Andrea befasste sich in ihrem Studium mit Psychologie und Management. Sie arbeitet aus Leidenschaft im Beratungssektor, auch wenn es ihr wirklich schwer fällt, in hitzigen Debatten einen kühlen Kopf zu behalten. Fanatismus und Fundamentalismus hält sie für Antagonisten einer humanen Gesellschaft. In ihrem Gastbeitrag beschäftigt sie sich mit einzelnen Bündnissen und Organisationen von Abtreibungsgegner_innen in Deutschland – und skizziert den sich formierenden Widerstand dagegen.
Anfang Februar 2012 berichtete der Spiegel und auch die Mädchenmannschaft von einem in der Bundesrepublik einmaligen Geschäftsmodell einer Krankenkasse in Wiesbaden. Versicherte, die in die „Verwaltungsstelle ProLife der BKK IHV“ aufgenommen werden wollen, müssen schriftlich erklären, dass sie freiwillig auf Abtreibung verzichten. Im Gegenzug erhalten sie bei der Geburt eines Kindes 300 Euro Gebärprämie vom Kooperationspartner ProLife Deutschland. Das ist ein Ableger des Schweizer Vereins Pro Life, der als Nachfolge-Organisation der VPM-Sekte gegen Abtreibung kämpft.
Bereits Wochen vor dem Spiegel-Bericht hatte sich der Bundesverband pro familia über dieses dubiose Angebot beim Spitzenverband der Krankenkassen beschwert. Auch das Bundesversicherungsamt als Aufsichtsbehörde der Krankenkassen ermittelte bereits. Doch der Vorstand der BKK IHV, Heinz-Werner Stumpf, blieb hartnäckig. Er wollte es auf einen langwierigen Rechtsstreit mit dem Bundesversicherungsamt ankommen lassen. Selbst wenn er am Ende verloren hätte, hätte er das Verbot des kuriosen Kollektivs mit den Abtreibungsgegner_innen um Jahre hinausgezögert. Zu dieser Taktik wollte er sich Rückendeckung beim Verwaltungsrat seiner Krankenkasse holen. Denn dort sitzen auch Leute von ProLife Deutschland.
Stumpf kennt sich mit politischem Taktieren aus. Im Frühjahr 2012 bewarb er sich für den Mainzer OB-Posten. Seine Kandidatur für die Bürgerbewegung Pro Mainz, die aus den örtlichen Republikaner_innen hervorgegangen war, blieb allerdings erfolglos.
Offensichtlich hatten die selbst ernannten „Lebensschützer_innen“ nicht damit gerechnet, dass sich erheblicher Widerstand gegen ihr Treiben in der BKK IHV formiert. Vertreter_innen von pro familia, Terres des Femmes, gbs Mainz sowie vom HVD Hessen, European Pro-Choice Network, AlleFrauenReferat des AStA Uni Mainz und viele mehr hatten sich zum Aktionsbündnis FRAUENgeRECHTE Krankenkasse zusammengeschlossen, um zu einer Protestkundgebung vor dem Verwaltungsgebäude der BKK IHV aufzurufen. Schon die Ankündigung reichte aus, dass sich der Verwaltungsrat der Kasse dem Druck der Aufsichtsbehörde beugte und die Kooperation mit ProLife Deutschland beendete.
Die Demo konnte danach abgesagt werden.
Zurück bleibt allerdings der bittere Nachgeschmack, dass so eine Kooperation überhaupt möglich war. Aber auch, dass die Konzentration der Abtreibungsgegner_innen in der BKK IHV nicht nur bestehen bleibt, sondern der Zulauf sogar schon eine Eigendynamik angenommen hat und durch die Kündigung nicht nachlassen wird. Nicht einmal zu personellen Konsequenzen kam es. Der Vorstand Heinz-Werner Stumpf bleibt weiter im Amt, genau wie die Abgesandten von ProLife Deutschland im Verwaltungsrat. Sie können nun in aller Ruhe weiteragieren. Nicht ohne Grund hatte der bekannte schweizer Journalist und Sektenexperte Hugo Stamm einen viel beachteten Artikel über die VPM-Sekte treffend mit dem Titel „Das Netzwerk der Lichtscheuen“ überschrieben.
