwischen Menschen vorfallen, die sich bereits kennen oder eine Beziehung führen. In diesen Fällen fällt es Gerichten besonders schwer, zu verurteilen. Warum?

Zum einen gibt es immer noch eine weit verbreitete Vorstellung davon, wie eine „richtige“ Vergewaltigung aussieht: Ein fremder, vermutlich psychisch gestörter Täter überfällt eine junge Frau abends oder nachts an einem gefährlichen Ort (Park, Unterführung, Parkhaus etc.) und zwingt sie mit massiver Gewalteinwirkung zu sexuellen Handlungen. Dieses Bild ist in der Forschung seit mindestens drei Jahrzehnten überholt (in der Wirklichkeit traf es nie zu), aber es sitzt ganz fest in den Köpfen. Tatsache ist, dass nur eine Handvoll Täter/innen psychisch beeinträchtigte sog. Triebtäter sind. Tatsache ist, dass es selbst im Hellfeld der polizeilichen Kriminalstatistik nur in 16% der sexualisierten Gewaltdelikte gar keine Vorbeziehung zwischen Täter/in und Opfer gab, in 60% der Fälle sind sie verwandt oder gut bekannt, dieser Effekt dürfte im Dunkelfeld massiv verstärkt sein. Dem folgend ist oft auch die physische Gewalteinwirkung sehr gering, da ein Übergriff von vertrauten Täter/innen oder gar Intimpartner/innen nicht auf Gewalt angewiesen ist. Tatsache ist ferner, dass Alter oder Aussehen des Opfers nicht relevant für die Tatbegehung sind. (Es ist nervig, aber offensichtlich notwendig, das ständig zu wiederholen.) Und schließlich ist Fakt, dass Frauen – und das gilt auch für Straf­taten wie Körperverletzung oder Tötungsdelikte – nicht primär im öffent­lichen Raum, sondern in ihrer Wohnung bzw. der Wohnung ihres Partners besonders gefährdet sind. Vergewaltigung ist weit überwiegend ein Be­zieh­ungs­delikt. Und die Gefahr einer Traumatisierung der betroffenen Person ist bei Gewalt durch vertraute Täter/innen immer besonders hoch.

Dessen ungeachtet gibt es eine deutsche Rechtsprechungstradition, sexualisierte Übergriffe in Intimbeziehungen als sog. minder schweren Fall grundsätzlich milder zu bestrafen. Im Gesetz gibt es dafür keinen Anhaltspunkt, aber man muss sich vor Augen halten, dass in Deutschland die Vergewaltigung in der Ehe erst 1997 vom Sexualstrafrecht erfasst wurde. In Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichten wird die Ansicht vertreten, der Staat solle sich nicht in Privatangelegenheiten einmischen. (Dass Gewaltdelikte keine Privatsache sin, muss hier wohl nicht betont werden. Aber die Frauenbewegung hat nicht umsonst die Erkenntnis „Das Private ist politisch!“ weit bekannt gemacht.) Diese Argumentation mit dem Privaten war auch eines der Haupthindernisse beim Kampf gegen häusliche Gewalt, allerdings scheint hier inzwischen doch ein Umdenken stattgefunden zu haben. Dies geht soweit, dass Kolleginnen aus der Schweiz berichten, dass von sexualisierter Gewalt betroffene Frauen lieber die rechtlichen Möglichkeiten gegen häusliche Gewalt nutzen und über die sexualisierte Gewalt schweigen, weil sie befürchten, sonst keinen staatlichen Schutz zu erlangen. Ich denke, sexualisierte Gewalt ist auch ein Thema, mit dem sich Gerichte ungern befassen.

Dass Instanzen der Strafverfolgung sich ungern mit der Thematik befassen und auch die aktuelle (naja, teilweise eben dreißig Jahre alte) einschlägige Forschung nicht zur Kenntnis nehmen, hat massive Auswirkungen für Betroffene von sexualisierter Gewalt. Empirische Studien haben sich damit beschäftigt, welche Umstände der Tatbegehung sich wie auf die Glaubwürdigkeit des Opfers auswirken. Dafür wurde Jurist/innen die Beurteilung fiktiver Fälle aufgegeben, bei denen immer nur einzelne relevante Variablen geändert wurden. Ergebnis war, dass die Vorbeziehung zwischen Täter/in und Opfer signifikanten Einfluss auf die Bewertung des Falles und der Glaubwürdigkeit des Opfers hatte, auch wenn alle anderen Faktoren identisch blieben. Als Faustformel kann gesagt werden: Je näher bekannt Täter/in und Opfer waren, umso mehr Verantwortung für das Tatgeschehen wurde dem Opfer zugeschrieben und umso mehr nahm seine Glaubwürdigkeit ab. Einen sachlichen Grund gibt es dafür nicht, aber das Gefühl ist sehr stark und kann das gesamte Verfahren prägen.

