In was für einer Welt leben wir eigentlich, wenn Assange nicht als Vergewaltiger gilt?

(Für den folgenden Beitrag gilt eine Triggerwarnung: Thematisierung von Vergewaltigungsverharmlosungen und Schilderung vom Tathergang im zweiten Absatz.)

In was für einer Welt leben wir eigentlich, wenn das, was Julian Assange zwei Frauen angetan hat, nicht als Vergewaltigung gewertet wird? Achja, in einer Rape Culture. In einer Kultur, die uns lehrt, dass ein „Nein“ auch mal ein „Ja“ ist, dass Schweigen „Ja“ impliziert, dass ein einmal gegebenes „Ja“ ein „immer-Ja“ ist, dass es sowas wie „überraschenden Sex“ („sex by surprise“) gibt und dass all das, so schreibt es euch doch bitte hinter die Ohren, keine Gewalt ist. In einer Kultur, in der Kläger*innen, sobald es um sexualisierte Gewalt geht, erstmal unter Generalverdacht stehen, und in der eine*n viel zu oft das Gefühl überkommt, dass es Verbündete nur für Täter*innen gibt.

Assange ist ein Vergewaltiger. Um sich darüber klar zu werden, genügt es, sich die Aussagen seines Verteidigers zu Gemüte zu führen. Im ersten Fall hat Assange eine Frau penetriert, während sie schlief – also ohne ihr Einverständnis. Da sie am Vortag konsensualen Sex gehabt hatten, fühlte Assange sich im Recht, sich weiterhin an ihrem Körper zu bedienen. Im zweiten Fall hatte Assange zunächst konsensualen Sex mit einer Frau, die sich jedoch wehrte, als sie feststellte, dass Assange versuchte sie ohne Kondom zu penetrieren. Als Reaktion hierauf drückte Assange sie nieder, setzte sich also explizit und gewaltvoll über ihren Willen hinweg. Auch hier fühlte er sich nach wie vor im Recht. Doch die Abwesenheit von Konsens ist sexualisierte Gewalt. Julian Assange ist ein Vergewaltiger.

Obwohl diese Fakten lange bekannt sind (wir berichteten schon vor knapp zwei Jahren darüber), spricht ein Großteil der Welt nach wie vor von einem Komplott. Erst kürzlich gewährte Ecuador Assange „diplomatisches Asyl“ und ließ dabei völlig außen vor, dass Assange nicht aufgrund seiner Tätigkeiten für Wikileaks nach Schweden ausgeliefert werden soll. Assange wäre in Schweden kein politischer Gefangener, sondern ein wegen sexualisierter Gewalt angeklagter Mann. Aber anscheinend macht die Tatsache, dass er als der Kopf von Wikileaks gilt, Assange in den Augen der meisten vor Vergewaltigungsvorwürfen immun.

Und dann gibt es da ja auch immer noch den hartnäckigen Mythos, in Schweden wäre Assange von einer Auslieferung in die USA und dort wiederum von der Todesstrafe bedroht. In den seltensten Fällen wird darauf hingewiesen, dass Schweden – genau wie alle anderen EU-Staaten – nicht in Länder ausliefert, in denen den Beschuldigten die Todesstrafe drohen könnte. Tatsächlich wäre eine Auslieferung in die USA in diesem Falle sogar noch unwahrscheinlicher, da ab dem Zeitpunkt einer Auslieferung nach Schweden sowohl Großbritannien als auch Schweden ihre Einverständnis geben müssten.

Es geht hier also sehr wohl um einen politischen Prozess, allerdings nicht im rechtlichen Sinne. Vielmehr geht es um die Frage, wo sexualisierte Gewalt anfängt, wer die Definitionshoheit inne hat, wessen Stimme gehört und wer zum Verstummen gebracht wird. Wenn Angeklagte zu Opfern und Kläger*innen lächerlich gemacht werden, dann ist das politisch, dann ist das Ausdruck einer Gesellschaft der Täter*innensolidarität. Und genau deshalb lässt es mir mehr als nur kalte Schauer über den Rücken laufen, wenn im selben Atemzug für die Freiheit von Kollektiven wie Pussy Riot und Menschen wie Assange demonstriert wird. Assange ist keiner von „den Guten“. Assange ist ein Vergewaltiger.

22 Kommentare zu „In was für einer Welt leben wir eigentlich, wenn Assange nicht als Vergewaltiger gilt?

  1. Kann dir nur zu stimmen. Solange erst mal das Opfer beschuldigt wird, kann man nicht von fairen Prozessen sprechen. Wieder ein Thema, bei dem man nur ungläubig den Kopf schütteln kann.

