Nach fünf Jahren wird morgen in München das Urteil im NSU-Prozess verkündet. In dem Prozess ging es u.a. um die Morde an Enver Şimşe, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter, sowie einige Anschläge und Raubüberfälle durch die Nazigruppe NSU. Dieser Prozess war von Beginn an darauf ausgelegt sich ausschließlich mit einem TäterInnen-Trio und sehr wenigen konkret Helfenden auseinanderzusetzen. Immer wieder wurde deutlich: Ein Interesse am Offenlegen von Nazistrukturen, weitgehenden Vernetzungen und dem Herausarbeiten der Rolle staatlicher Akteur_innen (Verfassungsschutz, Polizei etc) war gering. Diese Leerstellen des Prozesses stellte ein Video von NSU Watch knapp zusammen:
Insgesamt hat der Prozess (hier eine sehr gute Zusammenfassung) weiter Fragen aufgeworfen bzw. viele brennende nicht beantwortet: Wie viele Personen waren direkt und indirekt an der Mordreihe und anderen Aktionen beteiligt? Wie viel hat der Verfassungsschutz genau zum Aufbau und Erhalt der rechten Strukturen beigetragen? Und was hat der Verfassungschutz wann gewusst? Sind die Tode mehrerer ZeugInnen tatsächlich nur Zufall? Warum wurden einige Taten nur spärlichst behandelt?
Das Ende des Prozesses – egal mit welchen Urteilen – darf nicht das Ende der Auseinandersetzung bedeuten.So heißt es in der Anklage des Tribunals «NSU-Komplex auflösen»:
Der NSU-Komplex ist bis heute weder aufgeklärt noch aufgelöst. Er wirkt weiter, trotz zahlreicher Untersuchungsausschüsse und trotz des Strafprozesses, der am OLG München gegen eine kleine Gruppe Neonazis geführt wird. Der NSU-Komplex wird auch nicht aufgelöst sein, wenn das Gericht in München sein Urteil gesprochen haben wird. Nicht wenige Angehörige der Mordopfer und die Betroffenen der Sprengstoffanschläge haben große Hoffnungen in den Prozess und das Versprechen nach umfassender Aufklärung gesetzt. Aber sie wurden enttäuscht. Das Gerichtsverfahren war kein Raum, in dem ihre Erfahrungen, ihr Wissen und ihre Forderungen angemessen gehört wurden. Die Betroffenen fordern nach wie vor umfassende Aufklärung und die Benennung aller verantwortlichen Personen und Institutionen, von denen sie angegriffen, verletzt und verleumdet wurden.
Einer erster Schritt um zu Verhindern, dass das Urteil als Abschluss dieses Kapitels betrachtet werden kann: Morgen auf die Straße gehen!
#KeinSchlussstrichMorgen wird bundesweit zu Protesten aufgerufen! In München gibt es um 8 Uhr eine Kundgebung am Gericht und ab 18 Uhr eine Demonstration. Weitere Demonstrationen und Aktionen sind u.a. in Berlin, Bremen, Dortmund, Dresden, Frankfurt a.M., Freiburg, Göttingen, Halle, Hamburg, Kiel, Köln, Leipzig, Ludwigsburg, Lüneburg, Münster, Osnabrück, Pinneberg und Rostock geplant. #KeinSchlussstrich fordert:
Den gesamten Aufruf sowie weitere Informationen zu allen Aktionen findet ihr bei nsuprozess.net. |
Unvollständige Leseliste I: NSU bei der Mädchenmannschaft
- Unsere Reihe Gender und Rechts(extremismus) beschäfftigt sich u.a. mit einer Einordnung Zschäpes (2013) und der Vorstellung der Broschüre „Rechtsextreme Frauen – übersehen und unterschätzt“ (2014)
- Beim NSU-Prozess, da ging es doch um Frauenzeitschriften, oder? (2013)
- Gefahrenzonen, NSU-Terror und Anweisungen (2014)
- NSU: 10 Jahre nach dem Bombenanschlag in Köln (2014)
- Gedenken an die NSU-Opfer (2014)
- Ein deutsches Drama (2015)
- Aktionswoche: Gedenken & Widerstand 5 Jahre nach Aufdecken des NSU (2016)
- Podcast: Nadia und Charlott sprechen über ein halbes Jahrzehnt NSU-Prozess (2018)
Unvollständige Leseliste II: Weitere Texte
- Im gemeinsamen Interview sprachen Semiya Şimşek und Gamze Kubaşık über ihre Väter, die rassistischen Ermittlungsarbeiten und ihre Freundinnenschaft: „In Trauer verbunden“ (2013)
