Für den Beitrag inklusive der darin enthaltenen Links gilt eine TRIGGERWARNUNG.
Vor einiger Zeit haben wir über den Start der Kampagne #ichhabnichtangezeigt berichtet. Vom 1. Mai bis zum 15. Juni hatten Betroffene von sexualisierter Gewalt dort die Chance, anonym über Twitter, Facebook, den Kampagnenblog oder ein Kontaktformular Gründe offen zu legen, die sie davon abgehalten haben, nach der Tat Anzeige zu erstatten. Auf diese Weise sind 1.105 Statements zusammengekommen, die nun ausgewertet (PDF) worden sind.
Vergewaltigungsmythen
Eine zentrale Erkenntnis der Kampagne ist, dass der Schritt zur Anzeige den Betroffenen umso schwerer fällt, je näher sie dem*der Täter*in stehen. Dies ist besonders alarmierend angesichts der Tatsache, dass der überwiegende Anteil der Täter*innen aus dem familiären, engen oder nahen sozialen Umfeld der Betroffenen stammt. Obwohl sich dieses Resultat mit den Ergebnissen repräsentativer Studien deckt, dominieren gesamtgesellschaftlich gesehen noch immer ganz andere Vorstellungen davon, wie eine sexualisierter Übergriff abläuft bzw. abzulaufen hat. Vorherrschende Vergewaltigungsmythen zeichnen Bilder von unbekannten Tätern, die nachts in dunklen Seitenstraßen oder abgelegenen Parks über andere Menschen herfallen. Wenn es dann plötzlich aber der*die Partner*in, Freund*in, Vater*Mutter oder Trainer*in ist, fällt es den Betroffen oftmals schwer, die Gewalt, die ihnen angetan worden ist, richtig einzuordnen. Das führt in vielen Fällen sogar dazu, dass Zweifel an der eigenen Wahrnehmung aufkommen. War das, was ich erlebt habe, überhaupt eine „richtige“ Vergewaltigung? War es dafür „schlimm genug“? Habe ich vielleicht nicht richtig klar gemacht, dass ich das alles gar nicht wollte?
Victim Blaming
In diesem Zusammenhang aufkommende Schuld- und Schamgefühle sind ein Hauptgrund für das nicht öffentlich machen der Tat. Ständig wiederkehrende Diskussionen darüber, ob Betroffene sexualisierte Gewalt provozieren, indem sie sich „aufreizend“ kleiden, Alkohol trinken oder nachts alleine unterwegs sind, forcieren geradezu, dass Betroffene sich eine Mitschuld an der Tat geben. Dieser auch unter als Victim Blaming (Schuldumkehrung) bekannte Prozess bewirkt, dass Täter ent- und Betroffene belastet werden, weshalb es den Betroffenen anschließend noch schwerer fällt, die Tat öffentlich zu machen.
Fehlende Solidarität
Der Faktor Angst spielt ebenfalls eine große Rolle. Betroffene befürchten neben Schuldzuweisungen auch Statusverlust, Stigmatisierungen, Demütigungen und ein erneutes Gefühl der totalen Schutzlosigkeit. Außerdem haben sie Angst, dass ihnen nicht geglaubt wird. Leider ist diese Sorge auch nach wie vor alles andere als unberechtigt, denn in vielen Fällen folgen Abwehrreaktionen durch das in dem Moment der Öffentlichmachung so wichtig werdende soziale Umfeld. Von mangelnder Unterstützung bis hin zu handfesten Drohungen – Betroffene müssen leider immer wieder erleben, dass ausgerechnet die Zusammenhänge, auf die sie bei traumatisierenden Erlebnissen am meisten vertrauen, in ihrer Schutzfunktion versagen. Die viel zu oft unsolidarischen Reaktionen des Umfeldes werden so zum weiteren wichtigen Grund, die Tat nicht zur Anzeige zu bringen.
Mangelndes Vertrauen in Justiz und Behörden
Personen, die Abwehrreaktionen durch das eigene Umfeld erleben müssen, fällt es natürlich noch viel schwerer darauf zu vertrauen, dass ihnen an anderer Stelle geholfen wird. Sich im Erleben kompletter Ohnmacht fremden Menschen zu stellen, die eine Machtfunktion ausüben, bedeutet im schlimmsten Fall, weitere Grenzverletzungen zuzulassen. Mangelndes Vertrauen in Behörden, Polizei, Justiz und Institutionen wurde ebenfalls von vielen Teilnehmenden als Grund für die Entscheidung gegen eine Anzeige genannt. Leider nicht zu unrecht, wie die Erfahrungen einiger Betroffenen belegen, die sich in der Vergangenheit bereits für eine Anzeige entschieden haben.
