Von Freitag bis Samstag hatte das Gunda-Werner-Institut zusammen mit dem Forum Männer zu einer Tagung geladen, die sich mit dem Thema „Arme Jungen“ beschäftigte. Ich hatte das Glück, einige Zeit an dieser Tagung teilnehmen zu können und habe viele neue Impulse mitgenommen, aber auch viele Vermutungen bestätigt bekommen.
Den Einstieg machte Prof. Dr. Böhnisch, der an der Uni Dresden Sozialpädagogik und Sozialisation der Lebensalter lehrt. Sein Vortrag sollte als Einstieh in alle sich darbietende Themen dienen und trug den Titel: „Jungen – eine Katastrophe?“. Leider konnte ich nicht persönlich an diesem Vortrag teilnehmen, jedoch sind seine Kernthesen in der Tagungsmappe zusammengefasst und lassen sich kurz so umreißen:
Es gibt im Leben von Jungen verschiedene „Bewältigungsfallen“, die jeweils bestimmte Gefahren, aber auch Chancen und Angriffspunkte für einen neuen Umgang bergen. Dazu zählen nach Böhnisch die
- Frühkindliche Identitätsfalle, die mit einem strukturellem Zwang zur Ablösung von der Mutter und einer starken Suche nach männlichen Identitätsvorbildern einhergeht
- Sexistische Falle, die sich in starker Ablehung von gleichaltrigen Mädchen im Alter von 10-12 Jahren äußert
- Peer-Falle, die hegemoniale Männlichkeiten idolisieren und ein „Homosexualitäts-„ bzw. „Weiblichkeitstabu“ erschaffen können und die
- Übergangsfalle, die an allen Übergangen in Arbeit und Beruf, aber auch schon in schulischen Übergängen auftritt und mit erheblichen Identitätskrisen verbunden sein kann
Als Herausforderungen für die Gesellschaft nennt Böhnisch den
- Männerlosen Kindergarten, die
- Konsequenzen für die Schulpolitik und
- Beschäftigungs- und familienpolitische Perspektiven
Ein guter Rundumschlag also. Wie ich aufgrund von immer wieder auftretenden Rückgriffen auf Böhnischs Vortrag im Laufe der Debatte vermute, ein äußerst kontroverser und spitzzüngiger Vortrag.
Der zweite Vortrag wurde von Professor Dr. Sielert gehalten, der Sozialpädagogik in Kiel lehrt. Er beschäftigte sich mit dem Thema Jungenarbeit und welche Stellung und Probleme diese in Deutschland hat. Sielert hat das Praxishandbuch Jungenarbeit geschrieben und vertritt eine sehr offene und nicht einschränkende Position (wie er sie zum Beispiel Teilen des Feminismus zuschreibt); seine Sichtweise beinhaltet:
- Die Wahrnehmung von Jungen als vielfältig und das Absetzen der „Defizitbrille“
- Das Vermeiden einer festschreibenden Identitätspolitik – statt dessen das Ermuntern von neuen Perspektiven in den Jungen und eine Ermunterung zum Anderssein
- Pädagogische Konzepte aus Erfahrungen heraus entwerfen, nicht aus theoretischen Konstrukten
- Verschiedene Männlichkeiten als „Anregungsreservoire“ für Jungen zuzulassen
All diese Punkte fasste er schon 1996 im FORUM Sexualaufklärung 2/3 als „mit kritischem Bewusstsein zunächst dort Fuß fassen, wo wir momentan stehen“ zusammen. Damit ist er fast schon „Bremser“ in Bezug auf die Forderungen nach neuen Männlichkeiten; er möchte die Entwicklung von Männern in deren Hand legen, ihnen Perspektiven eröffnen, ihnen aber keine Identifikationsrollen aufdrücken. Mitte der 90er hatte Reinhold Munding genau diese Situation aber in der Jungenarbeit vorgefunden: Sie war von Oben verordnet und die Pädagogen taten sich schwer, sie umzusetzen. Hinzu kam das Problem, dass der Leidensdruck bei den Jungen und Männern noch nicht groß genug war und dass nur Vereinzelte diese Arbeit betrieben, es keine Lobby gab, wie sie zum Beispiel die Frauen haben. Ein weiterer wichtiger Punkt war damals – und ist es meines erachtens auch heute noch – dass die große Angst vor einer Stigmatisierung bestand, Jungenarbeit musste sich oft davon distanzieren, „schwul“ zu sein.