- „Ein nicht vorstellbares Versagen“ hieß es zum Ende des NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag (2013)
- „Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen. Was der NSU-Terror für die Opfer und Angehörigen bedeutet.“ hieß ein 2014 erschienenes Buch. Es berichtete darüber zB die Süddeutsche. (2014)
- MiGAZINE verwies auf die Kontinuitäten rechter Taten und deren Bezüge zum NSU: „Über 220 Straftaten mit NSU-Bezug seit November 2011“ (2014)
- „Es passiert sogar nichts, wenn wir kurze Statements an die Presse schicken.“ NSU Tatort Hamburg interviewte Gül Pinar, Nebenklage-Vertreterin der Familie Taşköprü. (2014)
- „Die NSU-Morde hätten verhindert werden können, wenn der Landesverfassungsschutz das nicht verhindert hätte.“ – Heribert Prantl schreibt bei der Süddeutschen Zeitung zu den Erkenntnissen des Thüringer Ermittlungsausschusses. (2014)
- Die Zeit schreibt über den Zentralrat der Sinti und Roma, der Anzeige gegen baden-württembergische Polizeimitarbeiter_innen stellt aufrgund von rassistische Kommentare in NSU-Akten. [Hinweis: In dem Text ausgeschriebene rassistische Begriffe]
- 2015 äußerte Beate Zschäpe etwas, was manchmal als Entschuldigung dargestellt wurde. Es antwortete unter anderem Gamze Kubaşık: „Mit ihrer Erklärung versucht Frau Zschäpe sich aus der Verantwortung zu ziehen. Dieser Aussage glaube ich kein Wort. Meine von vornherein geringen Hoffnungen, dass mit dieser Erklärung endlich die genauen Umstände des Mordes an meinem Vater aufgeklärt werden, sind enttäuscht.“ (2015)
- Mehmet Daimagüler, Nebenklagevertreter, schrieb bei der ZEIT über den Prozess und Wut. (2015)
- Diaspora Reflektionen besuchte im Hessischen NSU Untersuchungsausschuss die Anhörung des ehemaligen V-Mann Führers beim Verfassungsschutz Andreas Temme und schrieb über das offenbar geringe Interesse wirklich aufdeckend zu arbeiten und fragte darüberhinaus, wo denn die kritisch begleitenden Stimmen sind. (2015)
- „Die These vom NSU als isolierter Zelle mit nur einem kleinem Umfeld an Unterstützer/innen ist so nicht haltbar.“ Zwischenbilanz von NSU-Watch nach zwei Prozessjahren. (2015)
- Thumilan Selvakumaran beschreibt vorschnelle Festlegungen und übersehene Beweise bei der baden-württembergischen Polizeiarbeit zu NSU und Ku Klux Klan.
- „Die Bundesrepublik hat eine traurige Geschichte von haarsträubenden Verfassungsschutz-Skandalen aufzuweisen. Wenn sich allerdings bewahrheitet, was die neuesten Enthüllungen über die Verstrickung des hessischen Verfassungsschutzes in die Mordserie des rechtsextremen NSU nahelegen, dann übertrifft das alles bisher Dagewesene“, schrieb die Frankfurter Rundschau. (2015)
- Von 2015 bis 2016 wurden auf dem Blog nsuprozessentgrenzen Analysen rund um den Prozess und Debatten zum NSU veröffentlicht. (2015/ 2016)
- „Wir haben immer wieder gesagt, es geht um Ausländerfeindlichkeit, es kann nichts anderes sein.“ Die Eltern von Halit Yozgat sagten vor dem NSU-Ausschuss in Hessen aus. (2017)
- „Die haben gedacht, wir waren das„: Betroffene des NSU-Komplex erheben ihre Stimme (2017)
- Gamze Kubaşık über ihre Erfahrungen zum NSU-Prozess: „Ich glaube nicht mehr an den Rechtsstaat“ (2017)
- NSU-Bericht bleibt 120 Jahre geheim (2017)
- Çağrı Kahveci und Özge Pınar Sarp „Von Solingen zu den Morden des NSU“ – Text über rassistische Gewalt im kollektiven Gedächtnis von Migrant*innen türkischer Herkunft. (2017)
- Mit dem Ende des Prozesses gegen den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) ist das Kapitel noch nicht abgeschlossen: Massimo Perinelli, Mitgründer der Kölner Initiative Keupstraße und Mitorganisator des Tribunal „NSU-Komplex auflösen“, schreibt bei der ak analyse&kritik. (2018)
Was genau denn jetzt aufgeklären?
