Tanja Abou ist pädagogische Tresenkraft, absichtlich gescheiterte Studentin, Sozialarbeiterin, queere Poverty-Class Akademikerin, Social-Justice-Trainerin, Careleaverin und Kinderbuchautorin. Sie lebt und arbeitet in Berlin, wenn sie Zeit und Lust hat, schreibt und zeichnet sie darüber.
Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in: Kurswechsel, Nr. 4, Dezember 2015.
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Interventionen in den feministischen Mainstream der 1980er und 1990er Jahre
Klasse ist viel mehr als die Beziehung zu den Produktionsmitteln nach der marxistischen Definition. Die Klasse bestimmt dein Verhalten und deine grundsätzlichen Lebensauffassungen. […] [W]ie du Probleme erlebst und sie verarbeitest, wie du denkst, fühlst und handelst. (Rita Mae Brown, 1974)
Der – etwas sperrige – Titel ist der einer angefangenen Forschungsarbeit, die es bisher nicht in die Schriftform geschafft hat. Die Entscheidung, die Ergebnisse meiner Recher- chen in Vorträgen außerhalb der Universität zu präsentieren, aber nicht innerhalb eines Studiums weiterzuführen, ist für mich eine politische gewesen. Auch wenn ich bei der Umsetzung des Projekts sehr unterstützt wurde (1), waren die Widerstände, auf die ich trotz bester Vorbereitung und besten Wissens bei der Thematisierung von Klassismus in Bildungsinstitutionen gestoßen bin, stärker als mein Ehrgeiz. Gabriele Theling legt dar, dass eine Betroffenenperspektive ein anderes Forschen als das Be-Forschen aus einer distanzierten bzw. privilegierten Perspektive bedeutet. Da ich selbst eine Poverty Class Academic (2) bin, gebe ich nicht vor, einen – angeblich – objektiven Abstand zu meinen Nachforschungen zu haben. Intention war und ist für mich, Momente proletarisch-feministischer Geschichtsschreibung aufzuarbeiten und damit auch meiner Erfahrung eine Geschichte zu geben, in der sich Diskriminierungen und Ausgrenzungserfahrungen als strukturelle und nicht als individuelle Probleme identifizieren lassen.
In diesem Text möchte ich zwei selbstorganisierte Gruppen vorstellen, die in den 1980er und 1990er Jahren im bundesdeutschen Kontext aktiv waren: die Prololesben und die Arbeiter*innentöchter (3). Obwohl es innerhalb der Gruppen personelle Überschneidungen gab, werden die Prololesben und Arbeiter*innentöchter getrennt voneinander beschrieben, da sie sich in zwei unterschiedlichen Feldern bewegten. Die Arbeiter*innentöchter (4) organisierten sich innerhalb der Universitäten, während sich die Prololesben in der autonomen (Frauen)Lesben-Bewegung engagierten. Zunächst möchte ich die nahezu nicht (mehr) sichtbare Arbeit und die Diskussionen der Prololesben in der autonomen (Frauen)Lesben-Bewegung nachzuzeichnen. Als „Interventionen“ in einen „feministischen Mainstream“ verstehe ich im Rahmen dieses Beitrags Positionen und Handlungen, die innerhalb der (west-)deutschen (Frauen)Lesben-Bewegung marginalisierten Stimmen Gehör zu verschaffen versuchen.
