Anzeige eingestellt?! Kampagnen für mehr Gerechtigkeit

(Triggerwarnung, gilt auch für die enthaltenen Links: Verharmlosung von sexuali­sierter Gewalt und Schilderung von Gerichtsverfahren.)

Das Betroffene von sexualisierter Gewalt von unserem sogenannten „Rechtsstaat“ weder Unterstützung noch Gerechtigkeit erwarten können, hat der erst letzte Woche bekannt gewordene Freispruch eines Täters auf besonders bittere Art und Weise deutlich gemacht. Nach angeblich „objektive Kriterien“ beurteilt, soll die Vergewaltigung der zum Tatzeitpunkt gerade mal 15 Jahre alten Betroffenen durch einen beinahe doppelt so alten Mann im rechtlichen Sinne keine sein. Ihre Lage sei nicht schutzlos, ihr Verhalten nicht offensiv genug gewesen, so sind sich Richterin, Staatsanwaltschaft und der Anwalt der Betroffenen einig.

So schockierend dieses Urteil auch ist, es ist bei weitem kein Einzelfall. Wie die Initiative für Gerechtigkeit bei sexueller Gewalt erläutert, sind die Anzeigen seit der Strafrechtsreform 1997 zwar gestiegen, die Verurteilungen aber gesunken. Darüber hinaus werden Gesetze und geltende Grundsätze, die bei einer Vergewaltigung eine Verurteilung ermöglichen würden, vielfach schlichtweg nicht angewandt und wenn es doch mal zu einer Verurteilung kommt, wird diese meistens auf Bewährung ausgesetzt. Betroffene erleben dadurch immer wieder, wie die deutsche Justiz in der ihr zugewiesenen Schutzfunktion versagt.

Um auf diesen Zustand aufmerksam zu machen, hat die besagte Initiative einen Aufruf gestartet, dessen Ziel es ist, „bundesweit der Justiz bei ihrer Rechtssprechung auf die Finger [zu] gucken, [zu] dokumentieren und dafür Öffentlichkeit [zu] erzeugen, um mit gesellschaftlichem Rückhalt Änderungen dieser (Un-)Rechtspraxis durchzusetzen“. Um dieses Ziel zu erreichen soll ein Netzwerk geschaffen werden, mit dessen Hilfe sich an verschiedenen Orten Mitstreiter*innen zu Prozessbeobachtungen und weiteren Aktionen zusammenfinden können. Wer sich beteiligen will, kann einfach das Kontaktformular der Seite nutzen.

Eine weitere Aktivistin, die selber Betroffene ist und ähnliche erschütternde Erfahrungen machen musste, hat außerdem einen Blog ins Leben gerufen, auf dem sie Einstellungsbescheide sammeln und veröffentlichen will. Die Aktion erinnert an die #ichhabnichtangezeigt-Kampagne und richtet sich an Personen, die als Erwachsene oder Jugendliche ab dem 16. Lebensjahr vergewaltigt worden sind, Anzeige erstattet haben und deren Verfahren eingestellt worden sind. Mitgemacht werden kann hier, in dem ein Kommentar auf der Seite hinterlassen wird.

7 Kommentare zu „Anzeige eingestellt?! Kampagnen für mehr Gerechtigkeit

  1. “ Darüber hinaus werden Gesetze und geltende Grundsätze, die bei einer Vergewaltigung eine Verurteilung ermöglichen würden, vielfach schlichtweg nicht angewandt “

    mir scheint das problem aber auch die gesetzeslage zu sein – eben nicht nur die Rechtspraxis. ersteremuß geändert werden. die bloße existenz von § 179 („Sexueller Mißbrauch widerstandsunfähiger Personen“), dass da ein ganzer extraparagraph geschaffen wurde, zeigt das problem des extrem engen vergewaltigungsbegriffs des BGB: Ohne Gewalt liegt selten nach gesetzeslage eine Vergewaltigung vor. und fast die hälfte von § 177 verhandelt fälle von vergewaltigungen, die absolut die ausnahme darstellen: mit waffengewalt (von nem fremden, aus dem gebüsch, fehlt da noch), großer brutalität, zu mehreren. das, was der häufigste fall von vergewaltigung zu sein scheint (zwischen bekannten ohne großen einsatz physischer mittel, mit einem opfer, dass sich verbal wehrt), wird durch die kriterien