Sexualisierte Gewalt als Ausdruck von Macht
Sexualisierte Gewalt wird, so auch das Ergebnis der Kampagne, in den meisten Fällen von Mächtigen gegen weniger Mächtige verübt. In 506 der 1.105 Statements berichten die Betroffenen von Erlebnissen sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend, viele von ihnen standen damals in direkten Abhängigkeitsverhältnissen zu den Täter*innen. Aber auch durch andere Beiträge zieht sich die Erkenntnis, dass das Ansehen der Täter*innen im jeweiligen sozialen Gefüge fast immer höher ist als das der Betroffenen. Sexualisierte Gewalt ist demnach auch ein Ausdruck und Ausüben von Macht.
Forderungen
In einem Mitte Juni verabschiedeten Offenen Brief (PDF) an verschiedene Ministerien verkündeten die Initiatorinnen der Kampagne bereits:
Es ist offensichtlich, dass die Gesellschaft in der Übernahme der Verantwortung versagt und sie statt dessen an die Betroffenen abgibt, indem sie die Betroffenen gesellschaftlich ausgrenzt und dazu verdammt, eine heile Welt vorzutäuschen. Dieses Klima des Schweigens ist einer zivilisierten Gesellschaft wie der unsrigen nicht würdig, und daher sehen wir dringenden Handlungsbedarf. Wir nehmen Sie darum in die Pflicht, diesen Missstand zu beheben und sich Ihrer Verantwortung zu stellen, um künftige Straftaten zu vermeiden, Opfer kompetent zu unterstützen und zu einem aufgeklärten Wandel im gesellschaftlichen Bewusstsein beizutragen.
Im Nachwort zu der Auswertung heißt es nun zusätzlich:
Damit sich an diesen Verhältnissen etwas ändern kann, ist die Bereitstellung finanzieller Mittel für eine umfassende gesamtgesellschaftliche Aufklärungsarbeit als Prävention bitter nötig.
Die Kosten hierfür kann man den Kosten gegenüberstellen, die durch die Folgen von sexualisierter Gewalt entstehen in Form von langjährigen Therapien, Klinikaufenthalten, Krankenstände, u.v.m.
Hoffen wir, dass diese Forderungen nicht nur gehört, sondern auch umgesetzt werden.
Ich habe in diesem Beitrag bei dem Wort Täter zunächst bewusst auf das gendern verzichtet, um gesellschaftliche Realitäten nicht verschwimmen zu lassen. 99% aller Täter sind männlich sozialisierte Personen. Doch um die Betroffenen, deren Erlebnisse nicht in dieses Schema passen, nicht in der Statistik verschwinden und unsichtbar werden zu lassen, habe ich mich im nachhinein doch für ein weitreichendes gendern des Begriffes entschieden. Festgefahrene Vorstellungen davon, wie eine Vergewaltigung auszusehen hat und wer überhaupt Täter*in werden kann, führen immer wieder dazu, dass Betroffene sich nicht trauen, ihr Schweigen zu brechen. Dieser zentralen Erkenntnis der Auswertung möchte ich nun wenigstens nachträglich noch Rechnung tragen.
Zunächst: Aufklärungsarbeit gegen Vergewaltigungsmythen halte ich für sehr wichtig.
„Ich habe in diesem Beitrag bei dem Wort Täter bewusst auf das gendern verzichtet, um gesellschaftliche Realitäten nicht verschwimmen zu lassen. 99% aller Täter sind männlich sozialisierte Personen.“
Diese Aussage finde ich nach Lektüre der vollen Auswertung (PDF) etwas problematisch:
Hier sind es nämlich schon 2,3% Täterinnen (wenn man die Täterinnen aus dem „weiblich, bekannt“ und der Familie, sowie die Partnerinnen addiert) – vielleicht auch mehr, da bei 22,27% kein Geschlecht genannt wurde (die Zahlen zu „Bekannten“ sind etwas uneindeutig, da sie teilweise explizit „männlich“ genannt werden, teilweise aber geschlechtsneutral vom „Umfeld“ oder „Bekannten der Eltern“ gesprochen wird). Statistische Erhebungen über das Dunkelfeld sind ja immer schwierig, aber die (überspitzt formulierte) Aussage „Frauen sind doch fast nie Täterinnen“ kann ja mit zum Schweigen betragen:
Als Grund für die Angst davor, dass nicht geglaubt wird, wird teilweise genannt: „Weil ich ein Mann/Junge war“. Hier fehlen in der Auswertung leider die Angaben, wieviele der männlichen Opfer diesen Grund nannten. Die Kombination der Vergewaltigungsmythen, dass „ein Junge, ein Mann nicht vergewaltigt werden kann“ (S. 27) und des nicht genannten Mythos „Frauen vergewaltigen nicht“ scheint hier also mit zum Schweigen beizutragen.
