Vulva verzweifelt gesucht

Kürzlich berichtete der Mädchenmannschaft eine Mutter, dass bei ihrer 8 10jährigen Tochter im BiologieSachunterricht gerade das Thema „männliche und weibliche Anatomie“ auf dem Plan stehe. Dabei würde allerdings auf den entsprechenden Lehrmaterialien die Klitoris komplett unterschlagen. Dass sowas in der Schule passiert, ist tatsächlich bemerkenswert – generell aber nicht wahnsinnig überraschend angesichts der Tatsache, dass die sogenannten weiblichen Geschlechtsorgane sprachlich und bildlich gerne mal auf ein Loch oder eine Ritze, auf das Fehlen von Etwas reduziert werden. Wie Mithu M. Sanyal in ihrem Buch „Vulva – die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts“ (Rezension Mädchen­mannschaft), einer „Suche nach dem symbolischen Ort […], den die Vulva in unserer Kultur besetzt”, schreibt:

„Anatomisch betrachtet besteht das primäre weibliche Geschlechtsorgan aus drei Einheiten: dem sichtbaren, äußeren Teil: der Vulva; der Körperöffnung, die den äußeren und den inneren Teil miteinander verbindet: der Vagina; sowie dem inneren, nicht sichtbaren Teil: dem Muttermund, der Gebärmutter und den Eierstöcken. In der Umgangs- und Fachsprache kommt die Vulva jedoch nahezu nicht vor. Stattdessen wird der Begriff Vagina verwendet. Dadurch bleibt von dem sichtbaren weiblichen Genitale nur ein Loch übrig.“

Hartnäckig hält sich der Mythos vom mängelbehafteten „nach innen verlegten Penis“ – analog entsprechender anatomischer Befunde aus der Renaissance – wider längst verfügbares besseres Wissen von der Komplexität dieses Organs, sowohl im wissenschaftlichen Kontext als vor allem auch in der Alltagssprache und -symbolik.

Kinder beginnen von dem Moment an, in dem sie anfangen, sich für diese Dinge zu interessieren, einen ganz bestimmten Blick auf die Geschlechtsorgane einzuüben – bestimmte Dinge zu sehen, andere eben nicht. Angeleitet werden sie dabei durch Eltern und Bezugspersonen, die ihrerseits oft versuchen, sich zu informieren, wie sie dem Kind dabei  zur Seite stehen können. So hat die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) eine Broschüre herausgegeben mit dem Titel „Liebevoll begleiten… Körperwahrnehmung und körper­liche Neugier kleiner Kinder“, die als Ratgeber für Eltern zur kindlichen Entwicklung vom 1. bis zum 6. Lebensjahr dienen soll.

Viele Kinder sind an Körperlichem sehr interessiert, und weil vielen Erwachsenen die totale Kompetenz in Sachen Sextalk nicht unbedingt in die Wiege gelegt worden sein mag, ist sowas grundsätzlich erstmal willkommen. Zunächst* scheint das auch ein durchaus brauchbares Heft zu sein: Dinge werden einigermaßen differenziert beschrieben und es wird allenthalben betont, wie wichtig positive Körpererfahrung und vergnügliches, respektvolles Sich-selbst-und-andere-Entdecken sei. Auch wird im Geleitwort explizit auf die Wichtigkeit der Vermittlung einer angemessenen Sprache hingewiesen.

Interessant wird es dann aber da, wo Studien zitiert werden, nach denen sowohl Jungen als auch Mädchen Worte für das männliche Geschlechtsteil kennen – aber nur „sehr wenige“ Jungen und auch nicht alle Mädchen hätten einen Namen für das weibliche. (Eine interessante Parallele dazu bei Erwachsenen: Mithu M. Sanyals Beobachtung, dass die von ihr dazu auf­geforderten Frauen zwar problemlos einigermaßen naturgetreue Penisse zeichnen konnten, jedoch keine eine wiedererkennbare Vulva zustande bekam.) Erläutert werden diese Befunde dann folgendermaßen:

„Das liegt unter anderem daran, dass die meisten Eltern ihren Kindern seltener eine Benennnung für die weiblichen Genitalien anbieten als für die männlichen. Das geschieht nicht absichtlich, sondern ist vor allem ein Wahrnehmungs- und Sprachproblem.“

Ein Wahrnehmungs- und Sprachproblem – ja, das leuchtet ein. Die unmittelbar folgende Begründung ist allerdings bemerkenswert:

„Die weiblichen Geschlechtsteile sind nicht so gut sichtbar und unsere Sprache kennt für sie nicht so viele positive und kindgerechte Begriffe.“

