Sie hat mich ‘Frau’ genannt – Eine neue Anthologie erzählt Geschichten queerer nigerianischer Frauen

Dieser Text ist Teil 137 von 140 der Serie Die Feministische Bibliothek

Die Anthologie She Called Me Woman vereint 25 Geschichten, die reflektieren, was es bedeutet heute eine queere Frau in Nigeria zu sein. Azeenarh Mohammed ist eine von drei Herausgeberinnen des Bands. Sie kuratiert die Veranstaltung ReSista Camp, welche als Safe Space für queere Frauen fungiert, um sich zu treffen, zu netzwerken, zu heilen, zu feiern und um verschiedenste Themen, die im Zusammenhang mit den Bedürfnissen queerer Frauen stehen, zu diskutieren. In diesem Interview erzählt sie über das politische Klima in Nigeria, warum es wichtig ist die Perspektiven queerer Frauen zu fokussieren und welche Geschichten beim Zusammenstellen der Anthologie sie überraschten. Das Interview erschien auch in Englisch.

Charlott: Euer Buch She Called Me Woman erscheint am 26. April und wird von Cassava Republic, einem nigerianischen Verlag, publiziert. Das Buch sammelt Narrative queerer nigerianischer Frauen. In den letzten Jahren gab es Verschärfungen hinsichtlich der Gesetze gegen LGBT in Nigeria. Wie bedeutend ist die Veröffentlichung dieses Buchs im Allgemeinen aber auch konkret in diesem politischen Klima?

Azeenarh: Ja, die Veröffentlichung von She Called Me Woman ist eine ziemliche große Sache – besonders im heutigen politischen Klima. Nigeria ist ein Land, welches erst vor vier Jahren Homosexualität wieder kriminalisiert hat, um Intoleranz zu wiederholen. Ich sage „wieder kriminalisiert“, da Nigeria bereits durch die britische Herrschaft repressive Gesetze übernommen hatte, die genutzt wurden um homosexuelle Menschen zu verfolgen. Aber 2014 verabschiedete die Regierung ein neues Gesetz, welches nicht nur Homosexualität kriminalisierte, sondern auch die öffentliche Zuschaustellung von Zuneigung Menschen gleichen Geschlechts verbot, sowie das Bezeugen von gleichgeschlechtlichen Eheschließungen, und das Registrieren, Betreiben oder Unterstützen von LGBTQI Organisationen. Wer dieses Gesetz bricht, den erwartet eine Strafe in einem Rahmen von mindestens 10 bis hin zu 14 Jahren Gefängnis. In anderen Teilen des Lands gilt die Todesstrafe für Sex mit einer Person gleichen Geschlechts. Dazu kommt, dass kürzlich in einer landesweiten Umfrage 83% der Nigerianer_innen angaben, dass sie kein homosexuelles Familienmitglied akzeptieren würden, 90% der Befragten glauben, dass das Land besser wäre ohne homosexuelle Menschen und 57% sagten, dass homosexuelle Personen keinen Zugang zu staatlichen Angeboten wie Unterkünften, Bildung und Gesundheitsversorgung erhalten sollten. Dass ein nigerianischer Verlag also so ein Buch aufgenommen hat zeigt Mut. Aber von Anfang an wussten wir, dass es wichtig ist, dass das Buch in Nigeria geschrieben, editiert und publiziert wird, um zu zeigen, dass unsere Erfahrungen authentisch nigerianisch sind. Als wir auf Cassava Republic Press zugingen, waren sie sehr enthusiastisch, unterstützend und teilten unsere Vorstellung von dem Buch. Es hat sich also gezeigt, dass es die richtige Entscheidung war. Es war uns wichtig, dass sich der Verlag als feministisch identifiziert, starke Verbündete, und das hat die Arbeit mit ihnen sehr produktiv gestaltet.

Charlott: In den letzten Jahren wurden zwei weitere Bücher zu LGBT Lebensrealitäten in Nigeria veröffentlicht, BLESSED BODY: The Secret Lives of Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender Nigerians von Unoma Azuah und Lives of Great Men von Chike Frankie Edozien. Das zweitere hat – entgegen dem Titel – auch ein Kapitel über lesbische Realitäten in Lagos (aber meiner Meinung nach eines der schwächeren Kapitel in einem ansonsten sehr guten Buch). Euer Buch ist aber das erste, welches die Erfahrungen queerer Frauen fokussiert. Wie wichtig war dieser Fokus?