Kurz Zusammengefasst sieht Sielert als Hauptaufgabe der Jungenarbeit die Erweiterung von Handlungsoptionen. Das kann auf der einen Seite eine Lösung von der Fixierung auf Erfolg, Mut und Kraft bedeuten und eine Hinwendung zu Emotionen, Gefühlen und sozialen Beziehungen; ebenso sollte und kann es aber bedeuten, dass stillen und ruhigen Jungen ein Zugang zu Aggressivität ermöglicht wird. Dazu schilderte er einige recht interessante didaktische Methoden, die ihm in der Jungenarbeit begegnet sind, diese detailiert aufzuzählen würde nun aber den Rahmen sprengen. Als Schlusspunkt hielt Sielert die These fest, dass Jungen kein Bedürfnis haben, sich männlich zu identifizieren, sondern dass dies von ihnen verlangt wird.
Am Abend besuchte ich dann den Workshop „Gender Loops“, der von Jens Krabel und Michael Cremers geleitet wurde, die beide gemeinsam das Projekt „Gender Loops“ ins Leben gerufen haben. Im Rahmen des Projektes wurde beispielsweise auch das „Praxisbuch für eine geschlechterbewusste und –gerechte Kindertageseinrichtung“ entworfen. „Gender Loops“ ist also ein Projekt, das vor allem in der Praxis dem Erziehungspersonal Methoden und Anregungen an die Hand geben möchte. Entstanden ist das Projekt aus dem Berliner Verein „Dissens“. Leider konnte ich den Workshop nicht bis zum Ende besuchen, dennoch war er eine sehr gute Anregung und hat mich neugierig auf diese verschiedenen Projekte der Jungenarbeit gemacht.
Am Ende der Tagung stand eine Diskussionrunde mit Wissenschaft, Politik und Jungenarbeit in der Praxis. Hier stritten u.a. Jan Heitmann von der Dokumentationsstelle Jungenarbeit, Prof. Harry Friebel von der Universität Hamburg und Kai Gehring (MdB) über die Folgen von „Counter-Strike“ für Jungenbiografien, über den Sinn oder Unsinn der beiden Vätermonate und die positive oder negative Rolle der Bundesfamilienministerin von der Leyen. Irgendwann drehte sich die gesamte Diskussion nur noch um Schule, um Schulerfolg und – misserfolg. Es wurde auch schnell klar, dass Bildung und Erziehung eine Schlüsselrolle in der Gesamtdebatte einnehmen und viele Ansatzpunkte bieten.
Insgesamt eine sehr runde Tagung, wenngleich ich aufgrund von Kinderbetreuungspflichten nicht an allen Tagesordnungspunkten teilnehmen konnte. Die aufgeführten Links bieten eine Menge Stoff an weiterführenden Informationen und ich hoffe, dass das Thema Jungen auch in den höheren politischen Etagen zukünftig mehr Aufmerksamkeit bekommt und endlich auch einmal konsequente Taten folgen. Nötig ist es, das steht fest.
Hallo Katrin,
interessanter Artikel. Wurde die These „Jungen haben kein Bedürfnis, sich männlich zu identifizieren“ wirklich so gesagt? Einfach, weil ich das für eine sehr pauschale These halte (immerhin gibt es auch mit weiblichen Genitalien geborene Menschen, die sich ein Bedürfnis haben, sich männlich zu identifizieren …)
Meine Befürchtung ist, dass mit neuen Freiheiten für „Männlichkeiten“ ältere Modelle grundlos abgewertet werden könnten. Einen Satz wie „Jungs dürfen Jungs sein, müssen sie aber nicht“ würde ich gerne mal aus der Ecke hören; gibt es da solche Leute, die auch Einfluss haben? (Disclaimer: Ich habe immer noch den Satz in den Ohren, dass das Ziel von Dissens sei, die männliche Identität von Jungs zu zerstören. Ist der noch aktuell?)
oh mann, das ist ein Gerücht über Dissens, das diese so ganz und gar nicht verfolgen, was auch auf der Tagung immer wieder gesagt wurde…
Katrin, ja, danke für den Bericht.
Diesen Dissens-Verein und seine „dekonstruktive“ Identitätsarbeit sehe ich eher kritisch. Das ist eine sehr schwierige Angelegenheit, bei der man gerade in der identitätsprägenden Phase extrem vorsichtig sein sollte – die habe da manchmal den Eindruck, daß soziologische Konzepte ohne Rücksicht auf Individuen und ihre Lebenslage angewandt werden sollen.
http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,457053,00.html
Die Artikel mögen tendenziös sein, aber das sollte die Probleme nicht überdecken. Selbstkritisch ist man bei Dissens ja nur bedingt, aber immerhin – Die Reaktion, die sich in weiten Teilen auf einen Artikel von Heide Östreich aus der taz stützt –
http://www.dissens.de/de/press/spiegel070114.php
„Als Schlusspunkt hielt Sielert die These fest, dass Jungen kein Bedürfnis haben, sich männlich zu identifizieren, sondern dass dies von ihnen verlangt wird.“
Ich denke, das ist bei allen „Sozialisierungen“ so. Niemand sucht sich das aus, es passiert eben. Auch „verlangen“ ist ein eher schwammiger, unklarer Begriff in diesem Zusammenhang.