Ein häufig anzutreffendes Argument ist ja, dass aufgrund der Un­schulds­ver­mutung die niedrigen Ver­ur­teilungs­quoten aus rechts­staat­lichen Gründen hin­ge­nommen werden müssen.

Der derzeitige Zustand ist nicht hinnehmbar. Die niedrigen Verurteilungsquoten – was wenig bekannt ist, ist der Umstand, dass sie seit 1987 von 22% auf nunmehr 14% gesunken sind – beruhen ja nicht primär auf der Unschuldsvermutung, sondern hauptsächlich auf Vergewaltigungs­mythen, Ge­schlechter­stereo­typen, opfer­be­schuldigendem All­tags­wissen, täter­ent­lastenden Gewalt­konstruktionen, der Ignoranz von Er­kenntnissen der Trauma­forschung etc. Wenn bspw. der Bundes­gericht­shof auch bei sexualisierten Gewalt­delikten für die Begutachtung der Glaub­würdigkeit der Betroffenen die sog. Null­hypothese zugrunde legt und fordert, auch hier müsste zunächst von der Unwahrheit der Zeug/innenaussage aus­ge­gangen werden, bis dem Opfer quasi der Gegen­beweis gelungen sei, haben die Richterinnen und Richter offen­sichtlich noch nie Literatur zur Trauma­forschung in der Hand gehabt. Auch die höchst­richter­lichen Vorstellungen zum Einverständnis in sexuelle Handlungen, zum Gewalt­begriff oder über die Bedeutung vorheriger intimer Kontakte sprechen für sich.

Die Falschanzeigenquote bei Sexualdelikten liegt nach der jüngsten, rechts­ver­gleichenden Studie übrigens bei 3% (Liz Kelly/Jo Lovett, 2009). Ältere Studien ganz unter­schiedlicher Herkunft gehen von Größen­ordnungen zwischen 2% und 8% aus (Nachweise bei Helmut Tausendteufel/Gabriele Bindel-Kögel/Wolfgang Kühnel, Deliktunspezifische Mehrfachtäter als Zielgruppe von Ermittlungen im Bereich der sexuellen Gewaltdelikte, 2006). Dem stehen Vorstellungen der Angehörigen der beteiligten Strafverfolgungsorgane gegenüber, die in Einzelfällen von Quoten um 50% oder mehr ausgehen. Solche Falschvorstellungen in den beteiligten Professionen sind ein massives Hindernis für eine effektive Strafverfolgung und schädigen die Opfer. Es ist nicht zielführend, Rechts­staat und Opfer­schutz gegeneinander auszuspielen; der Opferschutz ist ebenso vom Rechts­staat gefordert wie die Unschulds­vermutung.

Wir haben es daher auch mit einem profunden rechtsstaatlichen Problem zu tun. Der Staat zieht seine Legitimation nicht zuletzt daraus, dass er mit Hilfe des staatlichen Gewaltmonopols seine Bürgerinnen und Bürger vor Übergriffen durch andere Staaten oder Personen schützt. Zu diesem Schutz ist der Staat nicht nur aus theoretischen Überlegungen heraus verpflichtet, sondern von Verfassungs wegen (interessanterweise wurden staatliche Schutz­pflichten erstmals in einem Urteil des Bundes­ver­fassungs­gerichts zur Illegalität von Abt­reibungen entwickelt) und auch mit Blick auf das Völkerrecht. Letztes Jahr hat das Komitee zur UN-Frauen­rechts­kon­vention entschieden, dass ein Verstoß gegen die Frauen­rechts­kon­ven­tion der Ver­einten Nationen vorliegt, wenn sich die nationale Recht­sprechung zur Straf­ver­folgung von Sexual­delikten auf Geschlechter­stereotype oder Ver­ge­waltigungs­mythen bezieht.

