Hunger? Der Diät-BH sagt Nein!

Dieser Text ist Teil 22 von 45 der Serie (Mein) Fett ist politisch

Manchmal kommen Aprilscherze im Dezember – Microsoft, die University of Rochester und die University of Southampton meinen es aber leider Ernst. Im Auftrag des Unternehmens wurde unter anderem ein BH-Prototyp entwickelt, der Haut- und Herzfrequenzsensoren enthält. Man könnte hoffen, dass dieser BH als medizinisches Hilfsmittel kreiert wurde, das beispielsweise Warnzeichen für chronisch Kranke erkennt und – durch welchen Mechanismus auch immer – darauf aufmerksam macht.

Quelle: BBC News

Doch weit gefehlt – hier geht es zwar offiziell um „Gesundheit“, aber die Definition von Gesundheit, die sowohl der Idee als auch der Durchführung dieses Projekts zugrunde liegt, ist durchzogen von Sexismus, Dickenhass, und Geschlechtsessentialismus. Wovor der BH bewahren soll, ist „stressbegründete Überernährung“ bei „Frauen“. Der BH soll eine „Intervention“ sein, um das Essverhalten der Tragenden zu verändern.

In der Studie (PDF) funktioniert das so: Stellten die BH-Sensoren zum Beispiel einen Anstieg der Herz- und Atmungsfrequenz fest, (gepaart mit der Auswertung des „Emotionen-Tagebuchs,“ das Teilnehmerinnen führen mussten) lernte das System hinzu, welche Symptome als „emotionale Aufregung“ interpretiert werden konnten. Die Forscher_innen erhoffen sich nun im nächsten Schritt eine personalisierte Interventionsmaßnahme des BHs zu erfinden (..wer hätte gedacht, dass man jemals einen solchen Satz tippen würde…?), zum Beispiel mithilfe einer Smartphone-App, die Warnhinweise („Vorsicht! Schoki!“) sendet, um das Essverhalten der Tragenden durch unmittelbare Interventionen dauerhaft zu verändern. Der BH wird hierbei als Teil eines zeitnahen „Unterstützungssystems“ (höhö…) für „Stressesser_innen“ präsentiert; also als eine wohlwollende Maßnahme, die die tragende Person ständig begleitet (…und potentiell wohl auch eine „Verschreibungs“-Option, die Ärzt_innen dicken Patient_innen zumuten könnten).

Darüber lachen? Ja, auch. Gleichzeitig ist diese fantastische Gehirnwelle der 2013-Forschung aber ein Spiegelbild der („Gesundheits“-)Prioritäten unserer Gesellschaft. Dicke_fette Körper werden stigmatisiert und pathologisiert, bis zu dem Punkt, dass nun selbst Kleidungsstücke Menschen aktiv daran hindern sollen, mit Genuss zu essen. Bestimmte Essverhalten werden pauschal pathologisiert als „Stressessen,“ und „stressessen“ wiederum individualisiert als fehlerhafter coping-Mechanismus eines als nicht einwandfrei funktionierend angesehenen Körpers/einer als nicht einwandfrei funktionierend begriffenen Psyche im Kapitalismus. Hier wird technologischer Fortschritt erneut mit bestehender Diskriminierung verbunden, um für bestimmte Menschen Lebenseinschränkungen fort- und festzusetzen und „Grenzüberschreitungen“ zu sanktionieren.

Andere Studien geben die als dramatisch stilisierte Konsequenz von „Stressessen“ bereits schlicht nicht her, zum Beispiel diese (Inhaltshinweis: fatshaming, body policing).

Fett ist politisch. Und es ist gegendert: hier werden keine T-Shirts oder Oberkörperschlaufen erfunden, sondern konkret Stress-/emotional bedingtes Essen mit einem als „weiblich“ konnotierten Kleidungsstück assoziiert. Dickenhass marginalisiert nicht nur Frauen*, aber Körpernormierungen betreffen als weiblich gelesene Körper durch Sexismus und sexualisierte Objektivierung noch einmal in einem besonderen, systematischen Maße. Dieses BH-„Unterstützungssystem“ ist eben kein solches – es ist der körperlich überzustreifende Prototyp-Auswuchs eines sexistischen und körpernormierenden Überwachungs- und Bestrafungssystems.