Hier kann das Gendern (und sei es mit Hinweis auf die Zahlenverhältnisse, etwa in der Form „die vielen Täter und wenigen Täterinnen“ o.ä.) Mythen abbauen, indem es auf die schlichte Existenz von Täterinnen hinweist.
Damit allein ist natürlich noch nicht viel getan – unmittelbar damit zusammenhängend ist natürlich etwa auch die zu oft vorhandene Machokultur bei der Polizei zu nennen.
Tausend-Danke für die Zusammenfassung!
Ich kann die Entscheidung nicht zu gendern einerseits nachvollziehen, andererseits macht es mir, gerade in diesem Fall, einen unkontrolliert wütend-schmerzenden Bauch.
Die besondere Stärke der Kampagne war (für mich) genau das nicht ausschliessende. Das jede_r sich beteiligen und ausdrücken konnte.
Das nicht von vornherein exkludiert wurde indem die Perspektive ausschliesslich auf eine Gruppe/Gender/… gelegt war.
Für mich wurde (endlich) einmal wirklich deutlich, seh- und erfahrbar dass viele von uns betroffen sind, nicht nur die einen oder die anderen und das wir alle, aus ähnlichen und unterschiedlichen Gründen, Erfahrungen, Positionen und Leid teilen, und das oft ohne es auch nur zu erahnen.
Hier nicht zu gendern bedeutet für mich diesen wichitgen Part zu demontieren.
Das finde ich schade.
Für andere mag das anders sein.
als Idee:
Vielleicht hätte es eine andere Wirkung für Wahrnehmung und Lesart, wenn der Hinweis vor dem Beitrag gestanden hätte. (?)
Viele Grüße!
Das ist doch verdammt nochmal egal wieviel als Männer aufgezogene Personen es waren!
Die Behauptung, dass es nur 1% Täterinnen sind, haut mir nun doch kalt udn hart ins Gesicht. Das marginalisiert Geschädigte von sexueller Gewalt durch Frauen.
Dass in B.s Kommentar auch noch der Mythos gebracht wird, dass nur Jungen/Männer von Frauen vergewaltigt werden, ist der zweite Schlag. Es zeigt, dass Gewalt von von Frauen an Frauen so marginal sind, dass es keinerlei Erwähnung bedarf.
Mein nächster Hashtag zu Vergewaltigung wird bestimmt #ichwurdenichtvergewaltigt #ichtunurso
Ich geh jetzt meine Schläge kühlen. Ignoranz tut weh.
Ich kann eure Bedenken verstehen und möchte euch deshalb meine Beweggründe, auf das gendern zu verzichten, erklären. Sexualisierte Gewalt geschieht – das hat die Auswertung auch bestätigt – nicht im luftleeren Raum. Sie tritt besonders häufig in Kulturen auf, in denen es breite Machtgefälle gibt, und wird dort durch Vergewaltigungsmythen und Schuldumkehrung (Victim Blaiming) gefördert. Letztere liefern vermeintliche Rechtfertigungen für männliche* Täter (triebgesteuert, weiblichen Reizen unterlegen), die so aber nicht auf weibliche* Täterinnen angewendet werden können. Von Frauen* wird in diesen Diskursen viel mehr Zurückhaltung gefordert; wer spät noch alleine unterwegs ist, (übermäßig viel) Alkohol trinkt oder leichte Kleidung trägt, gilt insgeheim als selbst (mit)schuld. Diese Vorwürfe müssen sich Männer* nicht anhören.
Darüber hinaus besitzen Männer* Privilegien, über die Frauen* nicht verfügen und befinden sich deshalb weitaus häufiger in Machtpositionen als Frauen*. Wie die Auswertung der Kampagne gezeigt hat, wird sexualisierte Gewalt in den allermeisten Fällen von Mächtigen gegenüber weniger Mächtigen ausgeübt.
Was ich damit sagen will ist, dass es kein Zufall ist, dass der wirklich überwiegende Teil der Täter männlich ist. Dieser Fakt ist bedingt durch unsere Kultur (im englischen gibt es denn passenden Begriff Rape Culture) sowie unsere Sozialstruktur.
Den Begriff Täter zu gendern, würde mir Bauchschmerzen bereiten, weil er all diese Hintergründe meiner Meinung nach ausblenden würde. Den Begriff Betroffene zu gendern bzw. neutral zu halten ist für mich selbstverständlich, denn auch Männer* und Jungen* werden zu Betroffen und es ist wichtig, das zu thematisieren. Aber der überwiegende Teil der Täter ist nach wie vor männlich – auch wenn wir von 5% vs. 95% ausgehen würden.