Der Rechtsstaat wäre nicht nur in Gefahr, wenn die Unschulds­ver­mutung auf­ge­hoben würde (was keine mir bekannte Forderung darstellt), der Rechts­staat ist in Gefahr, wenn gegen Ver­fassungs- und Völker­recht verstoßen wird, indem massive (Menschen)­Rechtsverletzungen nicht geahndet und unterbunden werden. Derzeit können wir in Deutsch­land von einer weitgehenden faktischen Straf­losigkeit sexualisierter Gewaltdelikte sprechen. Das ist so bekannt, dass ein Ex-General­staats­anwalt im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zur besten Sende­zeit davon ab­raten kann, Straf­anzeige wegen sexualisierter Gewaltdelikte zu erstatten, weil dies außer Nach­teilen für die Anzeigen­er­statterin sowieso nicht bringt. Hier liegt der rechts­staatliche Skandal.

Die Unschuldsvermutung ist nicht der Grund für die niedrigen Verurteilungs­quoten. Bei entsprechender Professionalisierung und ent­sprechendem Willen ist es sehr wohl möglich, Strafverfahren zur Verfolgung von Sexual­delikten zu führen, die sowohl die Rechte des Beschuldigten (insbesondere Unschulds­vermutung) als auch die Rechte der Be­troffenen (insbesondere ihre Würde, Selbst­bestimmung und ihr Persönlichkeits­recht) wahren. Sobald die Verurteilungs­quoten in Deutschland auf Grund der Un­schulds­ver­mutung so niedrig sind (will heißen: weil es kaum noch sexualisierte Gewalt gibt), finde ich mich sehr gern mit den Zahlen ab. Derzeit ist die Statistik nur ein Beleg dafür, dass der Rechtsstaat versagt – darüber sollte diskutiert werden und nicht über die Un­schulds­ver­mutung, die über­haupt nicht in Frage gestellt wird.

Seit ein Polizist in Toronto in einem Vortrag Frauen geraten hat, sich nicht wie „Sluts“ (Schlampen) zu kleiden, um Vergewaltigungen zu vermeiden, protestieren Frauen mit Slutwalks gegen Sexismus und Vergewaltigungsmythen. Was meinst Du dazu?

Die durch Slutwalks erfolgende Wiederaneignung des öffentlichen Raums finde ich fabelhaft! Ich weiß, dass Slutwalks auch viele Probleme mit sich bringen, ins­besondere voyeuristische Presse und sexistische Umdeutungen. Aber das ist – wenn auch nicht immer so krass – ein Grund­problem emanzipatorischer Aktionen im Gender-Bereich. Geschlecht und Geschlechter­verhältnisse werden wesentlich in Bildern gedacht und diese Bilder sind sehr mächtig. Egal, was wir machen, wir können von anderen immer in einer Weise gesehen und gedeutet werden, die unserer Sehnsucht nach Würde und Freiheit nicht entspricht (sei es als unterlegene Frauen, faszinierende Perverse, provokante Schlampen, Verirrungen der Natur o.ä.). Deshalb müssen wir nach Verbündeten suchen, wenn wir Bilder ändern und Räume an­eig­nen wollen, aber genau dafür sind Slutwalks ja auch da. Übrigens protestieren dabei nicht nur „Frauen“, was ich besonders schön an Slutwalks finde.

Was wäre rechtspolitisch zu fordern?

Auf gesetzgeberischer Ebene bleiben nicht mehr viele Wünsche offen. Die Um­setzung der Europarats­kon­vention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt vom 7. April 2011 – wenn Deutschland sie denn ratifiziert – könnte hier noch zu wesentlichen Änderungen führen, insbesondere genügt nach Art. 36 der Kon­vention das fehlende Ein­ver­ständnis bei Sexualdelikten (Gewalt als Nötigungsmittel ist nicht er­forder­lich) und die Konvention fordert explizit gleiche Regelungen für sexualisierte Gewalt durch frühere oder aktuelle Intimpartner/innen.

Das Problem bei der Strafverfolgung sexualisierter Gewalt liegt aber weniger auf gesetzgeberischer Ebene als bei den Instanzen der Strafverfolgung. Hier ist zu fordern, dass sich nur qualifizierte Kräfte mit sexualisierten Gewaltdelikten befassen. Offensichtlich reichen weder die polizeiliche Ausbildung noch ein Jurastudium aus, um die notwendigen Kompetenzen zu erwerben. Zu fordern sind also massive Bemühungen bei der Aus- und Weiterbildung von Polizist/innen, Staatsanwält/innen und Richter/innen, welche sie dazu befähigen, sich eines sehr schmerzvollen und berührenden Themas ernsthaft anzunehmen, eigene Stereotype zu reflektieren sowie aktuelle einschlägige Forschung wahrzunehmen und zu verarbeiten – es ist leider zu beobachten, dass dies auch für einige Gutachter/innen gilt, die diesbezüglich doch besondere Kompetenzen mitbringen müssten. Ferner muss sich die höchstrichterliche Rechtsprechung dringend ändern, da von ihr eine Signalwirkung ausgeht.