Wie Melissa McEwan bei Shakesville sarkastisch schrieb: „Wenn ich eine Stressesserin wäre, könnte ich mir gut vorstellen wie begeistert ich davon wäre, dass mein Handy mich jedes Mal bezüglich DES FETTS anpiepsen würde, wenn ich sowieso schon angespannt bin.“ All das mal ganz abgesehen davon, dass die körperliche Reaktion, die dieser Diät-BH unter „emotionale Essgefahr“ verbucht, schlicht und ergreifend durch etwas sehr Banales ausgelöst sein könnte: Hunger. Oder Ärger über den Diät-BH.

18 Kommentare zu „Hunger? Der Diät-BH sagt Nein!

  1. Fände ich sehr nützlich für Typ 1 Diabetikerinnen. In Verbindung mit z.B. einer Insulinpumpe könnte man evtl. eine Verbesserung des BZs anziehlen, da Stress eine Auswirkung auf den Blutzucker hat. Den Zweck dieses BH’s mit Sexismus zu erklären finde ich unterkomplex und Ideologisch, eben genau das was man von der Mädschenmannschaft erwartet.
    Aber wo kämen wir da auch hin, wenn man sich etwas tiefergehender mit der Thematik befassen würde.

  2. Leserin habe ich freigeschaltet als Q.E.D. für genau das, was ihr_sein Kommentar mir vorwirft: unterkomplexe Ideologie.

    Bereits im ersten Paragraphen erwähne ich, dass ein solches Kleidungsstück durchaus medizinischen Wert haben könnte für chronisch Kranke. Tatsächlich könnte es sogar lebensrettend sein. Das ist aber nicht das, was hier konzipiert wurde: Wie der Rest des Texts thematisiert und kontextualisiert, mit Links gespickt, handelt es sich um ein Mittel, das in seiner Anwendung/Nutzensbegründung Sexismus und Fatshaming kombiniert. Dieser BH hat allein zum Ziel, die tragende Person vom Essen abzuhalten (…aus welchen Gründen auch immer diese Person eine körperliche Stressreaktion hat – darunter fällt vieles). Danke also für das Anschauungsmaterial re: unterkomplexer, ideologischer Kommentare, die man als Mitautorin eines feministischen Blogs erwarten muss, Leserin!

    / Und nach diesem kleinen Ausflug nach Absurdistan freue ich mich nun über inhaltliche Kommentare – danke :)!

  3. Neulich musste ich mir eine „Keynote“ von einem „Mediziner“ reinziehen, der daran arbeitet, pacemaker für Appetit in Leute zu verpflanzen, indem er bestimmte Nervenbahnen stimuliert. Begeistert erzählte er, wie Trägerinnen und ihre Ärzte dann remote den Appetit regulieren könnten. Medizinisch verordnete Magersucht. Great.

    Natürlich wurde seine Präsi auf dem Großbildschirm von einer Frau im Bikini abgeschlossen. Weil: Medizin.

  4. Es gibt ja nun so einige menschliche Verhaltensweisen, die zur Stressbewältigung dienen und nicht unbedingt gesundheitsfördernd sind. In Notrufzentralen z.B. wurde früher geraucht, was das Zeug hielt. Interessant finde ich deshalb, dass die Wirkung dieses „Funktions-„-BH anscheinend ausschließlich aufs Essen abgestellt wird. Essen dient ja nicht nur der Erhaltung der Funktionstüchtigkeit des menschlichen Körpers, sondern ist auch sinnlicher Genuss. Sinnlicher Genuss beim Essen hat aber heute, insbesondere, wenn eine Frau diesen sinnlichen Genuss verspürt und ihre Freude am Essen auch noch zeigt, mitunter schon fast etwas Unmoralisches (mein Eindruck). Insofern sehe ich hier ebenso wie Accalmie diesen Aspekt der Maßregelung allzu übermütiger Frauen.

