Monica Lierhaus sagte in einem Interview, dass sie heute verschiedene Entscheidungen anders treffen würde, als vor ein paar Jahren noch. Wäre Frau Lierhaus nicht behindert, würde diese Aussage angehört und wieder vergessen.
Als Person aber, der eine Operation das Weiterleben ermöglichte und als Person, die in der Folge behindert ist, hat sie diese Entscheidung gefälligst nicht (öffentlich) zu bereuen und schon gar nicht hat sie ihr Leben danach als weniger lebenswert zu empfinden, weil das die Öffentlichkeitsarbeit anderer Behinderter untergräbt. So lese ich zumindest den Kommentar von Christiane Link in ihrem Blog. Frau Link schreibt, dass sie öfter hört, Menschen könnten oder wollten an ihrer Stelle nicht leben und setzt dies in einen, vielleicht richtigen, vielleicht aber doch auch unvollständigen Kontext mit Bewunderung.
Und ich stehe (mit anderen) neben diesem Disput und denke darüber nach, wann es denn erlaubt ist zu äußern, dass man sein Leben als behinderte Person nicht als lebenswert empfindet. Darf man es äußern, wenn man nicht prominent ist? Darf man es äußern, wenn ein kleiner tragbarer Motor das eigene Herz ersetzt und man jede Woche zur Dialyse muss? Oder wenn der fünfte Versuch einer Behandlung mit Psychopharmaka zu massiven körperlichen Veränderungen und emotionaler Schmalspur verholfen hat? Oder einfach nie, weil das Leben so unfassbar kostbar wichtig ist, dass es, ohne jede Reflektion, jeden Preis kosten darf – und muss und soll?
Darf ich, wenn ich äußere, dass ich mein Leben als nicht lebenswert empfinde noch bitte selbst definieren was “Leben” und was “Wert” für mich ist? Darf ich bitte über meine Er-Lebensrealität und ihre Bewortung noch selbst bestimmen und nicht andere Menschen? Darf in einer Zeitung auch mal eine beschissene Selbstansicht von Behinderten über sich selbst und ihr Leben stehen?
Warum ist es so wichtig, aus einer Behinderung etwas zu machen, was tragbar ist und, was das eigene Leben ja eigentlich nicht dann doch nicht behindert oder beeinflusst? Manchmal ist sie das eben nicht. Manche Barrieren und (Vor-) Urteile in Bezug auf das Leben mit Behinderungen gibt es auch im Kopf der Behinderten selbst und Interviews, wie das von Frau Lierhaus und auch der Text von Frau Link – genau wie meiner hier – tragen dazu bei, sie sichtbar zu machen.
Ich habe die abfällige Bezeichung “die Sonnenscheinbehinderten” für Menschen, die sich öffentlich ausschließlich so äußern, als wäre ihre Behinderung bzw. ihre chronische Erkrankung eigentlich gar nicht so schlimm. Und eigentlich auch gar kein Problem. Nie und nirgends und wenn doch: nicht lange und schon gar nicht unaushaltbar. Für mich ist es so, dass ich mir an der Stelle denke: “Ah, okay cool – schön für diese Personen. Schade, dass ich es nicht auch so einstufen/erleben kann.”. Was in etwa der gleiche Gedanke ist, wie ich ihn habe, wenn ich von hochbegabten Kindern in umfänglichen Förderprogrammen höre; von traumatisierten Menschen erfahre, die austherapiert mit ihrer selbstgegründeten Familie und halbwegs gesichertem Leben in den Sonnenuntergang schauen und von Menschen, die ihre Depressionen mit einer Tablette täglich als erträglich empfinden können.
Ich frage mich, was an mir falsch ist, dass ich nichts davon auch habe. Nicht mal nah dran bin. Ich frage mich, was ich übersehe, welche Energie ich wo falsch hinpumpe, dass ich das nicht habe. Ich schaue in unsere Gesellschaft und frage mich, was läuft da falsch, dass ich mich nicht glücklich optimieren kann– wo ist denn dieser verdammte Sonnenschein, der andere Behinderte in die Fernsehkamera lächeln lässt?!
Und was genau ist eigentlich der Lebenswert von dem da dauernd gesprochen wird? Wenn Leben so preislos anzunehmen ist – braucht es dann noch eine zusätzliche Aufladung mit Wert? Steht Leben dann nicht eigentlich absolut darüber und sollte gar nicht erst in einer Wortkombination mit “wert” erscheinen?