Ein Terrorismus, der daraus besteht quer durchs Land zu reisen und nach hunderten Kilometer Anreise die allerunauffälligsten Mitbürger* in ihren Läden abzuknallen, ohne Bekennerschreiben, finde ich schon mal sehr irre. In fast jedem Bundesland gibt es U-Ausschuss. Irgendwie so sind mir die Vorwürfe an die Behörden zu luzid. Wenn ich Ermittler* gewesen wäre, ich hätte wahrscheinlich genauso gehandelt. Und als Vschutz gehört es ja zu deinen Aufgaben nach den Rechten zu sehen.
Die Opferfamilien kriegen keine Ruhe, weil die Taten überhaupt keinen Sinn machen. Und alle so tun, hej, als wüssten sie woran die Behörden schuld sind. Nicht mehr als eine Verschwörungstheorie.
Die wahrscheinlichste Theorie aus meiner beschränkten Wahrnehmung ist wohl, dass die Täter* Auftragskiller waren mit Neonazihintergrund. Sonst macht es einfach zu wenig Sinn. Vielleicht macht ja auch nix Sinn. Wir brauchen auch nicht in das wir gegen sie verfallen und so tun, als ob alle deutschen Bürger* und Amtsmenschen quasi klammheimliche Sympathisant*n der Mörder* von ausländischen Mitbürger*n sind.
Viele der Fragen ließen sich beantworten bei der Lektüre der hier verlinkten Seite und Texte, angefangen bei NSU Watch und die Anklage des Tribunals. Zu vielen der Untersuchungsausschüsse gibt es auch Diskussionen. Es wurde wiederholt an Beispielen schlüssig dargelegt, wie im gesamten Prozess – von der Beobachtung rechter Personen, Ermittlungen zu den einzelnen Morden, Umgang mit dem Verfahren – staatliche Akteure zu mindestens dazu beigetragen haben, dass erst eine Aufdeckung verunmöglicht wurde und dann eine lückenlose Aufklärung. Ein wesentlicher Faktor: Rassismus. Kritik am Verfassungsschutz gibt es auch genügend – gerade hinsichtlich der sehr laschen Einstellung zu Rechten und wie dieser du.a. durch V-Mann-System oftmals Strukturen erst überhaupt finanziell tragfähig macht.
Die Opferfamilien, die du hier aufrufst, wurden jahrelang wie Kriminielle behandelt, teils Familienstrukturen zerrüttet durch die Polizeiarbeit (again, lies die Interviews mit den Betroffenen) und ihre Analysen der Geschehnisse wurde nicht ernstgenommen. So waren zB einige der Familien (Yozgat, Şimşek, Kubaşık …) 2006 an dem Marsch „Kein 10. Opfer!“ beteiligt – Jahre bevor Ermittler_innen eingestanden haben, dass die Taten zusammenhängen und rassistisch motiviert sein könnten. Sie haben bis heute keine angemessene Würdigung und Entschädigung erfahren.
Eine Mordreihe, die jahrelang passieren kan, obwohl es wissen zu ihr gab (ürbigens auch beim Verfassungsschutz), in der Ermittlungskomissionen mal den spaßigen Titel „Bosporus“ erhalten oder in Medien der Begriff „Dönermorde“ waltete, über die es in extrem rechten Kreise lobende Songs gab, zu der Akten erst teils in 120 Jahren angeguckt werden dürfen, in der es erst sehr spät überhaupt Sympathien für die Angehörigen gibt und die dann nie mit vollem Enthuisiamsus aufgeklärt wird – dies ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, welches sich nicht allein drei Nazis („Auftragskiller waren mit Neonazihintergrund“? Hast du dich irgendwie mal mit den taten und TäterInnen befasst?) und einer handvoll von HelferInnen zuschustern lässt.
Aber auf ein weiteres Problem machst du eindrücklich aufmerksam: Wie wenig Wissen viele Leute zum NSU-Komplex und rechten Strukturen haben.