Prololesben vs. bürgerliche Lesben
Wir haben die Beobachtung gemacht, daß unterschieden wird in „gute“ und in „böse“ Prolos – die Guten sind die Angepaßten mit höherer Schulbildung, die, die nach oben wollen; die bösen fluchen, saufen, schreien, sind undiplomatisch und dumm. Uns etwas Angepaßteren wird auf diese Weise suggeriert: „Du bist doch gar nicht so, Du kannst den Aufstieg doch schaffen.“ (Gitti et al., 1998)
Dieses Zitat stammt aus einem Diskussionspapier der Berliner Prololesben für die „3. Berliner Lesbenwoche“. Unter dem Namen Prololesben hatten sich in verschiedenen deutschen Städten Gruppen von links-politischen Lesben aus „Prolofamilien“ – in Abgrenzung zu bürgerlichen Familien – zusammengetan. Als Prololesben – eine Selbstbezeichnung, mit der die negativ aufgeladenen Begriffe „Prolo“ oder „Proll“ gewendet und als positive Identitätsbenennung angeeignet wurde – begannen die proletarischen Lesben ihre Erfahrungen zusammenzutragen und strukturelle Gemeinsamkeiten heraus- zuarbeiten. Auch wenn die Autor*innen des Diskussionspapiers betonen, dass eine hundertprozentige Teilung in „die Bürgerlichen“ und „die Prolos“ nicht möglich sei, halten sie dennoch fest, dass es signifikante Unterschiede in der Sozialisation von Lesben in ein bürgerliches bzw. proletarisches Umfeld gibt. Innerhalb einzelner Gruppen der Frauen-Lesbenbewegung wurden diese Unterschiede als Dominanzverhältnis der bürgerlichen Lesben gegenüber den proletarischen Lesben problematisiert. Im Diskussionspapier beschreiben die Prololesben:
Bürgerlich ist „in“ und Prolo ist „out“ – eine bestimmte Sprache und ein bestimmtes Auftreten signalisieren, daß jemand der herrschenden Klasse angehört. Lesben bürgerlicher Herkunft und entsprechender Erziehung können sich (nicht nur) im Notfall der „herrschenden“ Umgangsformen bedienen. Das wirkt, etwa im Umgang mit Behörden und „Autoritäten“, aber auch beim Streit in der Lesbengruppe. (ebd.)
Die Autor*innen sprechen sich für eine intensivere Selbstorganisation von proletarischen Lesben aus und wünschen sich, „daß die Auseinandersetzung zum Thema ‚Klassenunterschiede‘ von den bürgerlichen Lesben solidarisch mitgetragen“ wird. In den Folgejahren entstand eine Prololesben-Gruppe in Bochum, die 1990 zu einem Separatistinnen-Treffen einlud und aus der die Prololesben-Gruppe in Berlin hervorging. Trotz punktueller Begegnungen fand die Arbeit der einzelnen Gruppen eher isoliert statt. Martina Witte, Zeitzeugin und Autorin eines Textes über die Prololesben, erinnert sich: „[U]nsere Erfahrung damals war, dass alle immer das Rad neu erfinden, weil die Gruppen voneinander nicht viel wussten, wir hatten aber schon mal gehört, dass es auf der Lesbenwoche 86/87 diese Gruppe gab.“ In ihrem Text merkt Witte an, dass es trotz solchen Hörensagens kein verbreitetes Wissen über das Diskussionspapier gab. Diese Vereinzelung sieht sie als symptomatisch, da die Auseinandersetzungen „undokumentiert in Kleingruppen“ stattfanden und „nicht an die Öffentlichkeit vermittelt“ wurden. Auf die Frage, wie die bürgerliche Lesbenbewegung auf die Selbstorganisierung der Prololesben reagierte, benennt sie ein Dominanzverhältnis, auf das auch schon die Gruppe der Berliner Lesbenwoche hingewiesen hat:
Wir haben uns, so würde ich es heute sagen, tatsächlich nicht getraut, mit dem, was wir da bearbeitet haben, rauszugehen. Dieser akademische Duktus, der sehr streng war und diese informellen Hierarchien hergestellt hat; also Frauen, die einfach sehr dominant über Sprache aufgetreten sind und die manche Sachen auch nicht haben gelten lassen. Dafür haben wir uns nicht stark genug gefühlt.
