Das Weglaufhaus ist ein antipsychiatrisches Wohnprojekt im Norden Berlins. Merlin hat sich mit Kim getroffen, einer Aktivist*in und langjährigen Mitarbeiter*in des Weglaufhauses, um über das Wohnprojekt, aktuelle Kämpfe und Zukunftsperspektiven der Anti-Psychiatrie zu sprechen. Das vollständige Interview findest du auf realitaeten.noblogs.org.
Hallo Kim, was ist das Weglaufhaus?
Kim: Das Weglaufhaus ist eine Kriseneinrichtung, die geschichtlich aus den Kämpfen der Selbsthilfebewegung entstanden ist. 1996 konnte durch die Schenkung von einem Haus diese Gruppe ein Projekt eröffnen, das sich an Menschen richtet, die eine Alternative zu Psychiatrie suchen.
Wie so viele politische Projekte ist es ein Spagat zwischen politischem Idealismus, alltäglichem Verwaltungsscheiß und Kompromissen, der sich eher schlecht als gut anfühlen. Und das heißt, dass es jetzt erst einmal eine zweistöckige Villa irgendwo am Rand von Berlin mit großen Garten gibt, wo bis zu 13 Leute wohnen können und ein Team aus knapp 10 Leuten 24 Stunden rund um die Uhr arbeiten, auf Grundlage von einem anti-psychiatrischen Konzept. In der ersten Etage haben wir ein Doppelzimmer und 6 Einzelzimmer und die zweite Etage ist die Frauen_Trans Etage. Unsere Erfahrung zeigt, dass wir seit Jahren immer stärker von Personen angefragt werden, die trans, nicht-binär oder inter sind – zum Beispiel weil sie in der Psychiatrie oder anderen sozialen Einrichtungen extrem transfeindlich behandelt werden. Oder grundsätzlich darum kämpfen müssen, überhaupt so wie sie sind, anerkannt zu werden. Deswegen suchen sie dann uns auf, weil da ein Vertrauen und Wissen ist, dass sie bei uns diesen Kampf nicht führen müssen, sondern wir gemeinsam dafür kämpfen, dass diese Gesellschaft sie endlich mal akzeptiert.
Finanziert werden wir über die Obdachlosigkeit der Menschen, das heißt sie müssen obdachlos oder von Obdachlosigkeit bedroht sein und sich gleichzeitig in einer Situation befinden, in der sie rund um die Uhr Unterstützung brauchen. Darüber bekommen wir pro Tag, pro Person Geld. Meistens ist das auf vier Wochen gerechnet und wird dann verlängert, was ein relativ aufwendiger Antragsprozess ist. Das heißt aktuell bei uns, dass wir einen Zeitraum hatten, in dem wir aufgrund von Personalmangel weniger Leute aufgenommen haben. Mit so einem kleinem Projekt bricht das dann relativ schnell ein mit dem Geld und entsprechend haben wir viel gestruggelt (gekämpft) die letzten Monate. Wir brauchen Kohle, um uns überhaupt gerade als Projekt abzusichern. Im Grunde bräuchte es auch größere Finanzmittel für die Sanierung, oder die Webseite, die nach 90er Jahr aussieht.
Okay, und wie sieht der Alltag bei euch aus?
Kim: Es ist schwer von einem typischen Alltag zu sprechen, wir sprechen eher von situativen und individuellen Vorgehensweisen. Aber es gibt Elemente die sich wiederholen: Wenn eine Person zu uns kommen möchte, muss die Person freiwillig zu uns kommen. Das heißt, dass ein erster Kontakt über das Telefon stattfindet, oder über eine andere Einrichtung, die sich bei uns meldet. Dann gibt es ein erstes Gespräch mit der direkten Option auch dort bleiben zu können. Wir führen dieses Gespräch und sprechen über die Lebenssituation, die Bedürfnissen, unsere Angeboten und Möglichkeiten und klären, ob das überhaupt zusammenpasst.
Einmal die Woche gibt es eine Hausversammlung, wo wir uns zusammensetzen und Themen wie die Sauberkeit des Hauses, Gemeinschaftsaktivitäten oder aktuelle Probleme besprechen, wobei die Person, die gerade im Dienst ist und die Leute die daran teilnehmen wollen, sich einbringen.
