Die (fast) vergessene feministische Gewerkschafterin

Dieser Text ist Teil 53 von 53 der Serie Wer war eigentlich …

Denkt mensch an die Arbeiterinnenbewegung und die proletarische Frauenbewegung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, fallen Namen wie Clara Zetkin oder Rosa Luxemburg. Sie waren zweifelsohne großartige Vertreterinnen sozialistischer Kämpfe, stammten allerdings aus (eher) bürgerlichen Verhältnissen und konnten auch Dank ihres Hauspersonal ihrer politischen Arbeit nachgehen. Seltener hört man von den Arbeiterinnen selbst. Das mag kaum überraschen, eine 6-Tagewoche mit 10-Stundenschichten plus Hausarbeit und Kinderbetreuung ließ den meisten Frauen wenig Zeit zum Schreiben oder für öffentliche Reden.

Pauline Berlin (später Thiede) war eine dieser Frauen: Geboren 1870, wuchs sie im alten Berlin im Kaiserreich am Halleschen Tor auf und begann mit 14 Jahren als Anlegerin im Buchdruck zu arbeiten. Mit 20 bekam sie ihr erstes Kind, ein Jahr später folgte das zweite. Nach dem Tod ihres Mannes stand Pauline allein mit ihren beiden Kindern und ohne Einkommen da. „Keine Versicherung, keine Unterstützung einer Gewerkschaft und erst recht keine staatliche Fürsorge sprang ein.“ So fasst Uwe Fuhrmann, Autor der Biographie „Frau Berlin“, die damalige Situation der jungen Frau zusammen.

Paula Thiedes Situation war sinnbildlich für die der Arbeiterinnen im späten 19. und beginnenden 20. Jahrhundert: Die meisten Frauen aus dem Proletariat gingen einer gering entlohnten Erwerbsarbeit nach, trugen außerdem die größte Last der Sorgearbeit und waren von der finanziellen Unterstützung eines Mannes, meist des Ehepartners, abhängig.

„Vielleicht waren Vorstellungen der geschlechtlich vorbestimmten Rolle niemals so geschlossen, niemals so konsequent, so binär und ließen nur so wenige ideologische und praktische Schlupflöcher, wie das in der zweiten Hälfte des langen 19. Jahrhunderts der Fall war.“

Uwe Fuhrmann, S. 65

Als Witwe ohne Erwerbsarbeit mit zwei kleinen Kindern zählte Paula Thiede zu den Ärmsten der Armen. Die kleine Familie zog in einen Neubau im Berliner Norden, um der Obdachlosigkeit zu entgehen. Viele Arme wurden in den neuen Mietskasernen untergebracht, die noch feucht waren, und wohnten diese mietfrei „trocken“ – eine äußerst ungesunde Praxis, welche Paulas zweite Kind, noch ein Säugling, nicht überlebte. Der tragische Tod ihres Kindes „ermöglichte“ der jungen Frau allerdings wieder Lohnarbeit aufzunehmen. Sie zog in die Nähe des Hermannplatzes zurück, arbeitete wieder an der Schnellpresse und begann ihre politische Organisierung als Arbeiterin.

Paula Thiede. In Berlin gibt es das Paula-Thiede-Ufer. Die Gewerkschaft ver.di hat dort ihren Sitz.

Der Autor beschreibt ausführlich und zuweilen als eigene Annahme gekennzeichnet die Lebenssituation von Paula Thiede — soweit es die spärliche Quellenlage zulässt. Seine Arbeit nimmt die Faktoren Geschlecht, Klasse, Ausbildung sowie Sorgearbeiten in den Blick, was sowohl die Inhalte, als auch die Analyse des Buches stärkt und die Lebenswirklichkeit, besonders die Herausforderungen, arbeitender proletarischer Frauen/Mütter differenziert darstellt.

„[Bessere Löhne] bedeuten bessere Lebenshaltung und bessere Gesundheit; kürzere Arbeitszeit fördert das Wohlergehen, bringt Sonnenschein und Glück.“

Paula Thiede, zitiert aus: VBHi, Protokoll vom
Zweiten Verbandstag 1902, S. 44, Schlusswort.

Thiele war maßgeblich an der Gründung des „Vereins der Arbeiterinnen an Buch- und Steindruck-Schnellpressen“ im März 1890 beteiligt, der erste Zentralverband der Gewerkschaftsgeschichte und eine der ersten gewerkschaftlichen Frauenorganisationen. Acht Jahr später wurde sie zur ersten weiblichen Vorsitzenden einer deutschen geschlechterübergreifenden Gewerkschaft im Bereich Buch- und Steindruckerei. Besonders spannend fand ich die im Buch beschriebenen Herausforderungen und Probleme, auf die Thiede in den ersten Jahren ihrer Arbeit traf — als Vorsitzende, die verschiedene Positionen vereinen musste und als Frau, die von einigen Männern argwöhnisch betrachtet wurde und so mancher Intrige ausgesetzt war. Ausführlich beschrieben werden die inner-gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen sowie die erfolgreichen Arbeitskämpfe, wie z.B. die Wöchnerinnenunterstützung, eine für damalige Verhältnisse einzigartige Errungenschaft für Mütter.

Paula Thiede (1906)

Mein Lieblingskapitel im Buch thematisiert Thiedes Führungsstil. Ich finde es außerordentlich erfrischend, wenn Autor*innen sich nicht ausschließlich auf „handfeste“ politische Erfolge der historischen Persönlichkeiten beziehen. Wir lernen viel über Menschen und ihr politisches Handeln, wenn der Blick auf das Miteinander gelegt wird: Thiede fiel vor allem durch einen respektvollen Führungsstil auf und berücksichtigte stets die soziale Situation des Gegenübers –selbst der politischen Konkurrenz.

Auf knapp 170 Seiten bekommt die Leser*in einen fundierten Überblick über Thiedes Leben, die damaligen Arbeitskämpfe sowie die historischen Bedingungen, in denen sie stattfanden. Eine lesenswerte Biographie über eine bemerkenswerte Frau, über die wir viel zu selten etwas hören.

Grabmal für Paula Thiede, Zentralfriedhof Friedrichsfelde. Foto: Lotse. (CC BY-SA 3.0)

Uwe Fuhrmann (2019): „Frau Berlin“ – Paula Thiede (1870 – 1919). Vom Arbeiterkind zur Gewerkschaftsvorsitzenden.

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