    „1. mit Gewalt,
    2. durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben oder
    3. unter Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist,“

    völlig unzureichend bis gar nicht abgedeckt

  2. Ja, das Problem ist auch die Gesetzeslage, aber eben nicht nur. Vielfach bestehen Lücken, die genauso gut zugunsten der Betroffenen ausgelegt werden könnten, im Regelfall aber zugunsten des Täters ausgelegt werden. Der Dritte Punkt ist bspw. derart schwammig formuliert, dass das Gericht jeweils im Einzelfall entscheiden muss, wo eine schutzlose Lage beginnt. Und wenn du dir mal den oben vorgestellten Blog und die dort bereits veröffentlichten Kommentare durchliest, dann wirst du wahrscheinlich entsetzt sein, in welchen Fällen sich das Gericht geweigert hat, Situationen als schutzlose Lagen anzuerkennen. Das geht weit über „im Zweifel für den Angeklagten“ hinaus…

    Darüber hinaus gibt es, wie die Initiative für Gerechtigkeit bei sexueller Gewalt herausstellt, in einigen Fällen auch andere Möglichkeiten, den Täter anzuklagen. Im Marler Fall bspw. war die Betroffene zum Tatzeitpunkt gerade mal 15 Jahre alt – wieso wurde hier nicht auf § 182 (Sexueller Missbrauch von Jugendlichen) geklagt?

    Also ja, es gibt zu viel Spielraum, und ja, die Gesetze arbeiten sich in erster Linie an Vergewaltigungsmythen ab. Ich finde das auch alles absolut beschissen. Aber selbst in diesem Rahmen wäre mehr Gerechtigkeit möglich – sie wird nur bisher nicht umgesetzt.

    Edit: Außerdem bin ich der Meinung, dass die beiden Projekte diesen Misstand deutlich machen können. Also eben auch, dass die bisherige Gesetzeslage – nett ausgedrückt – unzureichend ist.

  3. Eure Seite gefällt mir inhaltlich sehr gut. Es gibt viele Gruppen und manchmal suche ich bei denen nach Zielen.
    Mein Ansatz, mein Wunsch ist, ein Netzwerk zu schaffen, damit man nicht mehr an uns vorbei kann. Auch wenn wir verschiedene Schwerpunkte haben, wollen wir doch alle in die gleiche Richtung.
    Ich bin noch nicht lange dabei und denke, dass man nicht alles neu erfinden muss. Wenn man sich vernetzt kann man doch viel mehr bewirken.
    Bitte schaut auf meine Homepage, dann erklärt sich mein Ansatz.
    Ich würde mich sehr über eine Rückmeldung bzw. Vernetzung freuen.
    Liebe Grüße
    Angelika

  4. Wird Zeit! ich denke, solche Urteile sind eher die Norm denn die Ausnahme! Geworden? Ich weiss es nicht, aber anders kenn ich es nicht.
    Googlet mal „Vergewaltigung – Bewährung“ – selbst WENN es zu einer Verurteilung kommt, muss schon der Fremde Serientäter mit dem Messer im Spiel sein, damit es tatsächlich einen Gefängnisaufenthalt zur Folge hat. Kinder als Opfer sind da keine Ausnahme. Ein Brief ans Opfer, ein geldbetrag, und alles geht.
    (Triggerwarnung)

    http://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2011/missbrauch369.pdf

    http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.landgericht-stuttgart-milde-strafe-fuer-reuigen-vergewaltiger.a6e2be55-6f67-4efb-a6b0-6545cf6e3efc.html

    http://www.wochenblatt.de/nachrichten/isar/regionales/Vergewaltigung-Bewaehrung;art1177,89516

    http://www.derwesten.de/staedte/nachrichten-aus-herne-und-wanne-eickel/bewaehrung-fuer-vergewaltiger-id6265919.html

    http://www.rp-online.de/bergisches-land/solingen/nachrichten/vergewaltigung-zwei-jahre-auf-bewaehrung-1.2760886

    http://www.wn.de/Muensterland/Kreis-Steinfurt/Lengerich/2012/04/Taeter-gesteht-nach-zehn-Jahren-Bewaehrungsstrafe-fuer-Vergewaltiger