Umverteilung als solidarische Praxis
Eine praktische Idee, die die Berliner Gruppe entwickelte, war die eines anonymen Um- verteilungskontos, um ein Auffangnetz für Lesben zu schaffen, die sich in einer prekären finanziellen Lage befanden, denen aber kein familiärer materieller Rückhalt zur Verfü- gung stand. Anna Knupp-Rabe beschreibt, dass das zur Verfügung stehende Geld erst dann in Anspruch genommen wurde, wenn „die Frauen schon in großer Not waren“. Das Konto bestand, bis zur Auflösung der Berliner Prololesben-Gruppe, zwei Jahre lang und wurde in der radikalfeministischen Lesbenzeitschrift „Ihrsinn“ enthusiastisch als ein Positivbeispiel für solidarische Praxis genannt. Zu erwähnen ist hierbei, dass das Konto allen Lesben mit Geldnöten zur Verfügung stand, was auch von Kritik begleitet war:
Personally, I wonder if it is a good idea to have it open to all lesbians, because after a while, when everbody gets used to having the account, lesbians are more likely to use the money and it’s usually a lot easier for middle-class lesbians to do that. Especially since a lot of them are broke all the time too, but their situation is still very different. It would take a lot of education about class to make it clear, and that hasn’t happened so far. (Earthdaughter, 1991/1992)
Als weitere Form der konkreten Auseinandersetzung drehten die Berliner Prololesben einen Film, der die Visionen der einzelnen Gruppenmitglieder hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Position in zehn Jahren darstellt. Die Szenarien reichen von einer Prolo, die über Umwege an Geld gekommen war und ein Haus besitzt, das von einer anderen aus der Gruppe geputzt wird, über Aufgebens-Fantasien, weil der Widerstand im System zu stark ist, bis hin zu Szenen, in denen eine Prolo sich besonders gut benehmen will und das Hähnchen mit Messer und Gabel isst: „Wir wollten auf jeden Fall praktisch was machen, wir wollten nicht einfach nur rumreden – was wir ja auch oft als Mangel empfunden haben in der politischen Arbeit: Dass unheimlich viel gelabert wird!“
„Während andere exzerpieren, schreib ich ‚was‘ raus“
Kritische Überlegungen zur Kategorie „Klasse“ und den damit verbundenen Diskrimi- nierungen wurden in den 1980er und 1990er Jahren auch an den Universitäten aus identitätspolitischer Sicht formuliert. Zu den bekannteren Publikationen zählen „Ich gehörte irgendwie so nirgends hin: Arbeitertöchter an der Hochschule“ von Hannelore Bublitz (1980) und „Vielleicht wäre ich als Verkäuferin glücklicher geworden: Arbeitertöchter und Hochschule“ von Gabriele Theling (1986). Vorab möchte ich anmerken, dass ich die These, eine proletarische Sozialisation produziere ein ganz anderes Denken und Lernen und damit eine ganz andere Wissensbildung, nur vorsichtig unterstütze, da ich hierin die Gefahr einer Essenzialisierung sehe. Weil diese Annahme bei Theling und Bublitz aber eine zentrale Rolle spielt, soll sie zumindest Erwähnung finden, wird an dieser Stelle jedoch nicht weiter ausgeführt oder diskutiert.
Mit „Ich gehörte irgendwie so nirgends hin: Arbeitertöchter an der Hochschule“ prä- sentierte Hannelore Bublitz – selbst eine Arbeitertochter – eine Forschungsarbeit, die sich mit dem subjektiven Erleben der ausschließenden Strukturen für Frauen* proletarischer Herkunft an den Universitäten auseinandersetzt. In ihrer vorausgegangenen Diplomarbeit mit dem Originaltitel „Begreifen und Handeln, das vom Menschen ausgeht. Erfahrungen, die Töchter von Arbeitereltern mit ihrer Theoriebildung an der Hochschule gemacht haben“ fasst Bublitz jene Unterschiede zusammen, die sie zwischen den Studierenden bürgerlicher Herkunft und jenen proletarischer Herkunft ausmachen konnte. Anhand qualitativer Interviews zeichnet Bublitz nach, wie bürgerlich geprägte Theoriebildung Töchter von Arbeiter*innen an der Teilhabe im Universitätsbetrieb abschreckt. Ähnlich wie die Prololesben benennen die Arbeiter*innentöchter das selbstverständliche Auftreten der Bürgerlichen in den Bildungsinstitutionen:
Wir redeten viel über unsere Sprachlosigkeit. Darüber, dass wir sprachlos gemacht werden durch Aufforderungen, der Reihe nach systematisch vorzugehen, vorzutragen, zu erläutern, zu erklären. Wir fanden heraus, daß sprachlos werden etwas zu tun hat mit Stolz und mit menschlicher Würde, mit unserem „Klassenbewußtsein“. Und daß es bei uns immer dann besonders auftritt, wenn der andere uns in gewählter höflicher Form klar macht, was wir so ausdrücken würden: „Mensch, du hast ja von Tuten und Blasen keine Ahnung“ […] Die Gewalt, die man mit höflichen, aber bestimmten Worten anrichten kann, kann sich jemand, der mit Worten und Argumenten aufgewachsen ist, gar nicht vorstellen.