Azeenarh: Es war uns sehr wichtig ein Buch zu haben, welches ausschließlich queere Frauen fokussiert. Ich nutze den Begriff queere Frauen übrigens um eine Vielzahl von Identitäten und Erfahrungen zu umfassen. Wir haben uns auf queere Frauen fokussiert, weil von 2012, als das Gesetz geschrieben wurde, bis hin zu seiner Verabschiedung, im öffentlichen Raum Homosexualität viel diskutiert wurde. Homosexualität war das Thema jeder Radioshow, jedes TV-Programms, jeder Zeitung und Online-Publikation. Aber während Homosexualität und Queerness im öffentlichen Diskurs verhandelt wurde, waren die Stimmen queerer Menschen selbst – zum Großteil – abwesend. Die öffentliche Debatte wurde auf eine Art und Weise gerahmt, die sie von den Lebensrealitäten queerer Menschen trennte. Queere Menschen wurden fetischisiert, sie dienten als Symbol für „westliche Verdorbenheit“ und wurden karikiert. Das versetzte uns in eine reaktive Position, immer wieder versuchend in Konversationen einzugreifen, die von Menschen gestartet wurden, die bereits unsere Existenz ablehnen. Queere Frauen erlebten außerdem weitere Marginalisierung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung, Geschlechtsidentität und Sex. Innerhalb einer hetero-patricharchalen Gesellschaft äußert sich die Macht kultureller und ökonomischer Strukturen und Kontrolle für queere Frauen anders als für queere Männer. Wir hatten das Gefühl, dass es einen großen Mangel an Geschichten queerer Menschen im öffentlichen Diskurs gab, insbesondere von Frauen. Und das, was öffentlich hinsichtlich queerer Personen diskutiert wurde, war absolut entmenschlichend. Wir nahmen uns also vor die Unsichtbarkeit nigerianischer queerer Frauen einerseits innerhalb der LGBTQI Bewegung und andererseits in gesamtgesellschaftlichen Diskussionen, anzusprechen. Wir wollten Wege eröffnen, die den Leben und Erfahrungen queerer Frauen eine Plattform geben um den öffentlichen Diskurs und die Debatte zu verändern. Wir wollten sicher stellen, dass queere Frauen Leben von „Frauen wie ihnen“ repräsentiert sehen, auf eine Art und Weise mit der sie sich identifizieren können und, am wichtigsten, zu zeigen, dass es queere Frauen tatsächlich in Nigeria gibt und dass es sie schon immer gab. Wir wollten den Fokus von männlich dominierten Themen wie Kondomen, Gleitmittel und HIV/ AIDS wegbewegen und stattdessen die volle Erfahrung von Frauen beleuchten – in Bezug auf Gewalt, Sexismus, Misogynie und andere Themen, die spezifisch queere Frauen in einer hetero-patriarchalen Gesellschaft betreffen.

Charlott: Wie bist du zu diesem Buchprojekt gekommen? Wie ist das Buch entstanden?

Azeenarh: Wir hatten andere Bücher gelesen, wie Bareed Mista3jil über queere Frauen im Libanon, herausgegeben von der Organisation Meem, und Queer Africa, eine Kurzgeschichtensammlung, die von MaThoko’s Books veröffentlicht wurde, und diese berührten uns. Wir begannen über etwas Ähnliches in Nigeria zu reden. Wir glauben fest an die Kraft von Geschichten gesellschaftliche Einstellungen hin zu mehr Akzeptanz und Verständnis zu verändern. So sprachen einige von uns für eine Weile. Wir wollten das korrigieren. Also haben wir mit Verlegern, Organisationen, Menschen in der Community gesprochen, und so Antworten erhalten auf die Frage hinsichtlich des Bedarfs Geschichten über queere Frauen, die unsere volle Menschlichkeit zeigen, zu erzählen.

Charlott: Ihr seid drei Herausgeber_innen. Habt ihr den Buchprozess zusammen begonnen? Was sind eure Hintergründe?

Azeenarh: Wir sind drei Herausgeber_innen und der Prozess begann zufällig. Chitra Nagarajan ist eine Aktivistin, Autorin und Forscherin, die seit über 15 Jahren zu Menschenrechten und Friedenskonsolidierung arbeitet. Rafeat Aliyu forscht und schreibt über Sex und Sexualität im postkolonialen und modernen Afrika. Was uns zusammengebracht hat, ist, dass wir alle irgendwann einmal ausführlich über Queerness gearbeitet oder geschrieben hatten und die gleiche Kopie eines Buches durch denselben sozialen Kreis gelesen hatten. Es war auch sehr hilfreich, dass wir bei verschiedenen Projekten zusammengearbeitet haben. Als wir anfingen, über die Möglichkeit des Buches zu sprechen, war es nur natürlich, es gemeinsam zu machen.