  2. Danke für Deinen Artikel, Viruletta!

    @Wolf:

    Immer wieder erstaunlich, wie man einen Kommentar zu Julian Assange und rape culture so drehen kann, dass der ganze Sachverhalt nur noch um einen selbst kreist (…soviel auch zum Thema Souveränität…), und wie man locker die Hauptpunkte des Artikels – Assange’s Verhalten und ein solches Verhalten ermöglichende rape culture – ignorieren kann, wenn man sich auf das hypothetische Szenario von Auslieferung in die USA konzentriert.

    Nochmal: Julian Assange bekämpft nicht seine Auslieferung in die USA seit zwei Jahren. Julian Assange bekämpft seine Auslieferung nach Schweden, um dort zu den (potentiellen) Taten befragt zu werden, die Viruletta geschildert hat. Man lese sich bitte auch mal den Kommentar dazu in der Zeit (http://www.zeit.de/politik/ausland/2012-08/assange-projektion) durch, der nochmal darauf verweist, dass Assange nicht immer solche Angst vor Schweden hatte, als er dort die Staatsbürgerschaft beantragt und Wikileaks‘ Zentrale nach Stockholm legen wollte, da er sich in Schweden vor einer eventuellen Auslieferung an die USA sicher fühlte. Interesssant, wie sich solche Grundannahmen dann um 180 Grad drehen, wenn man sich dort zu seinem individuellen Verhalten befragen lassen muss… Eine schöne Zeitleiste, die das veranschaulicht, gibt es bei der BBC:
    http://www.bbc.co.uk/news/world-europe-11949341

    Julian Assange hat nun politisches Asyl in Ecuador beantragt UND bekommen, weil er sich nicht zu diesen Taten befragen lassen will (und man muss sich mal vor Augen halten, welche Privilegien Assange hat als weißer Australier, der dank seines Passes auch in Länder hineinkommt, in die er möchte, und dort bleiben darf). Assange wohnte eineinhalb Jahre in der Villa eines Bekannten in London, und haust nun in der Botschaft, und winkt dann vom Balkon, während er sagt, dass er sich solidarisiere mit Menschen, die „wie er“ verfolgt seien – Bradley Manning und drei Mitgliedern von Pussy Riot. Die leichte Ironie daran? Bradley Manning und Mitglieder von Pussy Riot haben tatsächliche, physische und psychische, Konsequenzen aus ihrem persönlichen Aktivismus durch absurde Verurteilungen erlebt und erleben sie für die nächsten Jahre, und Pussy Riots Akvitismus richtet sich u.a. gegen rape culture und Männer (und manche Frauen) wie Assange, die meinen, andere hätten ihnen sexuell zur Verfügung zu stehen. Da böte sich für Dich und andere auch an, Magdas and Charlotts tollen Artikel dazu zu lesen…

    Die Anwälte Julian Assanges haben nie bestritten, dass er eine der Frauen penetriert hat, während sie schlief, und haben auch nie bestritten, dass er trotz des expliziten Knüpfens von Consent an ein Kondom ein solches nicht benutzt hat; was die Anwälte behaupten, ist, dass dies keine Vergewaltigungen und/oder sexuelle Nötigung darstelle. Viruletta hat dankenswerterweise geschrieben, warum das ein ganz kleiner Fehlschluss ist. (/sarcasm)

    Dazu schweigt Du aber leider, Wolf. Daher wäre ich persönlich ja heilfroh gewesen, von Deinem Kommentar verschont zu bleiben – denn dieselben „Argumentations“-muster kann ich quer durch’s Internet, Publikationen, und Stammtischen lesen und hören. Man nennt es auch Derailing. Und selbst wenn Julian Assange Großartiges geleistet haben mag (was ich nicht finde), wenn ihm Gefängnis drohen würde für Wikileaks (was noch nicht der Fall ist, da die USA ebenso wenig Anklage gegen ihn erhoben hat), und wenn Schweden ihn eventuell ausliefern würde (was ihm genauso in Großbritannien droht, mit dem kleinen Unterschied, dass Schweden kein solches Auslieferungsabkommen mit den USA hat), ist all das keine Entschuldigung dafür, ihn der Vergewaltigung und sexueller Nötigung prophylaktisch freizusprechen.

