Rezension zu Regina Nössler: Endlich daheim
Berlin-Kreuzberg. Die dreizehnjährige Kim steht vor ihrem Hauseingang und muss feststellen: Ihr Schlüssel passt nicht mehr und das Klingelschild mit ihrem Namen ist verschwunden. Überhaupt stimmt keines der Klingelschilder mehr. „Endlich daheim“ von Regina Nössler erzählt Kims Odyssee durch Berlin, in der die akute Notsituation der Dreizehnjährigen ihre alltägliche Verlorenheit und Einsamkeit zu Tage fördert. Aber auch ungeahnte Verbündete betreten die Bühne.
Zum mystischen Verschwinden der Namensschilder gesellen sich weitere Hinweise darauf, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugeht: Kims verschwundene Mutter, ein Unfall im Innenhof des Hauses, ein rätselhafter Mann auf einem Dachboden. Der Erzählaufbau lädt zum Miträtseln ein, und bis zum Schluss bleibt völlig offen, wie all das zusammenhängt und ob überhaupt, ob kriminelle oder übersinnliche Kräfte am Werk sind – oder ob sich alles als völlig harmlos erweisen wird.
Nössler gelingt es auch dieses Mal wieder, einen originellen und spannungsreichen Krimi/Thriller zu schreiben, der mehr ist und mehr will als das. Während die Autorin in ihren beiden zuvor erschienenen Romanen (Auf engstem Raum; Wanderurlaub, Kurzrezension dazu) das Thema Arbeitsverhältnisse ‚mitlieferte‘, ist es diesmal: Dickenfeindlichkeit und generell ‚Andersein‘ und Diskriminierung – und daraus resultierende jugendliche Einsamkeit. Im Mittelpunkt steht Kim: Sie liebt Zahlen, ist stolz darauf, keine Heulsuse zu sein, sie denkt viel nach, und sie ist einsam. Von ihren MitschülerInnen wird sie gemobbt, weil sie bestimmten Schönheitsnormen nicht entspricht: Sie ist dick. Während sie durch verschiedene Viertel Berlins irrt, ängstlich, rastlos und allein, lernen die Leser_innen Kim kennen und die Beziehung zu ihrer Mutter, zu ihrer lesbischen Tante, zu ihrem Freund Peter, den es gar nicht gibt, und zu ihrer Freundin Merle, die eigentlich keine Freundin ist.
Eine wichtige Vertraute Kims ist Felicitas, ihre Tante: Lesbe und prekäre Künstlerin, frisch getrennt, in einer akuten Lebenskrise. Und dann wäre da noch Alex, der coole Typ aus der Schule, ein paar Jahre älter, der Schwarm ihrer Nicht-Freundin Merle. Ihm läuft Kim zufällig über den Weg, nachts im Park, wo sich Alex allein die Nächte um die Ohren schlägt. Alex ist schwul, unverstanden von seinem schulischen Umfeld. In ihm findet sie überraschend einen Verbündeten.
Im Laufe der Erzählung macht Kim die Erfahrung sexualisierter Gewalt. Die Angst vor weiteren Übergriffen begleitet sie durch die Berliner Nacht und macht sie Unbekannten gegenüber misstrauisch. Die Alltäglichkeit sexualisierter Gewalt und was das bedeutet für das Sich-im-Stadtraum-Bewegen, wird eindrücklich deutlich. Auf einen ermächtigenden Dreh warten die Leser_innen jedoch vergeblich. Was bleibt, ist Angst. Das mag dem Spannungsaufbau förderlich sein, politisch bleibt die ansonsten in vielerlei Hinsicht überzeugende Geschichte an dieser Stelle fragwürdig.
Warum muss es denn einen ermächtigenden Dreh geben? Literatur muss weder ideologische Ziele erfüllen, noch muss sie bestimmte therapeutische Wirkungen anstreben – so nett es für den Leser, die Leserin sein mag, wenn das passiert, ist es doch kein Planziel für Autoren.
Hallo Susann,
danke für deinen Kommentar.
Du hast einerseits recht – einen solchen Dreh muss es nicht geben und der Verzicht darauf kann durchaus gewollt sein. Da ich Bücher, die das hergeben, andererseits aber auch politisch rezensiere – und das habe ich in dem Fall getan -, finde ich die Frage, was mit der Adressierung von sexualisierter Gewalt passiert bzw. was das auslöst, was hängenbleibt, dennoch wichtig.
Wie solche politisch-inhaltlichen Fragen in der Rezension belletristischer Bücher gut umgesetzt werden können, ist eine schwierige Frage, die sich für mich immer wieder neu stellt …
Ich finde die Frage ganz spannend. Was muss/ soll Literatur? Wenn ich Literatur lese und bewerte passiert das nun einmal in einem ebenso wenig leeren Raum wie dem, in dem Literatur entsteht. Wir leben beispielsweise in Gesellschaften, in denen es dominante Erzählweisen zu sexualisierter Gewalt, dem Erfahren jener und den Folgen gibt. Für mich ist das tolle an Literatur gerade, dass sie einen Raum schaffen kann, der sich öffnet für unterschiedliche denkbare Dinge, wo Verhandlungen stattfinden, Gegennarrative Platz finden, wo beispielsweise ermächtigende Momente hervorgehoben werden, die sonst ja auch häufig nicht viel vorkommen. Und ja, natürlich heißt das nicht, dass Literatur so ‚funktionieren‘ muss, oder das Autor_innen solche Momente als Ziel haben – aber es heißt auch nicht, dass ich Literatur nicht auch – unter anderem – daran messen darf.
@Julia: Wie immer danke für deine Rezension. Ich lese sie immer sehr gern!