Mein Leben ist nicht wertvoll für mich und das habe ich schon im Alter von 9 Jahren verstanden. Man kann mich im Kopf erneut zum Opfer von Gewalt machen und sagen, in meinem Lebensumfeld hätte ich ja auch keinen Anlass gehabt davon auszugehen, dass das anders ist. Man kann mir aber auch glauben, dass ich durchaus auch von Menschen umgeben war, die mir vermittelt haben, dass es okay ist, dass es mich gibt.
Man darf mir auch zuhören und verstehen, dass es nicht andere Menschen sind, die mir definieren, was mir mein Leben wertvoll oder auch “lebenswert” macht.
Leben ist einfach, für mich. Leben will nichts und Leben braucht nichts. Es ist einfach nur da. Und, ob man sich damit verbindet oder nicht und wie man es für sich be_wert_et oder füllt, liegt an den Personen selbst und dem Umfeld, in dem sie leben.
Für den Lauf der Dinge (das Leben) ist es irrelevant, ob es mich gibt oder nicht.
Ich sehe mein Er-Leben nicht als wertvoll geschätzt für diese Gesellschaft. Ich werde als Person genauso weder gewollt noch gebraucht, wie ich einfach mit Lebensbewertungs-und –dankbarkeitszwang überfordert werde. Ich bereue keinen einzigen meiner Suizidversuche, weil ich keine Schuld empfinde, etwas von mir zu nehmen, um das ich nicht gebeten habe. Ich bewerte Dinge und Prozesse, die sind, nicht. Entsprechend ist mein Leben für mich auch nicht lebens_wert, sondern lebbar, genau wie es nicht lebbar ist. Diese Einordnung und ihre Definition, erlebe ich auch als Teil meines Lebens und meines Entwicklungsprozesses. Als etwas, was der Umstand zu leben eben auch impliziert.
Am Leben zu sein, bedeutet von einer Option definiert zu sein, die als einzige wirklich bedingungslos ist und in ihrer Entstehung unbeeinflussbar war. Niemand kann etwas dafür geboren worden zu sein. Niemand kann sich dafür entscheiden geboren zu werden oder eben nicht. Aber jede Person kann sich entscheiden, ob sie am Leben bleiben will oder nicht und wenn ja, wie sie das für sich bewertet.
Ich verstehe, dass es anstrengend und nervig ist, Menschen zu sagen, dass man das eigene Leben mit einer Behinderung nicht als Last oder Leidensquelle empfindet. Doch meine Last daran, Menschen immer wieder klar machen zu müssen, dass es mir trotz viel psychiatrischer und psychotherapeutischer Hilfen und trotz viel beachtetem Potenzial in mir, eine Leidensquelle ist, eben doch nicht zu sein (und niemals werden zu können), wie Menschen, die diese Hilfen nicht brauchen um ihre Verbindung mit dem Leben auszuhalten und damit umzugehen, die wird genau in dem Moment ausgeblendet und zum Bedrohungsfaktor erklärt, wenn der Anspruch an alle heißt, niemals zu äußern, dass man sein Leben als nicht lebenswert empfindet.
Was ist das für ein mieser Schuldspruch, bei einer gesellschaftlichen und juristischen Sachlage, wie der, die wir aktuell in Deutschland und im Rest der Welt vorfinden? Was ist das für ein Anspruch auch an die Behinderten selbst, die jeden Unterstützungs- und Hilfebedarf über Nichtbehinderte definiert erfahren und daran nie eine Kritik äußern können, ohne ein bestimmtes (überlebenswichtiges) Anpassungslevel zu verlassen?
Wenn es heute noch Meinungen gibt, die besagen, das Leben von Behinderten wäre eine Last oder Behinderte sollten besser nicht leben, dann gibt es diese Meinungen zu allerletzt, weil Behinderte sich öffentlich zu ihrer Er-Lebensrealität äußern. Menschen mit Behinderungen werden gehasst, ausgegrenzt, verachtet und zur Belastung erklärt, weil man es kann. Weil es dafür gesellschaftliche, wie bürokratische Strukturen und kulturelle Praxen gibt. Um daran etwas zu ändern, braucht es Sichtbarkeit. Braucht es Ehrlichkeit. Braucht es Verstehen und Annahme von Unterschiedlichkeit.
Auch dann, wenn es anstrengend wird und eben nicht mehr nur der unproblematische Sonnenschein betont werden kann, der denen, die sich autark so weit selbst optimieren können, dass sie sich zur Norm erheben können, vermittelt es gäbe keine Unterschiede, wo doch permanent welche gemacht werden (müssen).
danke
Ganz, ganz herzlichen Dank für diese Gedanken. Dein Beitrag spricht mir sehr aus der Seele. Ich hasse dieses „Das-Leben-ist-das-wunderbarste-Geschenk“-Gequatsche, denn jedesmal wird mir damit vermittelt, dass ich nicht „richtig empfinde“, dass mein Er-Leben falsch ist, weil ich es einfach anders sehe. Das gibt mir noch mehr das Gefühl, mit dem Ganzen nicht in Verbindung zu stehen…
Hallo,
vielen Dank für diesen Artikel. Ich bin selbst ein Mensch mit Behinderung und empfinde mein Leben oft nicht als Lebenswert und es gibt Phasen, in denen ich mein Leben nur fortsetze, damit meine Angehörigen sich nicht mit meinem Verlust auseinander setzen müssen.