Ich sehe auch ein Problem darin, daß die ganzen soziologischen Ansätze Fragen der sexuellen Anziehung der Geschlechter weitgehend ausblenden – der wesentliche Grund für Männer, sich „männlich“ zu identifizieren, liegt doch darin, daß Frauen sich „weiblich“ identifzieren und diese Differenz eben einen nicht unwesentlichen Beitrag zur sexuellen Anziehung zwischen den Geschlechtern beiträgt. Das mag leicht klischeehaft klingen, aber letztlich bin ich der Meinung, daß es stimmt: Männlichkeit und Weiblichkeit stehen in einem ständigen Spannungsverhältnis und definieren sich gegenseitig. Wenn sich das Verständnis von Weiblichkeit verändert, verändert sich notwendigerweise auch das Verständnis von Männlichkeit und andersherum.
Ich verstehe einfach nicht, warum dieser Aspekt von Soziologen so weitgehend ignoriert wird.
Ich verstehe einfach nicht, warum dieser Aspekt von Soziologen so weitgehend ignoriert wird.
Vielleicht weil die geschlechtstypische Sozialisation bereits weit vor der Pubertät beginnt und daher die unmittelbare sexuelle Anziehung zwischen den Geschlechtern hierbei gar nicht relevant ist?
Möglicherweise ist es aber ein mittelbarer Effekt, also eine Art fest verdrahtete Vorstufe der Pubertät. Dies würde auch ein Phänomen erklären, das im Bericht ein wenig unglücklich so beschrieben ist:
Sexistische Falle, die sich in starker Ablehung von gleichaltrigen Mädchen im Alter von 10-12 Jahren äußert
Zu beobachten ist statistisch relevant, das in dem Lebensabschnitt eine ziemlich deutliche Abgrenzung/Ausgrenzung entlang der Geschlechtergrenze erfolgt.
Also Jungen und Mädchen, die im Alter von 5 noch miteinander im Sandkasten gespielt haben nun „plötzlich“ voneinander nichts mehr wissen wollen („Jungs sind doof“, „Mädchen sind doof“)
Möglicherweise eine sinnvolle Abgrenzung, sich zuerst voneinander entfernen um sich dann mit der Pubertät auf einem anderen Level wieder zusammenzufinden?
Muss mal suchen, ob es hierzu Forschungsberichte gibt…
Okay, in der von jj verlinkten Stellungnahme stand drin, dass man sich vom „theoretisch prägnanten Terminus „Zerstörung von Identitäten““ verabschiedet hat. Sie meinten damit anscheinend etwas anderes, als es der „Durchschnittsmann“ verstand, aber der Verein hat diesen Begriff verwendet, ebenso wie die Aussage, dass das Ziel nicht der „andere Junge“, sondern „gar kein Junge“ sei.
Egal, was man damit konkret meint, solche Sätze zu bringen erzeugt Misstrauen.
was hat es mit der ‚Auswirkung von „Counterstrike“ auf Jungenbiographien‘ auf sich?! Haben sie da ihre Killerspiel-Diskussions-Cuekarten zweitverwertet oder so?
@hn: Der Gebrauch dieser und anderer Medien steht im Zusammenhang mit dem schulischen Leistungsabfall der Jungen.
Was mir gerade durch den Kopf geistert:
Jungenpädagogik: Männliche Identität ist Kokolores.
Transgender: Auch ein Mensch mit zwei X-Chromosomen und Vagina kann eine männliche Identität haben.
Ich sehe da einen Widerspruch zwischen diesen beiden Positionen und ein allgemeines Problem für gewisse Gendertheorien: Wenn die Geschlechtsidentität nur konstruiert ist und diese Konstruktion anhand der Geschlechtsteile vollzogen wird, wie kann dann bei jemandem aus Versehen die „falsche“ Geschlechtsidentität konstruiert worden sein?
Wo ist mein Denkfehler (sofern da ein Denkfehler ist)?
Der Denkfehler ist, dass „männliche Identität“ und „hegemoniale Männlichkeit“ nicht dasselbe sind.
flawed: genauso ist es, das bringt das auf den Punkt. Danke.
Die Identität von Jungen soll also im Kontext der von Gramsci formulierten und von Cornell auf die Geschlechter übertragenen kulturellen Hegemonie betrachtet und verändert werden.