Sprache ist keine Einbahnstraße: Dinge ohne Namen lassen sich schwer denken. Und ungedachte Dinge lassen sich schwer sehen und benennen. „Unsere Sprache“ kennt deshalb nicht so viele positive Begriffe, weil viele unserer Sprechenden solche Begriffe nicht benutzen. Was wir deshalb nicht tun, weil wir solche Begriffe nicht denken. Weil die weiblichen Geschlechtsteile, wie Mithu M. Sanyal kulturhistorisch sehr anschaulich herleitet, gleichzeitig nichtexistent (Loch) und Quell des Verderbens sind (daher auch sehr nützlich als Schimpfwort, was die Sache mit der Kingerechtigkeit erklären könnte). Und: nicht so gut sichtbar?! Höchstens dann, wenn gar nicht hingesehen wird. In puncto faktischer Sichtbarkeit unterscheidet sich eine Vulva keinen Deut von einem Penis – sobald einfach mal die anatomische Tatsache zur Kenntnis genommen wird, dass es sich dabei um mehr handelt als eine Öffnung, in die entweder etwas hineingetan oder aus der etwas herausbefördert wird.

Die BZgA-Broschüre tut das sogar grundsätzlich und zählt „Schamlippen, die Scheide oder die Klitoris“ als Bestandteile der weiblichen Geschlechtsteile auf. Veränderungsbedarf an den daraufhin recht lapidar konstatierten Verzerrungen scheint die BZgA allerdings nicht zu sehen – empfiehlt sie doch nur wenige Zeilen vorher beispielhaft folgenden Erklärungsanatz für ein Gespräch mit dem neugierig gewordenen Kind:

„Mädchen kommen mit einer Scheide zur Welt, Jungen mit einem Penis. Das ist so. Bei Jungen ist der Penis außen am Körper. Bei Mädchen sieht man nur einen Schlitz, aber dafür ist bei ihnen mehr im Körper versteckt.“

Abgesehen davon, dass Körpergrenzen („innen”/„außen”) hier recht willkürlich definiert werden: Diese Wortwahl verblüfft umso mehr, als sie doch sofort Lügen gestraft wird, sobald eine entblößte Vulva in Sichtweite kommt, erst recht bei Mädchen und Frauen mit wenig oder gar keinem Schamhaar. Auch ein Venushügel, eine Klitoris, die sogenannten Schamlippen (zwei Paar sogar!) befinden sich „außen am Körper“ –  welches Mädchen sieht bitte „nur einen Schlitz“, wenn sie nackt vor dem Spiegel steht?

Sicherlich sind weibliche Geschlechtsteile verschieden geformt und bei manchen Frauen ist z.B. die Klitoris von den sogenannten Schamlippen etwas verdeckt – doch ähnliches gilt für die im übrigen sehr unterschiedlich dimensionierten Penisse, da ist auch oft die Eichel von der Vorhaut verdeckt, und trotzdem ist eher selten sowas zu hören oder zu lesen wie „Bei Jungen sieht man nur einen Zipfel, das Wesentliche ist innen versteckt.“ Und um was handelt es sich bei diesem mysteriösen „mehr“, das bei Mädchen angeblich innen in Körper „versteckt“ ist? Eierstöcke und Gebärmutter scheinen nicht gemeint zu sein, denn das fortpflanzungstechnische Zubehör ist auch bei Jungen überwiegend „im Körper versteckt“.

Geht es um dieses Heiliger Gral-artige Etwas, weswegen „richtiger“ Sex hier­zu­lande ausschließlich Penis-dringt-in-Vagina-ein („die Sprache“ macht auch hier immer wieder sehr schön deutlich, wie es sich geschlechtlich mit schöpferisch-aktiv und konsumierend-passiv verhält) bedeutet? Und dann wundern wir uns nachher, wenn sich beim Sex alle Beteiligten nachher wieder irgendwie loosermäßig fühlen, weil total überraschenderweise der „Geschlechtsverkehr“ als solches nicht zum Höhepunkt führt…

Für eine aufklärerisch sein wollendes Medium ist es geradezu bestürzend, wie hier anatomische Tatsachen verzerrt und die Verantwortung für bestimmte Missstände auf eine scheinbar im luftleeren Raum umherwabernde bzw. vom Himmel gefallene Sprache abgeladen wird. Offensichtlich hat die BZgA gar nicht bemerkt, wie sie damit zu dem konstatierten „Wahrnehmungs- und Sprachproblem“ selbst beiträgt – von einer Anerkennung der realen Auswirkungen dieses „Problems“, wie zum Beispiel der Fortschreibung einer Erzählung von der Frau als Mängelwesen per se, ganz zu schweigen.