Zwischen Einfügung und Widerstand
Bublitz kritisiert wissenschaftliche Methoden, mit denen proletarische Menschen zu Objekten gemacht werden, und charakterisiert die Reaktion der Arbeiter*innen auf ihre eigenen Versuche, deren Alltag mit wissenschaftlichen Fragestellungen zu begegnen, als widerständig. Kritisch begegneten die Arbeiter*innen auch der Herangehensweise von Studierenden, für Forschungszwecke einen kurzen „Abstecher“ ins Arbeiter*innenmilieu zu machen, um dann, wenn „es dick kommt“, wieder zu verschwinden. Den proletarischen Studentinnen sind Bublitz Analyse zufolge solche Zugänge fremd. Wie auch die Prololesben in der Politgruppe fühlen sie sich in den Seminaren nicht ernstgenommen und mundtot gemacht. Bublitz beschreibt zudem den Anpassungszwang, den Mittelklassewerte an Hochschulen den Arbeiter*innentöchtern abverlangen. Dieser Druck führe zu einer Entfremdung von der Herkunftsklasse, bei der sich Einfügung und Widerstand abwechseln. Eine Situation, die Bublitz als schizophren und als eine „Erfahrung ständiger Isolation“ analysiert.
Durch die Arbeit von Hannelore Bublitz inspiriert veröffentlichte Gabriele Theling 1986 ihre Arbeit „Vielleicht wäre ich als Verkäuferin glücklicher geworden – Arbeitertöchter und Hochschule“. Theling definiert sich selbst als „gebildete Arbeitertochter“. Dass sie sich in den von Bublitz beschriebenen Erfahrungen der studierenden Arbeiter*innen- töchter wiederfinden und strukturelle Gemeinsamkeiten in den Problematiken – die sie zuvor als individuelle Schwierigkeiten interpretiert hatte – entdecken konnte, motivierte sie zu ihren Nachforschungen. Ihre Arbeit versteht Theling als konstruktiven Umgang mit der eigenen Betroffenheit. In einer „Bitte an die Leser“ beschreibt sie ihre Wut auf institutionelle und strukturelle Ignoranz:
Ich bin wütend auf die Politiker, die unsere Intelligenz und Lernfähigkeit einfach für ihre Zwecke ausnutzen, ich bin wütend auf die Lehrer, die diese Zusammenhänge nicht durchschauen und weiterhin „kompensatorisch“ erziehen, ich bin wütend auf die Leute, die immer wieder von Chancengleichheit reden, in einer Gesellschaft, in der es nur bürgerliche Bildung gibt, und ich bin wütend auf die bürgerlichen, die nicht einsehen wollen, dass sie bürgerlich sind.
Kommen auch Sie aus der Bildungsferne?