    http://www.welt.de/regionales/hamburg/article4024612/Kind-vergewaltigt-Bewaehrungsstrafe.html

    http://www.nwzonline.de/blaulicht/bewaehrungsstrafe-fuer-vergewaltiger_a_1,0,543414983.html

    http://www.abendzeitung-muenchen.de/inhalt.gericht-student-vergewaltigt-22-jaehrige-in-maenner-wg.f019cf60-35c7-4418-8243-8062dc7a07da.html

    http://www.merkur-online.de/lokales/nachrichten/bewaehrung-brutale-vergewaltigung-244914.html

    http://www.haz.de/Hannover/Aus-der-Stadt/Uebersicht/Taxifahrer-gesteht-Vergewaltigung-und-bekommt-Bewaehrungsstrafe

    http://www.sueddeutsche.de/panorama/prozess-in-koblenz-frau-in-schlafwagenabteil-vergewaltigt-1.359842

    http://www.noz.de/lokales/55653433/bewaehrungsstrafe-fuer-31-jaehrigen-vergewaltiger-aus-osnabrueck

    http://www.derwesten.de/staedte/unna/reitlehrer-aus-unna-bewaehrung-fuer-50-sexuelle-uebergriffe-id7092772.html

    Von den Freisprüchen nach ähnlichem Muster ganz zu schweigen, ich kann mich an unzählige Urteile erinnern, bei denen klar war dass es zu einer Vergewlatigung gekommen war, aber das Gericht und oft auch die Staatsanwaltschaft die Ansicht vertraten,
    -eine Frau die NEIN sagt – ist kein Grund für den Täter anzunehmen, dass etwas gegen ihren Willen geschieht,
    -eine Frau die weint – ist kein Grund für den Täter anzunehmen, dass etwas gegen ihren Willen geschieht;
    -eine Frau die nach anfänglicher Gegenwehr mitspielt um ihr Leben zu schützen,wie man es den frauen bis in die 90er Jahre eingebleut hat, – ist kein Grund für den Täter anzunehmen, dass etwas gegen ihren Willen geschieht; ja auch das geht – „Es begann als Vergwaltigung, aber DANN konnte der Täter Einvernehmlichkeit annehmen“;
    -Minderjährigkeit des Opfers – ist kein Grund für den Täter anzunehmen, dass etwas gegen ihren Willen geschieht;
    -Vor Angst erstarren und die Beine zusammenklemmen und den Mann wegschieben – ist kein Grund für den Täter anzunehmen, dass etwas gegen ihren Willen geschieht;
    -eine weinende und um sich schlagende 16jährige – ist kein Grund für den Täter anzunehmen, dass etwas gegen ihren Willen geschieht, wenn er vorher einen Joint geraucht hat und es deshalb vielleicht nicht mitbekommen hat
    etc pp.

    Was muss man vorweisen um in D als Opfer gelten zu „dürfen“, und was muss man machen um als Täter mit Freiheitsentzug bestraft werden?

    Wozu anzeigen in D? Um in die Statistiken zu kommen, aus denen Vergewaltigungsentschuldiger dann ableiten wie viele Männer falsch beschuldigt werden?

    Wie militant muss man in seiner Gegenwehr werden, damit sie zählt, selbst wenn sie nur zur Eskalation beiträgt und einem der Instinkt in der Situation zubrüllt, nicht noch mehr Gewalt zu provozieren, als man eh schon erfährt; und im erfolgsfall, wie militant DARF man, die körperliche unterlegenheit durch Hilfsmittel eventuell ausgleichend, werden, bevor man dann selber auf der Anklagebank sitzt?

  5. @Kantorka
    Die letzte Frage stellt sich mir bei diesem Thema eigentlich immer wieder. Wenn du eine Vergewaltigung anzeigst, bist du ja schon die verlogene Furie, die dem armen, armen Täter das Leben zerstören will.
    Was bist du wohl, wenn du dich mit Gewalt (erfolgreich) wehrst und dabei ein Knie oder Auge zerstörst?

  6. Tja, der ehemalige Generalstaatsanwalt Karge hat wohl nicht unbegründet 2010 verlauten lassen, dass er – Zitat: „seiner Tochter im Fall des Falles von einer Anzeige abraten würde“….

Kommentare sind geschlossen.

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