  5. Eigentlich finde ich das Ding interessant, aber wie im Kommentar vor mir verstehe ich nicht wieso sich das nur auf Essen beziehen soll. Wenn ich gestresst bin, dann mache ich sachen die nicht gut oder gut-überlegt sind und Essen ist eine Sache davon, die irgendwo in der Mitte der Sachen liegt die ich mache, irgendwo zwischen „nicht so schlimm“ und „richtig gefährlich“.

  6. ehrlich gesagt, wer sich sowas anschafft, hat doch nicht mehr alle Tassen im Schrank. BH von Microsoft, wahrscheinlich noch mit Direktverbindung zum NSA-Zentralcomputer – soll das ein verfrühter Aprilscherz sein?? ich gehe jetzt schlemmen, und zwar ganz ohne BH ;-)

  7. Das funktioniert doch nicht. Wenn ich esse, um Stress zu kompensieren, dann wird mich so eine Warnmeldung vom BH (seriously?) entweder nicht stoppen oder stoppen und somit den Stress vergrößern. So oder so kein Gewinn. Wie in dem anderen verlinkten Artikel schon aufgezeigt wird ist es ja eh häufig so, dass Stressesser in Nicht-Stresssituationen eben weniger essen und dadurch das Kalorienkonto ausgleichen. Es besteht also auch schlichtweg keine Notwendigkeit korrigierend einzugreifen.

  8. Noch eine Frage: versteh ich das richtig, dass das Ding einem dann auch überhaupt nicht dabei hilft eine Ausgleichshandlung zu finden? Was ist denn dann der ganze Witz daran? Soll das einfach nur ein „auf die finger hauen“ sein? Als würde das irgend jemanden mit Stressessen oder zwanghaftem Verhalten weiter helfen.

  9. @Lea: In der Studie wird z.B. eine App vorgestellt, die in einer als „gefährlich für emotionales Essen“ interpretierten Stresssituation „tief durchatmen und bis 10 zählen“ vorschlägt als „Ausgleichshandlung.“ Ich wäre hier aber vorsichtig, die Definitionen von „Stressessen“ und „zwanghaftem Verhalten,“ die u.a. die Studie vornimmt, zu übernehmen – wie im Text erwähnt, enthalten diese Implikationen, die von anderen Studien nicht gestützt werden und der grundsätzlich problematische Vorannahmen zugrunde liegen.

  10. also, ich finde es reizend, dass mir im stressfall eine app eine möglichkeit zum stressabbau vorschlägt – (vorsicht) schoki! – während ich ganz unvernünftig nach einer echten problemlösung gesucht und noch gar nicht an schokolade gedacht habe. der diät-bh 2.0 arbeitet dann wahrscheinlich mit leichten stromstößen durch eingearbeitete elektroden. *ironie off*

  11. Um der Göttin Willen, ich fasse es nicht. Und das traurigste ist: wenn ich mich mit Kommilitoninnen über Sexismus unterhalten und dies zur Illustration als Beispiel heranziehen würde, fänden sie den BH am Ende vielleicht noch gut.
    Außerdem frage ich mich, wie so Kandidat_innen wie ich eine bin – BH-Größe unbekannt und wechselhaft – in das Ding überhaupt reinpassen sollen. Wurde die Passform auch von brustlosen Menschen entwickelt? Dann stelle ich mir den Spaß so bequem vor wie Pumps mit schlechtem Fußbett ne Nummer zu groß auf 2km Kopfsteinpflaster.

    Das erinnert mich daran, dass ich mal was über bequeme BH’s schreiben wollte auf meinem tumblr…

  12. Merkwürdig auch, dass Stress in Verbindung mit „emotionaler Aufregung“ gebracht wird. Normalerweise nehme ich das erste immer als Schlagwort für „Mensch arbeitet viel, Leistung, Burn-Out, etc.“ wahr.

Kommentare sind geschlossen.

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