Auch Theling stellt Gemeinsamkeiten bezüglich Identität und Identitätsverlust, Sprache und Habitus und die Isolation als Arbeiter*innentöchter an den Universitäten fest. Nach einem Vortrag von Theling am Frauenforschungs-, -bildungs- und -informationszentrum (FFBIZ) in Berlin im „Streiksemester“ 1988/89 bildete sich eine Gruppe, die an der Freien Universität (FU) ein autonomes Seminar über „ArbeiterInnentöchter an der Hochschule“ anbot. Die aus dem Seminar hervorgegangene Gruppe brachte die Thematik im Rahmen eines Projekttutoriums zwischen 1990 und 1992 erneut in die Universität ein (5) und entwickelte zur Sicherung des erarbeiteten Wissens einen Reader mit dem polemischen Titel „Kommen auch Sie aus der BILDUNGSFERNE?“. Die Herausgeber*innen des Readers betonen die Notwendigkeit einer Selbstorganisation innerhalb der Universität, um Schwierigkeiten, die ihnen dort begegnen „nicht als persönliches ‚Versagen‘ zu interpretieren, sondern die Ursache in der Herkunft und strukturellen Phänomenen zu suchen“. Diese Feststellungen seien für sie „erleichternd“ und geben „Mut und Energie zum ‚Weitermachen'“ (ebd.).
Im Reader wurden unter anderem auch eigene Forschungsergebnisse vorgestellt. Da die bisherigen bekannten Arbeiten allein Arbeiter*innentöchter in den Fokus nahmen, kam die Frage auf, was studierende Arbeiter*innentöchter von studierenden Akademiker*innentöchtern unterschied. Die Autor*innen stellten fest, dass schon der Übergang in die gymnasiale Oberstufe mit unterschiedlicher Selbstverständlichkeit stattfand: Von den Akademiker*innentöchtern wurde der Wechsel ans Gymnasium auch von ihren Eltern als selbstverständlich erwartet, für die Arbeiter*innentöchter hingegen war der Entscheidung für das Gymnasium ein „intensiver Entscheidungsprozess“ vorausgegangen. Für die Arbeiter*innentöchter, die als erste in der Familie ins Gymnasium gingen, begann ein Weg, auf dem sich die von Theling und Bublitz beschriebene Isolation schon anbahnte: Sie waren „für ihre Schulprobleme und ihren weiteren Bildungsweg von nun allein zuständig und verantwortlich“. Die Autorinnen kamen zu dem Schluss, „daß die soziale Herkunft und die damit verbundenen Bildungserfahrungen sehr grundlegend das Verhältnis zu Studium und Universität bestimmen“.
Bedeutung in aktuellen Auseinandersetzungen
Die Thematisierung von Ungleichheiten im Bildungssystem ist nicht neu. Spätestens mit der „katholischen Arbeitertochter vom Land“ wurde in den 1960er Jahren eine Figur formuliert, die für „Bildungsferne“ und Förderungsnotwendigkeit stand. Trotz zyklischer Erinnerungen an die mangelnde Chancengleichheit für Arbeiter*innenkinder unterscheiden sich die aktuellen Zugangszahlen immer noch gravierend von jenen der Akademiker*innenkinder. (6) Zwar gibt es verschiedene Initiativen und Projekte, die kompensatorisch und empowernd arbeiten, die sich aber meist offensiv als „unpolitisch“ bezeichnen. So werden aus Studierenden aus der Arbeiter*innenklasse die klassenkampfbefreiten „First Generation Studierenden“ und aus den Tools, die zwecks Selbstbehauptung im Universitätsbetrieb mitgegeben werden, „Anpassungstools“.
Ich möchte diese Initiativen hier nicht bewerten, jedoch problematisieren, dass die Kritik am Anpassungszwang, an der Isolation und der Entfremdung von der Herkunftsklasse, auf die die Arbeiter*innentöchter immer wieder hinweisen, oft verloren geht und die jeweiligen Erfahrungen als persönliche Schicksale individualisiert werden. Gerade angesichts der Zugangszahlen (über die Abbruchzahlen gibt es so gut wie keine Studien) wäre daher eine schärfere Positionierung wünschenswert.