    Es zeigt aber sehr deutlich, wie viel Frauen* und Vergewaltigungsopfer generell Wikileaks-Anhänger_innen wert sind. Und warum Wikileaks-Anhänger_innen und Julian Assange-Fans ihren eigenen Pseudo-Standards nicht gerecht werden durch die Beschönigung oder gar Leugnung von Assange’s (potentiellen) Taten, und durch das Lächerlichmachen von Vergewaltigung und juristischen Kosnequenzen, zeigt ein guter Artikel hier, von Laurie Penny: http://www.independent.co.uk/opinion/commentators/laurie-penny-if-you-really-believe-in-wikileaks-you-must-want-assange-to-face-up-to-justice-8069906.html

  3. Danke, accalmie, für deine Ausführungen! Ja, Wolfs Kommentar ist wegmoderiert worden, aber es kommen am laufenden Band weitere Derailing-Kommentare rein, die in dieselbe Kerbe schlagen.

    Also: Wenn ihr euch wundert, warum eure Kommentare nicht freigeschaltet werden, kann ein Blick auf accalmies Kommentar Aufschluss geben.

  4. Danke, Viruletta: kleine Berichtigung. Bradley Manning hat noch keinen Prozess hinter sich, er nur vorläufig angeklagt, aber dennoch seit Mai 2010 inhaftiert.

  5. Vielen Dank für diesen tollen und gut recherchierten Artikel! Er zeigt deutlich wie Menschen wie Assange offensichtliche Tatsachen für ihre eigenen Zwecke verdrehen… Jetzt zu beobachten, dass selbst die krudesten Verschwörungstheorien – die du in deinem Artikel ja sehr schön entlarvt hast – ohne Bedenken von einer breiten Öffentlichkeit geschluckt werden anstatt zu akzeptieren was ja auch schon der Anwalt von Assange zugegeben hat (!) zeugt von dem ungeheurem Einfluss, den rape culture offenbar auf unsere Gesellschaft und den elendigen Vergewaltigungsdiskurs hat. Unfassbar.

  6. Liebe(r )Wolf,

    wenn dem so sein sollte, dann wäre es vielleicht sinnvoll gewesen, hier auf das eigentliche Thema des Artikels einzugehen, statt die Strategien und Rhetorik von Assanges Verteidigern zu wiederholen, und den Moderator_innen hier nicht verschnupft Unsouveränität vorzuwerfen, wenn Dein Derailing, mit dem rape culture-Entschuldigungen meist beginnen, unerwünscht ist.

    Da auch ich keine Freundin von Vorverurteilungen bin, wundere ich mich umso mehr darüber, dass man über die Vorverurteiluing der Frauen*, die Assange potentiell vergewaltigt hat, gänzlich unerwähnt lassen kann, während man von hypothetischen Auslieferungsszenarien ausschweifend berichtet, und bin auch milde überrascht darüber, dass die Ermittlungen eines potentiell bestehenden Tatbestands als Vorverurteilung vorverurteilt wird.

    Dein statement dass Du derjenige gewesen sein sollst, der hier „Tatsachen“ eingeführt haben soll, die vorher „wegmoderiert“ worden wären – nö, darauf geh ich doch nicht mehr ein – boring…

  7. Ich würde mir wünschen, dass Assange sich den Anschuldigungen in Schweden stellt. Gleichzeitig wünsche ich mir, dass Schweden sich etwas kooperativer zeigen würde. Beides sollte eigentlich möglich sein, um endlich den Fall zu klären, um den es eigentlich geht.
    Und, auch wenn das jetzt etwas „nit-picky“ rüber kommt, aber der erste link ist irreführend. Die Aussagen von Assanges Verteidiger sind kein Geständnis (da wären sie ja schön blöd), sondern eine Beschreibung der Anschuldigungen, um festzustellen, ob diese in England als Vergewaltigungen gelten (tun sie) und eine Auslieferung legitimieren (ebenso). Dabei aber davon auszugehen, dass sie ein Schuldgeständnis seien, geht zu weit. Soviel Zeit muss sein.
    Damit will ich aber nicht behaupten, dass es nicht genauso passiert ist. Diese „honeytrap“ Verschwörungsgeschichten finde ich widerlich. Und so richtig distanziert hat sich Assange von den Vorwürfen auch nicht.
    Also laut Gesetz gilt Assange als Vergewaltiger, wenn die Anschuldigen stimmen. Dass das immer noch in Frage gestellt wird, ist pervers.

  8. Nee, H.D., das stimmt so auch nicht. Emmerson, einer von Assanges Anwälten, hat ein Alternativ-Szenario beschrieben, dass dem Vorwurf von Vergewaltigung entgegentreten sollte. Davon berichtet dieser post und die weiterführenden Links.