Charlott: In eurem Buch habt ihr 25 Erzählungen von Menschen aus verschiedenen Teilen Nigerias veröffentlicht. Wie habt ihr die Frauen gefunden, deren Geschichten Teil des Buches sind? War es schwierig diese zu erreichen? Gibt es bestimmte demografische Gruppen, die ihr leichter erreichen konntet als andere?

Azeenarh: Wir haben uns genau überlegt, wen wir interviewen. Wir wollten wirklich so viel Vielfalt wie möglich sicherstellen – hinsichtlich sexueller Orientierung, Geschlechtsidentität, religiöser und ethnischer Zugehörigkeit, Alter, Bildung, (geographischer) Ort usw. Wir wollten nicht vollständig repräsentativ sein, aber wir wollten eine Vielzahl von Geschichten erzählen. Ausschlaggebend, ob eine Geschichte letzten Endes Teil der endgültigen Fassung des Buchs wurde, war,  ob die Geschichten einnehmend, interessant und vollständig waren, sowie ob sie eine andere Erfahrung zeigten. Auf die meisten traf das zu und es sind über 70% der Geschichten unserer Erzähler_innen enthalten.  Wir erreichten Frauen durch persönliche Bekanntschaften von Freund_innen und Freund_innen von Freund_innen, wir bauten darauf, dass uns Graswurzel-Organisationen, die mit queeren Frauen arbeiten, vorstellen, und wir hatten auch einen öffentlichen Aufruf durch vertrauenswürdige Online-Plattformen, die homosexuelle Menschen normalerweise besuchen. Trotzdem hatten wir Schwierigkeiten, Zugang zu älteren queeren Frauen ab 50 zu bekommen.

Charlott: Gibt es Geschichten in dem Buch, die dich überrascht haben?

Azeenarh: Ich denke, eine der Geschichten, die mich überrascht hat, ist „Same-Sex Relationships Are A Choice“. Unsere Erzähler_in sagt kühn: „Ich glaube, ich muss mich für emotionale Verbindungen mit einer Frau entschieden haben. Welcher andere Grund kann ausreichend erklären, warum ich lesbisch bin? Ich wurde nicht lesbisch geboren. Zu sagen, dass ich lesbisch geboren wurde, bedeutet, die Empathie der naiven Homophoben zu akzeptieren. Also, nein. Ich wurde nicht lesbisch geboren. Ich wähle es, lesbisch zu sein. Ich würde lieber als Frau mit all meinen intrinsischen Rechten stehen und meine Entscheidung bekräftigen.“ Eine andere Geschichte, die meine Aufmerksamkeit erregt hat, lautet: „If You Want Lesbian, Go To Room 24“. Es war wirklich herzerwärmend zu sehen, dass viele Leute sehr selbstbewusst mit ihrer Queerness von einem sehr jungen Alter an waren. Es war etwas, das sie nicht zu verstecken brauchten, ein Thema, das sie mit ihren Freund_innen und sogar mit ihren Eltern diskutieren konnten. In „I Can Still Love More“ war es interessant zu sehen, wie Menschen mit Sexualität und Religion umgehen. Sie drückt es einfach so aus: „Ich weiß jetzt, dass Gott keinen Fehler gemacht hat, uns zu erlauben, Männer und Frauen zu lieben …“ Aber die herzerwärmendste Geschichte für mich ist die Geschichte, die den Titel des Buches „She Called Me Woman“ inspirierte. Unsere Erzählerin hatte so viel Unterstützung und Helfer_innen auf dem Weg, die für sie sorgten, und ihr angesichts einer missbilligenden Gesellschaft zur Seite standen. Hier beschreibt sie eine dieser Personen als „… die Mutter, die ich nie hatte und sie hat mich super stark gemacht. Sie war eine phänomenale Person. Sie hat mir Tanzen beigebracht. Sie hat mir Choreographie beigebracht. Sie brachte mir bei, dass ich mutig zeigen sollte, wer ich war. Sie hat mich ‚Frau‘ genannt, noch bevor ich angefangen habe dies zu tun. Ich konnte es zu der Zeit nicht akzeptieren, aber ich war immer frei um sie herum.“ Diese Geschichten überraschten mich, weil es nicht die Geschichten von schwierigen Prüfungen, Leiden und traurigen Enden waren, die ich erwartete, stattdessen erfüllten sie mich mit Freude und Hoffnung.

Charlott: Welche Leser_innenschaft habt ihr euch bei der Planung des Buchs vorgestellt? Wer sollte das Buch lesen?