Mein persönliches Problem ist, dass man mir meine Behinderung nicht ansieht und ich als weiß und cismännlich gelesen werde und damit in einer derart privilegierten Position verortet werde, die Leiderfahrungen und nicht sichtbare Behinderungen vermeintlich unmöglich sein lässt. Oft habe ich das Gefühl, dass es mir nicht zusteht, mich schlecht zu fühlen.
Und wenn dann aus meinem Mund kommt, dass ich nicht jedes Leben für gleichwertig und gleichermaßen lebenswert halte, dann schlägt mir schnell Hass entgegen. Dabei ist es meine persönliche Meinung, mein persönliches Erleben, meine persönlichen Erfahrungen. Ich möchte oft nicht ich sein. Mein Leben belastet und überfordert mich. Ich nehme mein Leben weniger lebenswert wahr als zum Beispiel das meines Bruders, der nicht behindert ist. Es gibt Momente, da wünsche ich mir, nie geboren worden zu sein. Und es gibt Momente, in denen ich gut mit mir und meinem Leben zurecht komme.
Dieser unmenschliche Anspruch an Menschen mit Behinderung, das Leben immer und bedingslos zu bejahen, ist grausam. Dass dies im Artikel so klar formuliert wurde, hat viel in mir ausgelöst. Vielen Dank!
Hallo,
ich habe den Beitrag mit Interesse gelesen, möchte ihn aber nicht kommentieren (ich bin nicht in der Lebenslage der Schreibenden).
Etwas aber wollte ich kommentieren – Du schreibst „Wenn es heute noch Meinungen gibt, die besagen, das Leben von Behinderten wäre eine Last oder Behinderte sollten besser nicht leben, dann gibt es diese Meinungen zu allerletzt, weil Behinderte sich öffentlich zu ihrer Er-Lebensrealität äußern.“ Das hört sich wahrscheinlich an. Ich war allerdings in meiner Schwangerschaft in der Situation, dass es an meinem Kind sog. „Auffälligkeiten“ zu sehen gab. (Ich habe den Fehler gemacht, verschiedene Untersuchungen zuzulassen). Ich wurde massiv unter Druck gesetzt, das Kind abzutreiben. Oft auch mit den Argumenten „so ein behinderter Mensch hat doch immer ein Sch…Leben, dem Kind wird es nie gut gehen“. Für solche Leute (Ärzt_innen, Väter, Großeltern…) sind solche Aussagen ein beliebtes Argument, um Schwangere zu plagen. Das nur als Anmerkung.
Ich kann mir gut vorstellen, dass Menschenverachtung gegenüber Behinderten gerne in solchen „Argumenten“ daher kommen: „Du tust dem Kind keinen Gefallen…“; „Das Leben des Kindes wird die Hölle…“ ; „Was willst du an dir retten, indem du ein kind auf die Welt bringst, dass schwer krank/behindert/sterbenskrank/stark eingeschränkt… ist“.
Das sind aber keine Argumente – das ist Hass, Anmaßung, G’tt spielen und viel zu kurz gegriffen. Wer sagt, ob ein nichtbehindertes Kind sein Leben später lebenswert findet? Wer sagt, ob das Kind – auch wenn es behindert ist – sich überhaupt je die Frage stellt, ob sein Leben lebenswert ist, oder nicht?
Es gibt soviel, was wir nicht über die Leben anderer wissen.
Ich finde es nicht richtig, Schweigen und Verschönern zur Prophylaxe zu erheben, statt Aufklärung und die Enttarnung von Gewaltstruktruen (zB in der Geburtsmedizin etc) voran zu treiben.
Danke, danke für all die Gedanken. Für den Moment hat das viel mit mir gemacht :)
Kleiner aber wichtiger TIppfehler: „und das habe ich auch 9 Jahren verstanden“ – das könnte sowohl „mit“ als auch „vor“ heissen und ist zwar nicht 100% relevant aber dem Verständnis dann doch recht zuträglich :)
Ansonsten toller Text.
ist geändert – danke
Danke – wunderbar in Worte gefasst! Und ich finde mich darin wieder.