    Eine von Emmersons Aussagen ist, dass Assange eine der Frauen, während sie schlief, penetriert hat. Das ist eine Vergewaltigung. Emmerson fasst das jedoch so zusammen, dass sie, auch wenn es „ihr nicht gefallen“ habe, sie dennoch zugestimmt hätte (was die Frau bestreitet; gerade, weil Assange wieder kein Kondom trug).

    Emmerson nennt die bereits zugegebenen Taten (ja, insofern ist es ein Geständnis durch seinen Anwalt) zwar „respektlos“ und „verstörend“, aber ist weiterhin der Auffassung, dass sie weder Vergewaltigung noch sexuelle Nötigung darstellen.

    Nachlesen kann man das:
    1) http://www.independent.co.uk/news/uk/home-news/discourteous-and-disrespectful-but-not-rape-the-assange-defence-2312641.html
    2) http://www.independent.co.uk/news/uk/home-news/discourteous-and-disrespectful-but-not-rape-the-assange-defence-2312641.html

    zum Beispiel. Es ist mir also ein Rätsel, warum daran festgehalten wird, dass Assange Opfer von Ungereimtheiten oder was auch immer sei, oder das Schweden einfach nicht nachgeben wolle. Assange hat – und das ist natürlich sein gutes Recht – fast zwei Jahre lang sämtliche rechtlichen Instanzen nutzen können, die ihm zur Verfügung standen. Er ist vor dem obersten britischen Gerichtshof damit gescheitert. Dann hat er sich entschieden, „politisches Asyl“ zu beantragen, um nicht zu diesen Vorwürfen (erneut) Stellung nehmen zu müssen. Und wer genau ist hier jetzt unkooperativ?

  9. H.D., ich frage mich ebenfalls, was du mit „unkooperativ“ meinst. Ich verstehe sowieso nicht, wieso so viele Menschen anscheinend der Meinung sind, Assange müsste in irgendeiner Weise entgegengekommen werden. Assange ist in Großbritannien keineswegs weniger von einer Auslieferung in die USA bedroht als in Schweden. Die einzige zusätzliche „Bedrohung“, die in Schweden auf ihn wartet, ist der Prozess, in dem er wegen sexualisierter Gewalt angeklagt ist.

  10. Danke für diesen Text! Die derzeitigen Artikel in den Tageszeitungen zu Assange machen mich wirklich wütend, weil das Vergewaltigungsthema entweder ganz unter den Tisch fällt oder nur am Rande erwähnt wird. Wenn dann noch 2 Seiten später das neue Buch über Polanski in den höchsten Tönen gelobt wird, so als sei da nie was gewesen, dann frage ich mich echt, in welcher Welt ich lebe.

  11. @accalmie: Auf den link vom Guardian beziehe ich mich ja auch, allerdings hatte ich ihn etwas anders verstanden als du.
    @Viruletta: Soweit ich das verstehe, geht es Schweden in erster Linie erstmal um das zweite Verhör. Das hätte durchaus auch schon mal in London in irgendeiner Botschaft stattfinden können. Wäre ja nichts Ungewöhnliches. Natürlich MUSS Schweden und auch sonst niemand Assange entgegenkommen. Ich hätte es mir einfach gewünscht, damit die Sache schneller aufgeklärt werden kann und vielleicht das ganze Theater im Anschluss erspart geblieben wäre. Und auch, um den ganzen Verschwörungstheoretikern etwas den Wind aus den Segeln zu nehmen.

  12. Auch danke für den Artikel.
    1. war ich bisher nicht gut informiert, sprich, kannte die genauen Vorwürfe nicht,
    nur dass es sich nicht um eine „klassische“ Vergewaltigung gehandelt habe,
    was bei genauerem Hinschauen natürlich Bullshit ist.
    2a. @ Zweisatz. Naja, man kann die Trigger-Warnung (ich kannte vorher nur Spoiler-Alarm) schlecht über die Überschrift setzen oder so vage halten, dass man nichtmal weiß, dass es um das Thema Vergewaltigung geht.
    2b. Die Warnung ist trotzdem angebracht, da es sich hier um eine besonders perfide Version von Missbrauch handelt, die von jemandem begangen wird, dem man eigentlich vertraut.
    Und die besonders schwer anzuzeigen und zu beweisen ist. Daher kann ich mir gut vorstellen, dass eine solche Erfahrung eher noch traumatisierender wirkt, als Missbrauch durch eine fremde Person.

  13. @Dylan Worte wie „Vergewaltigung“ und verschiedene davon abgeleitete Wörter können triggernd wirken. Entweder vermeidet man sie deswegen in Überschriften, was ich nicht wirklich schwer finde, oder findet eine andere Lösung wie Splats (die umstritten sind, aber immerhin irgendwas ändern.)

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