Im Bereich des Strafprozessrechts ist in den letzten Jahren viel geschehen, obwohl auch hier noch Wünsche offen bleiben. Der wesentlichste dieser Wünsche ist allerdings, dass die einschlägigen Regelungen auch ernsthaft angewendet werden. Um das Problem der Beweisschwierigkeiten etwas zu entschärfen und das Dunkelfeld zu verringern, gibt es in NRW und Berlin als Pilotprojekte sog. anonyme Beweissicherungsverfahren. Dabei können gerichtsverwertbar Spuren gesichert und aufbewahrt werden, ohne dass sich die betroffene Person sofort zu einer Anzeige entschließen muss, wie dies normalerweise der Fall ist. Die gesicherten Spuren werden von gerichtsmedizinischen Instituten längere Zeit aufbewahrt, so dass die Entscheidung zu einer Anzeige nach Kontakt mit Beratungsstellen und ggf. auch nach Beginn einer therapeutischen Behandlung gestellt werden kann. Dies ist insbesondere bei sexualisierten Gewaltdelikten in persönlichen Beziehungen ein wesentlicher Beitrag zum Opferschutz, der die Rechte von Beschuldigten nicht schmälert. Die Verfahren sollten daher bundesweit angeboten und bekannt gemacht werden.

Sexualisierte Gewalt ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, das auf sehr vielen Ebenen angegangen werden muss. Beratungsstellen, Frauenhäuser und Notrufe stellen unverzichtbare Unterstützungsleistungen für Betroffene von sexualisierter Gewalt dar, die vom Staat zu finanzieren sind. Die Arbeit solcher Einrichtungen, oft auch auf ehrenamtlicher Basis, kann gar nicht hoch genug bewertet werden. Auch diesbezüglich spricht die Europaratskonvention eine klare Sprache, so dass die Forderung die Ratifikation und Umsetzung dieser Konvention sein würde. Vor allem muss sich schließlich das Wissen über sexualisierte Gewalt – unabhängig von tagespolitischen Skandalisierungen – weiter verbreiten, über ihre Ursachen, geschlechtsspezifischen Implikationen und Folgen ebenso wie über mögliche Präventionsstrategien. Zu dieser Verbreitung können wir alle beitragen, weshalb ich mich herzlich für die Fragen bedanke.

Ulrike Lembke hat in Greifswald Rechtswissenschaft studiert und ist dort in der Anglistik/Amerikanistik das erste Mal mit Geschlechterstudien in Berührung gekommen. Dieses Thema hat sie nachhaltig fasziniert: So hat sie neben der Promotion zusammen mit Lena Foljanty und anderen Nach­wuchs­wissen­schaftler­_innen das erste diesbezügliche Lehrbuch für ihr Fach herausgeben (Feministische Rechtswissenschaft. Ein Studienbuch, 2006), das es diesen Herbst in zweiter Auflage geben wird. Ulrike Lembke hat eine Juniorprofessur für Öffentliches Recht und Legal Gender Studies an der Universität Hamburg und beschäftigt sich u.a. mit Themen wie Antidiskriminierungsrecht, Menschenrechten, feministischer Rechts­theorie, Regulierung von Sexualität und Gewalt im Geschlechterverhältnis.

Maria Wersig ist ebenfalls Juristin und bloggt zu Recht und Geschlechterverhältnissen. Ihr Blog rechtundgeschlecht haben wir im Juli in der Serie ‚WWW Girlsvorgestellt.

Anmerkung der Redaktion: Da Blogeinträge, die sich mit sexualisierter Gewalt befassen, erfahrungsgemäß verhältnismäßig viel Feedback erhalten und somit einen hohen Moderationsaufwand erfordern, den wir zur Zeit nicht leisten können, und das vorliegende Interview zudem bereits an seinem ursprünglichen Erscheinungsort diskutiert wurde, ist der Artikel nicht kommentierbar. Wir bitten dafür um Verständnis. Für Feedback könnt ihr bei Bedarf auch gerne das Kontaktformular nutzen.

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