Klassenkonflikte in der Linken
Auch die Frage, ob sich in der Kultur der (autonomen/queer/feministischen) Linken bezüglich der Offenheit gegenüber den proletarischen Genoss*innen etwas Grundlegen- des geändert hat, ist noch zu diskutieren. Die Broschüre „Mit geballter Faust in der Ta- sche“, in der ein Auszug aus einem schwedischen Buch zu Klassenkonflikten in der Lin- ken übersetzt wurde, formuliert wütend Ausschlusserfahrungen der Genoss*innen aus der Arbeiter*innenklasse und kritisiert die Dominanz von Mittelklasse-Aktivist*innen. Eine Genossin wundert sich, warum ihre Mitstreiter*innen „so viel mehr Geld zu haben“ scheinen, um etwa auf Treffen zu fahren, für die sie quer durchs Land reisen müssen. Hinsichtlich der Frage, was deren Eltern beruflich machen, fasst Brigitta Hyttinen die Antworten folgendermaßen zusammen: „Es wimmelte nur so von PsychologInnen, ÄrztInnen und UnternehmerInnen – ein Genosse entstammte sogar dem Adel.“ Bezüglich der Kontinuität der politischen Arbeit über das Studium hinaus stellt sie fest: „Später verschwanden sie allein Universitäten und wurden ProfessorInnen oder gründeten ihre eigenen Unternehmen. Genau wie ihre Eltern.“
In der 2012 erschienenen Studie „Prolls, die Dämonisierung der Arbeiterklasse“ stellt der britische Autor Owen Jones dar, wie vermeintlich Liberale und sich selbst für „auf- geklärt“ haltende Menschen hemmungslos nach „unten“ treten und Angehörige der Ar- beiter*innen- und Armutsklasse lächerlich machen und abwerten. Auch in der aktuellen Diskussion um Pegida & Co. werden innerhalb linker Kreise gern klassistische Vorurteile im Bild des „Nazi-Orks“ zusammenfantasiert. Dass dies – neben der Reproduktion von Stereotypen – eine Verharmlosung von systematischem rechten Terror ist, sei hier nur am Rande bemerkt.
Die Interventionen der Prololesben und Arbeiter*innentöchter zeigen, dass eine Selbstorganisation wichtig und notwendig ist, wenn man strukturelle Diskriminierung und Ausgrenzung analysieren möchte und ihr etwas entgegensetzen will, um gemeinsam handlungsfähig zu werden. Wünschenswert wäre, einen Ort (oder Orte) zu etablieren, wo marginalisierte Gruppen nicht sprachlos gemacht werden und Raum für intersektionale Bündnisse und solidarische Praxen – wie beispielsweise ein Umverteilungskonto – (wieder) entstehen kann. Und in denen die, die immer reden, vielleicht mal zuhören.
Fußnoten
(2) Angelehnt an die Selbstorganisation von Akademiker*innen aus der Arbeiter*innen- und Armutsklasse verwende ich den Begriff Working Class/Poverty Class Academic. Im deutschsprachigen Raum gibt es wenig Auseinandersetzung um Selbstbezeichnungen von Menschen proletarischer Herkunft. Den Begriff „Armutsklasse“ verwende ich anstelle des hierarchischen und aufgeladenen Begriffs „Unterschicht“.(3) Der Asterisk (*) steht als Platzhalter für Genderidentitäten jenseits des binären „männlich“ und „weiblich“. Die Schreibweise wird in diesem Text durchgehend benutzt, wenn Originalzitate es nicht anders vorgeben. Auch wenn in den eingeflossenen Texten Trans*-Personen nicht explizit benannt werden, soll hier nicht davon ausgegangen werden, dass sie nicht an den Diskussionen und Wissensbildungsprozessen beteiligt waren.
(4) Die Positionierung als „Tochter“ halte ich für unglücklich und paternalistisch. Da dies aber die in jener Zeit gewählte Selbstbezeichnung ist, wird sie im Text beibehalten.
(5) Das Projekttutorium bestand bis 1992. Ob die Gruppe darüber hinaus weiter existierte, ist nicht bekannt.
(6) Laut einer Studie vom HIS (Hochschul-Informations-System) aus dem Jahr 2013 studierten von hundert Akademiker*innenkindern 77, von hundert Arbeiter*innenkindern 23 Personen.