Die BZgA ist nicht irgendwer: Als Fachbehörde auf Bundesebene ist sie laut eigener Homepage unter anderem zuständig für die „Erarbeitung von Grundsätzen und Richtlinien für Inhalte und Methoden der praktischen Ge­sund­heits­erziehung“ und die „Ausbildung und Fortbildung der auf dem Gebiet der Ge­sund­heits­erziehung und -aufklärung tätigen Personen“. Dementsprechend gute Chancen auf Rezeption, Reputation und Verbreitung hat eine von der BZgA herausgegebene Infobroschüre. Dass die Gelegenheit, hier ein dermaßen eklatantes „Wahr­nehmungs- und Sprachproblem“ klar zu benennen und dem Mythos vom „schwarzen Loch“ wirksam zu begegnen, nicht genutzt wird, ist so ärgerlich wie bezeichnend.

*Sehr bald wird jedoch ein binärgeschlechtliches und heteronormatives bis homophobes Gepräge deutlich, welches einen eigenen Post verdient.

9 Kommentare zu „Vulva verzweifelt gesucht

  1. Ach ja, das Problem der fehlenden Worte! Und die Beschreibungen sind wirklich arbiträr kulturell geprägt. Würde unsere Kultur Frauen in dem Maße bevorzugen, wie sie Männer tatsächlich bevorzugt (was nicht besser wäre, sondern nur andersrum schlecht!), hieße es wahrscheinlich: „Mädchen haben eine wunderschöne Blume, Jungs nur einen kahlen Stengel“. Die Frage, wie ich das mal meinen Kindern erkläre, ohne dass ich irgendwen oder irgendwas abwerte und verschrecke, ist auch für mich noch nicht endgültig geklärt.

  2. Hi,

    schöner Artikel, danke. Aber hat das auch schon irgendwer – womöglich mit ein bisschen Druck dahinter – an die BZgA geschrieben? Hat schon mal jemand eine Anfrage gemacht, wie sie zur Benennung „nichts“ oder „Schlitz“ kommen?

    Ich denke, daß die da durchaus dankbar sind (zumindest sollten sies sein, notfalls muß man eben ein bisschen nachhelfen), wenn die nächste Auflage der Brochüre besser wird….

    grüssli,

  3. „*Sehr bald wird jedoch ein binärgeschlechtliches und heteronormatives bis homophobes Gepräge deutlich, welches einen eigenen Post verdient.“

    Würd mich sehr interessieren, was ihr noch so zu dem Heftchen sagt. Ich hatte vor längerer Zeit schonmal drübergelesen und fands gar nicht so erschreckend.

  4. Das ist eine total nett und tolerant gemeinte Broschüre, die krass Transphob und auch etwas homophob geworden ist. Dahinter steckt meiner Meinung nach der Versuch, die Ängste von Eltern ernst zu nehmen, ohne sie klar zu benennen. Ziel des ganzen soll offenbar sein, dass die Kinder sich reibungslos in ihre Geschlechtsrolle assimilieren lassen. Eine Abweichung ist entweder nur kurzfristig oder krank.

  5. danke @Anna-Sarah – ich stelle bei sowas/jedes mal fest, wie weit entfernt ich doch mit meinem eigenen vor-/denken/handeln/vom sog. mainstream bin *gesichtspalmier
    und erfreut hat mich/auch der link zu scarleteen – da gucke zB ja sogar ich als sog. erwachsene immer mal wieder/regelmässig hin. weil … (mE selbsterklärend, wenn mensch „neugierig“ iSv u.a. wissbegierig und selbst-reflektiert ist)

    mir gruselts – anscheinend hat sich i.d. letzten 30+/- jahren in D NIX positv/verändert von wg. „aufklärung/für/ab 8jährige“ *augenroll
    (nicht nur methinks : auch da gibt’s generell/individuelle sog. entwicklungsunterschiede von wg. welche-info-wann)

    unterdessen ist es zB durch MRI nachgewiesen, dass die sog. schwellkörper im penis analoge pendants bei frau haben – die liegen halt, analog, anatomisch innen (und jede frau, die sog. self-sex praktiziert, weiss das).
    ich kann mir vorstellen, dass dies nicht unbedingtes „wissen“ für 8jährige ist bzw. sein sollte.
    umsomehr : “ viva-la-vulva“

    // pls spread the info //

Kommentare sind geschlossen.

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