Ansonsten gibt es einmal im Monat eine Vollversammlung, bei der alle, die dort arbeiten und dort wohnen, sich treffen und sich austauschen, einen großen Brunch haben und es dann die Möglichkeit gibt nicht nur Leute im Schichtdienst zu sehen, sondern alle mal gemeinsam an einem Tisch zu haben.
Vormittags machen wir viel Verwaltungskram und klassische soziale Arbeit. Das Weglaufhaus ist ein selbstverwaltetes Projekt, so dass wir viel mit der Organisation beschäftigt sind. Wir sind basisdemokratisch organisiert und treffen uns ein Mal die Woche in einer fünfstündigen Teamsitzung, in der wir auf einer formalen Ebene die Situation der Bewohner_innen besprechen.
Welche Ideen stehen denn hinter dem Projekt und/oder welche Utopien?
Kim: Für mich persönlich ist es so: Ich bin nicht selbst psychiatriebetroffen, das heißt, ich war nicht in der Psychiatrie als Patient_in. Mein Zugang ist ein komplett anderer: Ich hab während des Zivildienstes damals noch in einer geschlossenen Psychiatrie in einer Landesklinik gearbeitet und war so entsetzt von dem, was ich da erlebt hab, dass ich dachte: “OK, das ist nicht das, was ich dachte, was ich da antreffe würde, also verständnisvolle Menschen und eine Atmosphäre, wo Menschen begleitet werden.“ Es hat viel Zeit gebraucht um das zu sortieren und zu überlegen, wie ich mich damit auseinandersetzen will.
Auch viele mir nahestehende Menschen haben mit dem Thema zu tun gehabt: Dieses übliche zu viele Drogen nehmen oder sich halt die Frage stellen, ob man leben möchte oder nicht. Und wenn man sich nicht männlich oder weiblich definiert, muss man im aktuellen System oft durch diese ganze Psychiatrie-Ecke gehen. Und deswegen steht für mich eine politische Frage im Zentrum. Dieser Ort ist schon an und für sich etwas Politisches, und zwar für das Existenzrecht für Menschen und ihr Recht, anders zu sein. Wo es auch nicht darum geht zu fragen: „Wieso bist du so? Kannst du dich verändern? Kannst du geheilt werden? Wie kannst du wieder in der Gesellschaft deinen Platz finden, der anerkannt ist?“, sondern „Wie kann sich eine Gesellschaft mit etwas auseinandersetzen, was sie nicht sofort versteht? Möchte sie dafür einen Raum geben, oder wird gesagt: ‚Du musst dich jetzt verhalten, wie wir es verstehen, und das letztendlich auch mit Zwang‘ ?“. Oder ist es vielleicht auch möglich zu sagen: „Du darfst so sein und wenn du Unterstützung möchtest, dann kriegst du sie, wie du sie möchtest. Wenn du keine Unterstützung annimmst, ist das auch okay. Du darfst so sein, ich muss es nicht verstehen, und dann gucken wir weiter.“
Und das ist für mich die Kernidee des Ganzen. Natürlich geht es ebenfalls um die Frage von Leid und wie wir Leid vermindern können. Aber ich glaube, dass das oftmals eine soziale Frage ist. Es geht weniger um das Individualisieren einer sozialen Frage auf eine Person, die ihr Verhalten verändern muss, sondern eher um die Frage wie wir die soziale Situation so verändern können, dass sich letztlich Menschen auch besser fühlen.
In diesem System dafür zu kämpfen eine Situation zu verbessern, an eigene Grenzen zu kommen, an die Grenzen der Hausgemeinschaft und gleichzeitig an die Grenzen der eigenen Ressourcen, um abseits von der alltäglichen Arbeit in diesem Projekt und seiner Verwaltung etwas zu schaffen. Eigentlich wäre das wichtig – schließlich haben wir als Projekt eine sehr anerkannte Stimme, aber nutzen sie in den letzten Jahren viel zu wenig.
Und welche Projekte oder Kämpfe passieren gerade noch bei euch?
Kim: Im Moment vor allem der Kampf darum, nicht schließen zu müssen. Wir hatten letztens eine Situation, wo wir noch so zwei, drei Monate am Horizont hatten, finanziell auszukommen. In einer solchen Situation sind wir jetzt gerade nicht mehr und obwohl das ist nicht alles ganz sicher ist, ist es zumindest etwas gesicherter.