Literatur
Autorinnenkollektiv: Kommen auch Sie aus der BILDUNGSFERNE? Reader zum Projekttutorium. „Studiensituation von ArbeiterInnentöchtern an der Hochschule“. Berlin 1992.
Rita Mae Brown: The Last Straw. In: Charlotte Bunch/Nancy Myron (Hg.): Class and Feminism. A Collection of Essays from The Furies. Baltimore: Diana Press 1974.
Hannelore Bublitz: Ich gehörte irgendwie so nirgends hin. Arbeitertöchter an der Hochschule. Gießen: Focus 1980.
Earthdaughter, Felicitas & Debby: Anonymus Money Redistribution: Prolo Dykes making a real change in West Berlin. In: sinister wisdom 45 LESBIANS & CLASS, 1991/1992. Berkeley.
Gitti/Erna/Lynda/Gabi: Prololesben. In: Monika Brunnmüller/Sabine Probst/Evamaria Schmidt (Hg.): Dokumentation der 2. und 3. Berliner Lesbenwoche 1986 und 1987. Berlin 1998.
Brigitta Hyttinen: Erinnerungen aus Karelien. In: Gabriel Kuhn (Hg.): Mit geballter Faust in der Tasche. Klassenkonflikte in der Linken – Debatten aus Schweden. Moers: Syndikat-A 2009.
Ihrsinn – eine radikalfeministische Lesbenzeitschrift: Von Klassen und Kassen, Nr. 9, 1994. Bochum.
Anna Knupp-Rabe: Für manche sind es Brüche, für uns Aufbrüche. Die Geschichte der Berliner Prololesbengruppe. In: May Ayim/Ilona Bubeck/Gülşen Aktaş (Hg.): Entfernte Verbindungen: Rassismus, Antisemitismus, Klassenunterdrückung. Berlin: Orlanda Frauenverlag 1999.
Anja Meulenbelt: Scheidelinien. Über Sexismus, Rassismus und Klassismus. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1988.
Gabriele Theling: Vielleicht wäre ich als Verkäuferin glücklicher geworden: Arbeitertöchter & Hochschule. Münster: Westfälisches Dampfboot 1986.
Martina Witte: Prolo-Lesben. In: Franziska Rauchhut/Christiane Leidinger/Gabriele Dennert (Hg.): In Bewegung bleiben, 100 Jahre Politik, Kultur und Geschichte von Lesben. Berlin: Querverlag 2007.
Danke dafür. Selbst Arbeiterkind und erste in meiner Familie an der Uni habe ich an einigen Stellen so heftig genickt, dass mir davon schwindelig geworden ist.
Fehlende Selbstverständlichkeit und massive Selbstzweifel sind seit dem Gymnasium meine stetigen Begleiter. Leider hat sich dies auch mit zwei Uniabschlüssen und nun in der Lohnarbeit angekommen nicht wesentlich gebessert.
Mein Hauptproblem: Der liebe Habitus. Von Menschen umgeben zu sein, die Druckreif sprechen, wenn ich nicht einmal druckreif schreibe. Die Bekleidungscodes richtig hinbekommen, ohne darüber nachdenken zu müssen. Die wissen, welche sprachlichen Register im Gespräch mit Dozenten angemessen sind. Die eine unglaubliche Ruhe daraus ziehen zu scheinen, dass sie selbstverständlich an die Universität gehören.
Ich habe unter anderem im Ausland an einer sog. Eliteuni studiert. Was ich aus dieser Erfahrung vor allem mitgenommen habe: Dort hatte ich mit meiner Herkunftsklasse deutlich weniger Probleme, weil die Uni (in einigen Punkten, zumindest) einen reflektierten Umgang mit dem Thema gepflegt hat. Zurück in Deutschland war Klasse genauso präsent, Arbeiterkinder an meiner Uni aber tatsächlich noch seltener – und es wurde nicht darüber geredet. Konsens war: Wir haben alle die gleichen Voraussetzungen und Chancen. Pustekuchen.
