Ein Essay über die Menschenrechte
„Hellcome“ brüllt der Mann vor dem Flüchtlingswohnheim. Willkommen in der Hölle. Er steht mit anderen auf der Straßenseite gegenüber dem Heim, einem früheren Schulhaus. Neben ihm hebt einer den Arm zum Hitlergruß. Keine Glatze, keine Springerstiefel, rosagestreiftes T-Shirt. Anwohner, Neonazis? Sie sind schwer zu unterscheiden. Der mit dem Hitlergruß wird wenig später von einem Polizisten abgeführt. Die „Bürgerinitative“, die auch von der rechtsradikalen NPD unterstützt wird, bleibt. Die Flüchtlinge auch. Vorerst. Marzahn-Hellersdorf, den 19. August 2013.
Es sind Szenen, wo die Scham sich selbst verschluckt. Und der Reflex, dies am liebsten weit von sich zu schieben, steigt, aber sie erinnern dumpf. Als meine Kusine 1992 nachts im Heim nicht mehr schlafen kann – vor lauter Angst, weil es wieder brennen könnte. Um sie zu beruhigen sagt mein Vater zu ihr, dass es meist nicht zweimal an einem Ort brennt. Da war ich sieben Jahre alt. Im selben Jahr wird das Asylbewerberheim in Rostock-Lichtenhagen von Nazis angezündet und von den AnwohnerInnen beklatscht. Brennende Bilder, grölende Nazis im Fernseher, NPD-Plakate an den Litfaßsäulen, das sind die 1990er Jahre. Unter dem damaligen Innenminister Wolfgang Schäuble wurden als Konsequenz auf die rassistischen Ausschreitungen die Asylgesetze (1992) massiv verschärft. Ja, das Boot sei voll. Nachrichtenmagazine wie der Spiegel folgen, sie titeln mit der Angst vor den Flüchtlingsströmen und der Überfremdung. Das Layout in dunkeln Farbtönen gehalten. Dabei lag die Angst ganz wo anders. Die Angst, die hatten wir, meine Kusine, meine Eltern. Und jetzt, im Jahr 2013, Berlin, Marzahn-Hellersdorf? Flüchtlinge werden durch den Hintereingang unter Polizeischutz in ihr neues Wohnheim gebracht. Sie haben Angst, um ihr Leben.
Hannah Arendts Thema sind die Flüchtlinge. Sie sind Staatenlose. Ihr Leben verdanken sie nicht ihren Menschenrechten, sondern der Mildtätigkeit derer, in deren Land sie geflohen sind. Ob sie leben oder sterben, ist reiner Zufall. Wer etwas über Menschenrechte lernen will, schaut am besten auf die Lage von Flüchtlingen. Arendts Thema ist mehr als 60 Jahre später aktueller denn je. Sie hat wenig mit der NPD zu tun. Aber viel mit Marzahn-Hellersdorf, Rostock-Lichtenhagen. Und mit dem Zweiten Deutschen Fernsehen, wo die Geschichte von Flüchtlingen, ihrer Flucht, ihrem Trauma offenbar so überflüssig sind, dass sie von einem „Aussteiger“-Nazi und einer Sarrazin-Bewunderin nachgespielt werden.
Hannah Arendt hat beschrieben, was es heißt, nur noch Mensch sein zu dürfen. Wer nur noch Mensch sein darf, ist ganz frei. Frei von Rechten und Gesetzen. Das Ergebnis ist Entfremdung. Keine Entfremdung von dem Selbst, sondern vielmehr eine Entfremdung von der Welt. Arendt beobachtet, dass die Etablierung von Nationalstaaten und ihre globale Hegemonie nur noch wenige Räume übrig gelassen haben. Räume, die nicht territorial in Nationalstaaten eingegrenzt sind. „Zuerst und vor allem findet der Raub der Menschenrechte dadurch statt, daß einem Menschen der Standort in der Welt entzogen wird, durch den allein seine Meinungen Gewicht haben und seine Handlungen Wirksamkeit.“ (Arendt 1949). Sie beschreibt ihre Erfahrungen als Staatenlose, Geflohene und als deutsche Jüdin im Dritten Reich vor dem Hintergrund der Shoa. Es sind andere Erfahrungswerte, sie zeigen jedoch einen Mechanismus auf, welcher nicht einzigartig ist. Den Prozess wie wir ausgezogen werden, Rechte verlieren, unkenntlich gemacht werden. Nämlich wie Menschen zu einem Abstraktum werden. Ihre Unsichtbarkeit, ihr Verschwinden aus dem öffentlichen Leben findet leise statt. Flüchtlingsheime werden an die Ränder der Städte verlagert, in die Industriegebiete. Der Tod der Ausgeschlossenen wird verschleiert etwa durch Neologismen wie „Dönermorde“, so dass wir nicht an unseren Bruder oder Schwester denken müssen.
