Sich ein Bild von der Welt zu machen, kann bedeuten zu einer inneren Haltung, einer Meinung zu kommen. „Wie stehe ich eigentlich zu…?“, „Was halte ich eigentlich von…?“
Um sich selbst verorten zu können, brauchen manche Menschen mehr, manche weniger ganz aktive Besinnung darauf, worum es ihnen im Leben geht.
Ich wusste sehr lange nicht, ob ich überhaupt leben kann.
Weiterleben nach über 20 Jahren Gewalt – “Wozu denn? Vielleicht habe ich schon alles gesehen, gefühlt, gemacht, wozu ich überhaupt geboren wurde.”, habe ich gedacht.
Ich hatte keine eigenen Bilder vor Augen, die diese Gewalterfahrungen ausgeblendet haben. Damals habe ich das Haus nur verlassen, um zum Supermarkt oder zur Therapie zu gehen.
Als Übung sollte ich mal versuchen meine Wege zu erfassen. Was sehe ich eigentlich, wenn ich das Haus verlasse? Was gibt es zu sehen, zu hören, zu fühlen?
Diese Übung war für mich schwieriger als erwartet, weil ich nach dem Ablaufen, nie greifen konnte, was ich gesehen hatte. Ich spürte, dass ich mich auf diese Dinge konzentriert hatte, aber Worte oder Beschreibungen dafür waren so sehr weg, dass ich keine Erinnerungen daran konstruieren konnte, die ich hätte teilen können.
So fing ich an pro Weg 3 Fotos zu machen. Einfach nur „Kamera hoch“ und „klick“.
Ich hielt mich an der Herausforderung fest, mitzuteilen, was mir auf dem Weg lag und stellte sie neben meine Angst.
Beim Betrachten der ersten 3 Fotos hatte ich den Eindruck, dass irgendwas nicht stimmte. Mein Bild von der Szene war nicht so, wie sie die Kamera für mich machte. Ich sah Schrift, wo ich keine vor meinem inneren Auge hatte.
Meine Augenärztin teilte mir mit, dass mein linkes Auge mal verletzt gewesen sein muss.
Es ist blind.
Kurze Zeit später las ich einen Artikel, der sagte, dass Menschen, die mit Depressionen leben (eine der häufigsten Folgen von Gewalterfahrungen), meist einen Grauschleier auf Szenen wahrnehmen. Ich rutschte in eine Phase, in der ich dachte: “Ich werde mir dieses neue Leben und die Welt, wie sie heute ist, niemals ‚richtig‘ in den Kopf bringen können. Ich bin kaputt.”.
Und dann kam NakNak*.
Meine quirlige, weiche, flinke, neugierige, wache, liebevolle Hütehündin, die Spaziergänge bei jedem Wetter super findet und sich auf meinen Fuß setzt, wenn ich Angst bekomme. Sie hat meine Welt erweitert und ist Teil des Welt-Bildes geworden, das ich mir zu erschaffen versuchte.
Ich begann sie zu fotografieren.
Makroaufnahmen ihrer Pfoten, ihrer Krallen, ihrer Zunge, den kleinen Fisselhaaren um ihre Ohren herum, entstanden.
Ich machte Aufnahmen der Fellwollmäuse, die nun über das Laminat meiner Wohnung glitten und machte Photoshopkunst aus dem Muster, das ihre Sabberflecken auf den Ärmeln meiner Jacke hinterließen. Ihr Futter, ihr Spielzeug, meine Schuhe mit Schlammpanzer um die Sohle.
Die Kamera wurde mein drittes Auge.
Sie ist nie ein Ersatz für mein blindes Auge geworden, oder die Steigerung meines anderen. Sie war und ist für mich nur das Auge, das auf eine Art sehen kann, wie es meine nicht (mehr) können.
Später zog ich von der Stadt an den Stadtrand und hatte ein Naherholungsgebiet mit Naturschutzzonen in der Nähe.
Meine Angst auf einem Weg auch mal stehen zu bleiben und mich dem, was um mich herum passiert ganz bewusst zu widmen, ebbte langsam ab.
Nach und nach kamen die Worte als Erinnerungskonstruktionshilfe in mein kleines Selbst-Wahrnehmungsuniversum. Und ganz nebenbei, ganz zart und langsam, bemerkte ich, wo ich mich eigentlich verorte, wenn es um die Natur, das Leben, mein Sein im Heute geht.