Hallo Millie, danke für dein Kommentar. Das, was du über deine Erfahrung in Deutschland schreibst, kann ich sehr gut nachvollziehen. Auch finde ich die von Tanja Abou zitierte „Definition“ von Klasse (jetzt von mir frei nach Rita Mae Brown: „Klasse bestimmt viel mehr als nur _finanzielle_ Ressourcen sondern auch ein Verhalten, grundsätzliche Lebensauffassungen, die Art und Weise, wie ein Mensch Probleme erlebt und sie verarbeitet und wie der Mensch denkt, fühlt und handelt.“) toll. Ich war mal in einer Austausch-Gruppe mit Leuten, die von Klassismus negativ betroffen sind, und eine Person hat etwas gesagt, was mir in gewisser Hinsicht die Augen geöffnet hat. Die Person meinte sinngemäß: Wir müssen die Lebenauffassung der Working Class / Poverty Class _wieder_ schätzen lernen, wie müssen wahrnehmen, wie unsere Klasse uns auch Positives und Empowerndes mit auf den Weg gegeben hat. Nun weiß ich z.B. zu schätzen, dass das, was ich früher als nur „laut“ und überhaupt „nicht-in-der-Lage-sein-ein-vernünftiges-Gespräch-zu-führen“ viel Ehrlichkeit- und Spaßpotenzial hat, das ich einfach liebe.
Mein Schwiegervater ist ein inzwischen pensionierter Akademiker, der seine linke Gesinnung in jeder Hinisicht zu zeigen versucht (von seiner Kleidung bis zu seinen Äußerungen). Er entstammt aber einer bürgerlichen Familie und hin und wieder merkt man das an unüberlegten Sätzen, wie: „Früher habe ich mal neben einem Postboten gewohnt. Der war ausgesprochen klug und mit dem konnte man sich richtig gut unterhalten.“ Was dabei mitschwingt, ist natürlich: „…obwohl er NUR ein Postbote war, war er ERSTAUNLICH intelligent.“ Gerade wenn man selbst aus einer bürgerlichen Familie stammt, sollte man vorsichtig sein, dass man (trotz linker und feministischer Gesinnung) nicht eine arrogante Haltung den z. B. finanziell weniger privilegierten Menschen an den Tag legt. Die Vorstellung vom „edlen Wilden“ in der Ethnologie ist eine ähnliche Geschichte. Also: Menschen ernst nehmen, ihre Ansichten und Einsichten nicht mit Begriffen wie ‚charmant‘ oder ‚durchaus interessant‘ kolonialherrschaftlich verniedlichen!
Hallo Tanja,
herzlichen Dank für’s Teilen deiner Recherchen. Vor allen Dingen habe ich mich über die Vorstellung der aktiven Gruppen gefreut – aktivistische Geschichte geht ja sonst leider immer so schnell unter.
Liebe Grüße
Magda
Vielen Dank, Tanja, für deinen wunderbaren Text!
Mein Hauptproblem (als studierte Tochter selbstständiger HandwerkerInnen) war immer: gesprochene Sprache, also damit verbundene Normen.
Für meinen Dialekt gabs in der Schule mächtig Ärger.
In der Folge: Redehemmungen, Sprachverwirrung, Sprachlosigkeit …
Inzwischen beobachte ich mit Argwohn, wie sich immer mehr schriftsprachliche Fachbegriffe in meine gesprochene Sprache mischen.
Ihr Lieben.
Ihr könnt Euch vielleicht vorstellen – oder vielleicht auch nicht – wie viel Überwindung es gekostet hat, diesen Text zu schreiben und zu veröffentlichen. Zu Klassismus zu arbeiten, heißt sehr viel Hass, Hähme und Abwertung zu kassieren.
Dass dieser Text einen Raum öffnet, eigene Geschichten zu erzählen und deutlich zu machen, dass klassistische Erfahrungen nicht individuelles Pech sondern diskriminierende Realität sind, macht mir (wieder) Mut.
Vielen Dank dafür!