Azeenarh: Wir hatten eine Vielzahl von Leser_innenschaften im Auge, für die wir geschrieben haben. Zunächst wollten wir über queere Frauen schreiben für queere Frauen. Wir wollen, dass queere Frauen Geschichten sehen, die zu ihnen sprechen und ihre Erfahrung widerspiegeln. Wir möchten, dass sie wissen, dass sie nicht falsch liegen, dass sie nicht alleine sind und wir wollten ein Buch schreiben, mit dem sie sich verbunden fühlen. Wir haben das Buch auch in der Hoffnung geschrieben, dass Menschen, die nicht viel Kontakt mit queeren Menschen haben, die Geschichten und Wirklichkeiten dieser Frauen in ihren eigenen Worten hören können, damit sie sehen können, dass wir ihre Schwestern, ihre Cousinen, ihre Tanten, Mütter sind und wir ihnen Wege zeigen, wie sie bessere Verbündete sein können. Wir wollten auch, dass Leute, die gegen uns sind, das Buch lesen und sehen, wie falsch es ist, wenn sie behaupten, dass Homosexualität nicht afrikanisch oder nicht-nigerianisch ist. Wir wollen diejenigen, die sie zu „den Anderen“ gemacht haben, humanisieren und ihnen zeigen, dass wir in unseren Erfahrungen gleich sind, und ein Gespräch darüber beginnen, wie wir alle ohne Spannungen oder Konflikte zusammen leben können. Und schließlich wollten wir, dass ein neutrales Publikum, das wenig über Nigeria oder die nigerianische queere Erfahrung weiß, die reiche Vielfalt unserer Erfahrungen sieht. Wir möchten, dass die Leser_innen sehen, dass es nicht nur Geschichten von Leid und Traurigkeit sind, sondern auch von Lachen, Freund_innenschaften, ersten Lieben, Beziehungsdramen und Menschen, die akzeptieren, wer sie sind. Hohe Ziele gebe ich zu, aber wir setzen hohe Erwartungen an dieses Buch.

Charlott: Neben Sachbüchern werden auch immer mehr LGBT-Fiktionen von nigerianischen Autor_innen / Autor_innen aus der nigerianischen Diaspora veröffentlicht (wie Chinelo Okperantas Under the Udala Tree (2015), Olumide Popoolas When We Speak of Nothing (2017) und Akwaeke Emezis Freshwater (2018)). Hast du das Gefühl, dass nigerianische LGBT-Literatur (Belletristik und Sachliteratur) an Bedeutung gewonnen hat? Was wünscht du dir von der Buchszene?

Azeenarh: Ich stimme zu, dass sich in  der nigerianische LGBT-Literatur in den letzten Jahren etwas getan hat mit der Veröffentlichung von Büchern wie Judie Dibias Walking With Shadows neben den von dir erwähnten, aber auch mit Queerness in Büchern wie Lola Shoneynins Secret Lives of Baba Segi’s Wives, Elnathan Johns Born on a Tuesday, Nameless von BooksPrints veröffentlicht, sowie einer Handvoll Anthologien und queere Kurzgeschichten und Gedichte von Autor_innen. Aber das hat die Anzahl der Bücher, die in Nigeria verkauft und gelesen werden, nicht beeinträchtigt. Wir sind ein Land mit mehr als 160 Millionen Menschen und ich hoffe, dass zukünftig die Verlage inklusiver und repräsentativer werden hinsichtlich der Art und Weise, wie erzählt wird. Ich freue mich auf mehr Bücher von Frauen, mehr Bücher von queeren Menschen, Bücher von Menschen mit Behinderungen, Bücher von Jugendlichen für junge Leute, Bücher von Menschen, die vertrieben wurden, Bücher von Überlebenden, Flüchtlinge, und ich hoffe, dass sie besser darin werden, die Vielfalt der Stimmen, Erfahrungen und Interessen zu zeigen. Ich hoffe, dass das Verlagswesen die Gegenwart gut dokumentiert, so dass unser Leben in Zukunft nicht unsichtbar oder umstritten sein wird. Ich hoffe, es zeigt den Reichtum der Stimmen, Farbe, die in unserer Zeit vorhanden ist.

Charlott: Woran arbeitest du gerade?

Azeenarh: Wir arbeiten an der Fortsetzung von She Called Me Woman und arbeiten mit Organisationen zusammen, um identifizierte Lücken, die von queeren Frauen angesprochen wurden, zu adressieren. Einer der Hauptvorteile mit vielen queeren Frauen zu sprechen, während dieses Buch geschrieben wurde, war, dass wir sie nach ihren Bedürfnissen fragen konnten und was ihnen fehlt. Es gab einen klaren Bedarf an sicheren Räumen zur Förderung von Gemeinschaftsbildung (community building), Bewusstseinsbildung (conscioussness raising) und strategischem Organisieren. Daher arbeiten wir derzeit daran, sichere Räume für queere Frauen zu schaffen – sowohl physisch als auch online – und wir hoffen, dies als eines der Ergebnisse von She Called Me Woman teilen zu können.

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