Ich befinde mich heute auch in den Zeitzonen “Morgenlicht, Mittagssonne,Abendlicht”. In den Überlegungen, welche Tiere, wo und wann Brut- Brunft-Setz-Zeit haben. Wann eine Witterung welche Kleidung und Ausstattung nötig machen könnte.
Irgendwann wurde mir bewusst, dass ich anfing mir zu wünschen, die Dinge, die da sind, aus verschiedenen Winkeln zu betrachten. Die Kamera mal nicht mehr einfach draufzuhalten, sondern sie mal ganz runter auf den Boden zu stellen, mal ganz hoch über meinen Kopf zu heben, mal mit einem anderen Modus zu bedienen.
Mein Bewegungsradius hat sich unheimlich erweitert in den letzten 2 Jahren.
Ich habe inzwischen öfter Momente, in denen ich den Mut fühle, die Dinge, die ich fotografiere auch mit meinen anderen Sinnen zu erfassen. Ich fühle da in mir die Bereitschaft nicht nur mein „Anteil von der Welt-Sein“ zu erfassen, sondern auch Anteil an der Welt zu nehmen.
Was ich leider manchmal außerhalb von mir spüre ist, dass Fotografie von manchen Personen auf eine Art aufgeladen wird, die Machtgefälle aufmachen.
In Austauschforen werde ich belächelt, weil meine Kamera eine Vollautomatikkompaktkamera ist. Weil ich keine Motive konstruiere. Weil ich keine Wörter dafür habe, was ich da eigentlich tue. Für mich ist das Fotografieren nachwievor ein Klick vor etwas, von dem ich mir ein gutes Motiv verspreche – nicht das Produzieren von etwas, das ich einfange, um es zu besitzen.
Diese Aspekte von Besitz und Macht an Sichtbarkeit manipulieren zu können, begegnen mir immer wieder, wenn ich mit Menschen in Kontakt komme, die sich selbst “Fotografen” nennen.
”Fotografinnen” habe ich noch nicht viele getroffen – aber sehr viele Frauen*, die Fotos machen, um eben welche zu machen. Um sich zu verorten. Um sich zu erinnern, sich auszuprobieren, sich selbst zu bestätigen oder auch zu überprüfen.
Ich bewundere den Mut, auch sich selbst zu fotografieren, ganz besonders an Frauen*, weil es bis heute oft noch Männer* sind, die bestimmen, welche Bilder von Frauen zu sehen sein sollen. Welche Bilder von Frauenkörpern gut sind und welche schlecht. Es geht häufiger um die Präsentation, als um die Präsenz und das produziert eine Unsichtbarkeit, die mit keiner Kamera mehr erfasst werden kann.
Ich habe oft versucht mich zu fotografieren.
Ein Bild von mir zu machen, dass mich in dieser Welt, in diesem Leben zeigt.
Noch hat es nicht richtig geklappt.
Vielleicht, weil ich eben doch noch nicht alles gelebt, geschafft, gesehen und gefühlt habe, wozu ich eigentlich geboren wurde.
Der Text ist klasse, finde ich! Dass Du nicht so leichtfertig das perfekte Foto von Dir selbst knipst, finde ich nur zu nachvollziehbar. Bei mir hat es auch erst „klick“ gemacht, als ich in einem Film sah, wie ein Typ sich im Spiegel fotografierte. Das hab ich dann nachgemacht. Diese unsichtbare Barriere oder „Ebene dazwischen“ hat irgendwas bewirkt… PS: Kann mensch Deine Fotos irgendwo im Netz anschauen?
Hallo Lea
danke für das Lob :)
Ich habe ein Fotoblog (angucken.wordpress.com), wo ich in unregelmäßigen Abständen meine Fotos hochlade.
Viele Grüße!
Liebe Hannah,
vielen Dank für deinen wundervollen Text. Die Frage nach dem „wozu überhaupt weitermachen“ und das „alles-schon-gesehen-Gefühl“ kenne ich, und es ist tröstlich zu wissen, dass man manche Fragen doch nicht beantworten kann und vieles nicht kennt.
Liebe Grüße,
Pfauenauge
Toller Text, hab viele Dank dafür!
Sehr toll ge-be-schrieben. Deine Worte haben mich sehr berührt. Viele Grüße
Dankeschön. Perspektiven ändern… ob ich wohl auf Fotos festhalten könnte wie ich ohne Brille sehe? Ich bin sehr kurzsichtig (-7,5 und -9,75 Dioptrin). Ein Versuch wäre es wert. Vermutlich fänge ich im Bad an, denn das ist der einzige Ort, wo ich mal ohne bin.
Warum gibt es kein Fotograf(_)innenforum?