Im EU-Behördendeutsch wird nicht über Flüchtlinge gesprochen, sondern von einer Illegalität und einer „irregulären Zuwanderung“. Zur Bekämpfung dieser „irregulären Zuwanderung“ wurde im Mai 2005 nach der EU-Osterweiterung auch die Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen, kurz: Frontex, gegründet. Flüchtlinge werden seit den 1990ern in der europäischen Migrations- und Asylpolitik illegalisiert, ihre Rechte verschwinden hinter der Wortschöpfung „Irregularität“, sie sind somit nicht einklagbar. Dabei sind es Menschen, die den Krieg überlebt haben, davor oder vor Verfolgung und absoluter Armut fliehen. In der Hoffnung auf ein besseres, sicheres Leben. Für die Rechtlosen gibt es „überhaupt kein Gesetz“, schreibt Hannah Arendt, „nicht daß sie unterdrückt sind, kennzeichnet sie, sondern daß niemand sie auch nur zu unterdrücken wünscht. Ihr Recht auf Leben wird erst im letzten Stadium eines langwierigen Prozesses in Frage gestellt; nur wenn sie völlig überflüssig bleiben, und sich niemand mehr findet, der sie reklamiert, ist ihr Leben in Gefahr.“ (Arendt 1949)
80 Jahre, nachdem Arendt ihre Heimat verlassen musste, werden in der Schweiz Freibäder zu no-go-areas für Flüchtlinge, in Berlin wird ein Spielplatz – von AnwohnerInnen – eingezäunt, damit Flüchtlingskinder dort nicht spielen. Thilo Sarrazin, Parteimitglied der SPD, wird als Bestsellerautor gefeiert. Es wird kälter in Deutschland, vermutlich weil sich die, die man am liebsten ausschließen würde, nicht mehr ausschließen oder ignorieren lassen. Also wenn die Asylbewerberheime nicht im Industriegebiet liegen, sondern mitten im Wohngebiet. Wenn Flüchtlinge sich an die öffentlichen Orte begeben. Es wagen, in die Freibäder, Spielplätze zu gehen oder eben mitten im Wohngebiet zu leben.
Die Welt ist nie nur eine Umwelt, aber auch eine Mitwelt. Eine Welt mit Anderen. Nach Arendts Überlegungen in ihrem Werk Vita Activa (2010) „erscheinen“ die Menschen einander durch ihre Worte und Taten. So entfaltet sich das menschliche Leben im „Beziehungsgewebe“ menschlicher Beziehungen. Hölle, sind nicht die Anderen, sondern das nicht Da-sein. Ein Dasein in der Welt stellt für Arendt eine zentrale Kategorie in ihrer Konzeption von Menschenrechte dar. Es kann nur ein einziges Menschenrecht geben. Nämlich das Recht, Rechte zu haben.
Für viele Flüchtlinge kommt es gar nicht so weit. Viele geben ihr Leben, weil sie leben wollten. Sie versinken, ertrinken im Mittelmeer. Laut UNHCR waren es 2011 allein über 1.500 tote Flüchtlinge, die Dunkelziffer liegt weit höher. Das Mittelmeer ist der Massenfriedhof der Menschenrechte wie Heribert Prantl es einst treffend bezeichnet. Und in den letzten Tagen wurde binnen kurzer Zeit an den Bahnhöfen von Fulda, Kassel und Frankfurt über 60 Flüchtlinge aus Eritrea festgenommen. Sie waren ohne Papiere.
Sie, das könnte ich sein, meine Kusine, meine Eltern. Das Leid hat sich nicht verändert, aber die Gesetze sind schärfer. Ein Wunder, wer es schafft über die Wüste, Menschenhändler, Foltercamps oder das Mittelmeer. Es ist Spätsommer, da ist das Mittelmeer etwas ruhiger und die Flucht kann gelingen. Dass weiß auch die Bundes- und Grenzschutzpolizei. Hochsaison, die Jagd hat begonnen. In dieser Welt möchte niemand bloß Mensch sein.
Besonders schön auch immer der Narrativ, wonach „die Anderen“ ja alle herkommen wollen; dabei findet nur ein Bruchteil der globalem Migrationsbewegungen zwischen dem Süden und den Norden statt. Länder wie Pakistan/Iran, aber auch zahllose afrikanische Staaten nehmen weitaus mehr [Asylsuchende] auf als die EU mit ihren schicken Gesetzen und Menschenrechtsabkommen.
Sehr schöner und bewegender Text.
Er macht mich richtig wütend auf unsere Politiker und (einige) Bürger.
Ich habe großen Respekt vor den Helfern, die den Flüchtlingen in Duisburg und Berlin und auch anderswo beistehen.
Danke für den Text.
@all: Danke für Euer Feedback! Ja, auch ich habe großen Respekt vor allen, die sich dem entgegenstellen, unterstützen, beschützen und solidarisch sind! In Marzahn-Hellersdorf, in den Peschen, aber auch an anderen Orten, in alltäglichen Situationen, die weniger an medialer Aufmerksamkeit erhalten.