Neben der herkömmlichen Webseite von ProLife Deutschland (prolife-deutschland.de) existiert nun noch eine weitere unter der Domain prolife-deutschland-neu.de, die offensichtlich für die neue Ära nach der Kündigung der Kooperation eingerichtet wurde (siehe: prolife-deutschland-neu.de/wichtige-information)
Dort ist von ProLife-Mitgliedern die Rede, „welche durch Empfehlung von ProLife Deutschland Mitglied der BKK IHV geworden sind und noch werden“. An ein Ende der Aktivitäten wird offenbar nicht ernsthaft gedacht. Außerdem wird pro familia als „lebensfeindliche Organisation“ beschimpft.
Die meisten Drahtzieher_innen aus dem VPM-Zirkel gehören dem Kuratorium von ProLife Deutschland an. Sie initiieren die großen Projekte in der „Lebensschutz“-Szene, von denen es neben der Allianz mit der Krankenkasse noch drei weitere gibt:
Marsch für das Leben
Die Veranstaltung, die es unter dem selben Namen auch in anderen Städten gibt, wird in Berlin vom Bundesverband Lebensrecht organisiert, dem deutschen Dachverband der Abtreibungsgegner_innen. Das Sonderangebot der Deutschen Bahn für die An- und Abreise zu diesem skurrilen Aufzug führte zu massiven Beschwerden von Bahnkund_innen.
vita L
Eine nicht ergebnisoffene Telefon-Beratung für ungewollt Schwangere. Im Jahr werden etwa 2.000 Anrufe entgegengenommen. Mit manipulativer Rhetorik und vagen Versprechungen wird versucht, Anrufer_innen, die sich in der Regel in einer psychischen Stresssituation befinden, vom Gedanken an einen Schwangerschaftsabbruch abzubringen. Auch von der Einnahme der „Pille danach“ wird unter Hinweis auf Nebenwirkungen ausnahmslos abgeraten. Als Inhaberin der Webseite tritt Alexandra Maria Linder auf, offenbar um zu verschleiern, dass es sich um ein Angebot christlich-fundamentalistischer Abtreibungsgegner_innen handelt. Linder sitzt im Kuratorium von ProLife Deutschland und ist 2. Vorsitzende der Aktion Lebensrecht für Alle (ALfA), die im Bundesverband Lebensrecht organisiert ist.
1000plus und vorabtreibung.net
Eine nicht ergebnisoffene Online-Beratung Schwangerer. Angeblich kommt es zu mehreren Tausend Kontakten im Jahr auf Internet-Foren, bei denen die „speziell geschulten Fachkräfte“ mit manipulativen Methoden Schwangerschaftsabbrüche verhindern wollen. Auch hier wird Kampagne gegen pro familia gemacht. In einem wahrscheinlich sogar fingierten Beitrag zum Beispiel wird eine Mitarbeiterin von pro familia als „kriminell schlechte Beraterin“ hingestellt.
Finanziert wird die Offensive von der Stiftung Ja zum Leben, die ebenfalls dem Bundesverband Lebensrecht angehört.
____________________________________________
Update von Andrea
[Ich] habe gerade erfahren, dass die BKK IHV beim Bundesversicherungsamt vor ein paar Tagen einen Antrag gestellt hat, die Kooperation in leicht modifizierter Form doch fortsetzen zu dürfen. Der Vorschlag zur Güte: Vertragsgegenstand soll künftig sein, dass Prolife Deutschland der BKK weiterhin viele neue Mitglieder bringt (natürlich alles Abtreibungsgegner_innen, aber das wird nicht ausdrücklich erwähnt) und ansonsten die Sache in der Öffentlichkeit nicht weiter thematisiert wird. Dabei beruft sich die BKK IHV auf das Antidiskriminierungsverbot. Den armen Katholiken darf doch nicht die Vermittlertätigkeit wegen ihrer Religionszugehörigkeit verweigert werden…
Sehr erschreckend, was sich da heimlich und doch so offensichtlich vor unseren Augen entwickelt. So lange bei der BKK IHV keine personellen Konsequenzen gezogen werden, muss weiter auf diese Bewegung aufmerksam gemacht werden. Und eines zeigen diese Fälle doch ganz deutlich. Egal, was Europa auch sagen mag, der Körper von Frauen war, ist und bleibt (leider) Eigentum aller. Schrecklich.
Vielen Dank für diese Zusammenstellung! Sehr gut, sowas mal auf einen Blick zu haben.