Ich glaube es gibt – das ist eine ganz persönliche Einschätzung von mir – sehr großen Nachholbedarf. Zu schauen was sich innerhalb der letzten 10 Jahre in der psychiatrischen Landschaft entwickelt hat in Berlin, in Deutschland. Wie können wir als anti-psychiatrische Einrichtung eine Antwort darauf finden? Wie können wir auch unsere Unterstützung entsprechend verändern? Wie können wir an Phänomenen wie ExInn, Peer Counceling, Trialog, unsere Kritik daran schärfen und wo gibt es einen Zusammenarbeit? Das rückt immer mehr in die Warteschleife von aufzuarbeitenden Diskussionen. Eigentlich müssten wir das alles mal machen, auch die Auseinandersetzung mit Psychopharmaka. Was heißt das eigentlich, immer wieder im Alltag zu erleben, dass Menschen total struggeln davon weg zukommen?
Immer wieder ist da auch die Frage, inwiefern unser Ort der beste dafür ist. Es kann oft auch super wuschig, super chaotisch und anstrengend sein und die Zeiträume sind so undefiniert und unsicher. Du machst das Fass auf, und es kommt dir alles entgegen gesprungen, womit wir uns eigentlich auseinandersetzen müssten und wo wir mit politische Kämpfe mitführen müssten, auch innerhalb des Projektes, um gefestigt nach Außen treten zu können. Gleichzeitig die Auseinandersetzung zu suchen, das wäre ein Schritt vorwärts. Zu sagen: Wir gehen jetzt auf eine Psychiatriewoche zu, auf irgendeine Konferenz, die stattfindet und schauen uns das an mit unserer Stimme und sagen „Das ist scheiße und zwar aus dem und dem Grund“.
Aktuell ist zumindest wieder ein Umdenken im Haus, sodass wir merken wo Mängel sind und wo Handlungsbedarf besteht. Wir haben auch gerade wieder einige neue Leute eingestellt, wodurch gerade wieder viel Frische reinkommt, mit anderen Ideen und mit Lust etwas zu verändern.
Netzwerkarbeit, wieder mehr in die Linke rein zugehen, die auch gerade irgendwie rumhängt, Buchprojekte wie „Gegendiagnose“, solche Sachen sind super wichtig. Aber wie willst du es schaffen, politisch das zu tun, was traditionell als radikal linke Arbeit gesehen wird? Du nimmst ein Projekt, was schon darauf basiert, dass es prekär auf eine Art und Weise ist, du beschäftigst dich mit einer tagtäglichen Krise von Menschen, von einem System und von dir selbst. Weil du immer wieder mit Themen arbeitest, die dich schachmatt setzen und du erst mal ein, zwei Wochen sagen musst „ich kann gerade einfach nicht mehr.“ Entweder wegen der Arbeitsbelastung oder der Situationen, die du erlebst.
Was siehst du als zukünftige Perspektive von Psychiatriekritik und Anti-Psychiatrie?
Kim: Also zum einen müssen wir weg von diesen alten weißen Männern, die natürlich auch ihre Geschichte haben, ihre Verletzungen und ihre Betroffenheit. Wir sollten mehr mal das Feld öffnen für mehr Diversität, für Intersektionalität, für verschiedene Perspektiven und diese auch stark machen. Das ist glaube ich super wichtig, aber bisher in der anti-psychiatrischen Bewegung zu sehr untergegangen. Aber auch die Auseinandersetzung mit Veränderungen und unseren Antworten darauf. Die aktuelle Psychiatrie hat sich sehr entwickelt von offensichtlicher Gewalt, die allerdings immer noch vorhanden ist, zu einer subtileren Art von Gewalt. Außerdem ist die Zielgruppe der Psychiatrie im Grunde viel breiter geworden: von den Menschen, die „super ver_rückt“ sind zu präventiver Behandlung. So soll verhindert werden, dass Menschen überhaupt ver_rückt werden und mithilfe der Psychologie und Psychiatrie kann ein Verständnis von Normalität konstruiert werden, das Leute dazu bringt, Selbstoptimierungstechniken anzuwenden. Dahin kommst du nur, wenn du die Funktionsweise der Psychiatrie mehr als ein System ansiehst und eine Kritik für ein System formulierst, was auch für die Linke super passend und spannend wäre.
Möchtest du das Weglaufhaus unterstützen?
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Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt e.V.
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