Edit: Das macht die Fälle, in denen Frauen zu Täterinnen werden natürlich nicht weniger schlimm oder weniger wahr, und es tut mir sehr leid, wenn das so rübergekommen ist. GwenDragon, ich habe deinen Kommentar erst nach dem abschicken gelesen und möchte dich wissen lassen, dass es mir leid tut und ich niemenschen vor den Kopf stoßen wollte. Ich möchte weder irgendwen marginalisieren, noch ausstoßen, aber eben auch auf gesellschaftliche Realitäten hinweisen, wie sie leider bestehen. Ein Kompromiss könnte bspw. eine ausführlichere Erläuterung sein, weshalb ich auf das gendern verzichte, wobei ich auch hierbei nicht sicher bin, ob ich allen Betroffenen gerecht werden würde. Wenn ihr bessere Alternativen habt, lasst sie mich bitte wissen.
@Viruletta
Ja, so kühl betrachtet, so würde ich es auch sehen wollen.
Ich empfinde es entwürdigend und respektlos, als Geschädigte in einer Statistik verschwinden, weil es so viele Täter gibt.
Das verursacht mehr als nur Bauchschmerzen.
Du genderst hier sehr wohl, indem du explizit den männlichen Täter benennst. Auch das Benennen nur eines Geschlechts verstehe ich als gerndern.
Wieso verschwimmt die gesellschaftliche Realität, wenn du Täterinnen nicht nennst?
Jetzt lese ich deinen Edit.
Schlimm? Wahr? Ich habe geschrieben, dass damit eine nicht unerhebliche Menge an Frauen marginalisiert wird.
Mit dem verschwimmen von gesellschaftlichen Realitäten meine ich die Rape Culture-Zusammenhänge, die ich in meinem letzten Kommentar genannt habe. (Und unter gendern verstehe ich eine Abwendung vom generischen Maskulinum, um alle beteiligten Geschlechter sichtbar zu machen. Das habe ich in dem Fall nicht getan, was falsch gewesen ist.)
Das mit dem nicht weniger schlimm und nicht weniger wahr, war bezogen auf dieses Zitat von dir:
Deine Kommentare haben mir aber deutlich gemacht, dass ich die Problematik von einer eingeschränkten Perspektive (gesamtgesellschaftlich anstatt mit dem Fokus auf die individuellen Betroffenheiten) aus betrachtet habe. Ich danke dir dafür, denn du hast mir dadurch wichtige Denkanstöße gegeben. Es tut mir leid, wenn ich dich verletzt habe, und ich werde die entsprechenden Zeilen in meinem Beitrag ändern.
Ich habe übrigens auch einen Beitrag zu dem Thema auf deinem Blog gefunden und möchte ihn hier nochmal verlinken: http://gwendragon.de/blog/Feminisma/taeterinnen-lesbische-opfer-1
Realität ist das Vorhandensein von Tätern und Täterinnen. Die gesellschaftliche Realität ist das Verschweigen von Täterinnen.
Auch das Nichtbenennen einer Gruppe von Tätern gewichtet die Genannte mehr. Es signalisiert: Wir müssen mehr Augenmerk auf Täter legen, weil die ganz viele Verbrechen begehen.
Was ist mehr sichtbar (nicht nur optisch!)? 99.9% oder .1%?
Wenn die Situation von Frauen als Opfer/Geschädigte verbessert werden soll, kann keine davon ausgehen, dass das Nennen der Masse 99% Frau alle restlichen anderen mitmeint.
Gendern. Täterinnen benennen. Einer anderen nicht vermitteln, dass sie weniger relevant ist.
Trotzdem, bei allem feministischen Verständnis der Theorien und gesellschaftlichen Praxen von Täterrelevanz, das Gefühl bleibt: wenig relevant zu sein.
Ja, danke, das nehme ich an. Ich bin mir im klaren, das sowas nicht bewusst passiert.
Wichtig ist mir, als Person, als eine die bestimmte Erfahrungen gemacht hat, genauso wichtig zu sein wie eine andere. Gleichrangigkeit unter Vielen ist für mich wichtig (war/ist auch wenn ich mich erinnere, feministischer Anspruch der Frauenbewegung).
Danke, dass du das verlinkt hast.
das hier ist absolut nicht als derailing oder kopfstreicheln gemeint.
ich will euch danke sagen für diese überlegten und ruhigen kommentare die mir dabei helfen die kontrolle über meine bauchschmerzen zurückzuerlangen.
so sehr habe ich begriffe wie fairness und respekt schon lange ncht mehr gefüllt gesehen.
gute nacht!
Habe mich gerade sehr darüber gewundert, dass diese #ichhabnichtangezeigt-Aktion sozusagen ein Ablaufdatum hat. Wenn in diesem Forum Menschen tatsächlich zum ersten Mal über ihren Missbrauch geredet haben, dann wäre es doch sinnvoll, diese Möglichkeit weiter bestehen zu lassen. Ich habe bisher von dieser Aktion nichts gewusst und wollte gerade einen Beitrag hinterlassen. Das funktioniert nicht mehr….