Vergangenen Sonntag war Europawahl. Zeitgleich fanden in Bremen Wahlen zur Bürgerschaft statt sowie in neun weiteren Bundesländern Kommunalwahlen. Bis auf Berlin waren alle Ost-Bundesländer vertreten. Die Gewinner der Wahl zum EU-Parlament sind aus deutscher Sicht die Grünen (+10 Sitze mehr), die AfD (+4) und die FDP (+3). SPD, CDU und Linke haben Sitze verloren. Während die CDU fast überall Stimmen abgeben musste, konnte die CSU sogar zulegen und so bleibt die Union bis auf wenige Ausnahmen die bestimmende Schlandpartei. Die mitunter noch vorläufigen Ergebnisse der Kommunalwahlen lesen sich ähnlich, auch wenn hier regionale Unterschiede noch stärker in Erscheinung treten. Und um die soll es im Folgenden gehen.
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Wer das Pech hatte, am Wahlwochenende doch auf Social Media abzuhängen, musste sich in linken, feministischen und diskriminierungskritischen Bubbles ziemlich viel weißes und ferner privilegiertes Wessi-Gelaber freudiger Grünen-Wähler_innen und Wessikids ohne dezidierten Fahnenschwenk reinziehen. Westdeutsche Perspektiven zu Wahl, Wahlverhalten und zur politischen Gesamtsituation in Schland und EU sind ja immer die dominanten, von daher no surprise for me. Angesichts der ernüchternden Wahlergebnisse, die nicht auf eine linke Wende oder wenigstens linken Schimmer hoffen lassen (eine gesamtdeutsche Leistung, herzlichen Glückwunsch), sondern faschistische Zukunft anreißen, muss ich mich trotzdem fragen: Was bitte gibt’s zu feiern? Drei typisch westdeutsche Aussagen zum Wahlwochenende bringen vielleicht Aufklärung…
„Außer Grün ist keine andere Partei wählbar / Die Linken sind wegen Sahra Wagenknecht unwählbar“
Nun gut, mensch kann natürlich so tun, als gehöre er_sie auf jeden Fall immer zur Minderheit der Wähler_innenschaft, die ihr Kreuzchen nicht nach Weltanschauung, politischer Überzeugung, war schon immer so, soll auch weiter so oder Gefühl setzt, sondern nach dem rational choice Prinzip. Dann sollte mensch aber auch den Weitblick besitzen, nicht nur ins aktuelle Wahl- oder Parteiprogramm zu schauen, sondern auch jene Phasen kritisch unter die Lupe nehmen, in denen die Wunschpartei Regierungsverantwortung trug / trägt. Denn in solchen Phasen zeigt sich, ob die Programme halten, was sie versprechen. Die Rot-Grüne Bundesregierung 1998-2005 dürfte vielen im Gedächtnis sein: Beteiligung an Angriffskriegen im Kosovo und in Afghanistan, mit der Agenda 2010 und der Einführung von HartzIV die endgültige Abkehr vom Sozialstaat auch für weiße Deutsche, um mal zwei prominente Beispiele herauszugreifen. Für die meisten Ossis, die vom großen Wendefeier-Kuchen wenig abbekommen hatten bisher, war HartzIV ein Genickbruch. In Ostdeutschland lebt mittlerweile schon die zweite Nachwende-Generation in Armut und/oder prekär, auch wegen Agenda 2010.
Wer das nicht versteht, weil seine_ihre Eltern im Westen nie von HartzIV betroffen oder bedroht waren oder aktuell in Berlin, Weimar, Leipzig, Dresden, Rostock, Halle, Potsdam oder Jena sprich: auf den urbanen Ost-Inseln studiert (im Osten ist’s halt auch so schön billig!), dem_der hilft vielleicht eine kurze Recherche zu schwarz-grünen Koalitionen auf Landesebene? z.B. unter Kramp-Karrenbauer im Saarland, unter Bouffier in Hessen, unter von Beust in Hamburg, mit Kretschmann und der CDU in BaWü, unter Haselhoff in Sachsen-Anhalt, unter Günther in Schleswig-Holstein. Wenn sich eine nationalistische und konservative Partei wie die CDU eine Koalition mit einer (vermeintlich links-)liberalen Partei vorstellen kann und die sich dann auch umgekehrt, was macht sie wählbarer aus linker, queer_feministischer Perspektive? Wenn eine Partei kriegerischen Handlungen zustimmt, keine Haltung zu Waffenexporten hat, ein EU-Militär aufbauen will, direkt Tag 1 nach der Wahl dem konservativen Kandidaten für die Kommissionspräsidentschaft ihre Zustimmung zusichert, Armut und Sozialabbau im eigenen Land befördert, was macht sie wählbarer aus linker, queer_feministischer Perspektive? Frage für eine verwirrte Ossitante (mich). Und: Wer auf Einzelpersonen abzielt, die eine Partei unwählbar machen, findet die Vollpfosten auch bei sich (z.B. Kretschmann, Palmer, Künast…)
„Ich wähle x, weil die Partei für y [also mich] das und das tut“ – Single Issue Wahlverhalten
Als gute_r Feminist_in sollte bei dieser Wortgruppe sofort Grande Dame Audre Lorde mahnend in die Gedanken springen. Ich kann natürlich meine persönliche Lebenssituation zur alleinigen Entscheidungsgrundlage machen (habe ich auch… 2009, als die Grünen das letzte Mal meine Stimme bekamen). Als studierte_r weiße_r Deutsche_r, die_r nicht in Armut aufgewachsen ist und/oder lebt und uns dementsprechend viel ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital aus dem Arsch scheint, ist solch eine Wahlentscheidung in Zeiten wie diesen dann doch etwas gewagt. Eine Reclaim-Heimat-Partei wählen, nur weil sie bei ausgesuchten, mir nahestehenden Themen lauter ist als andere und mehr öffentliche Aufmerksamkeit insgesamt erfährt, weil sie sich nicht mit anti-linken und anti-kommunistischen Ressentiments von allen deutschen Seiten herumschlagen muss, well…
Wer Fragen um Antidiskriminierung und globale Ressourcen- und Klimagerechtigkeit nicht dezidiert antikapitalistisch und antirassistisch denkt und die eigene historische wie aktuelle Verantwortung darin klar benennt, betreibt Klientelpolitik für besser Gestellte und Gut Betuchte, die sich weder für ihre luxussanierte Altbauwohnung im grünen Kiez noch für ihre Flugkilometer schämen wollen. Oder für Waffenexporte und EU-Militarismus. Dass in dieser Klientel queere Personen die Ausnahme sind, fast schon geschenkt!
„Alles Nazis im Osten!“ [außer die Grünen-Wähler_innen, zynische Anm. d. Red.]
Der Osten wählt im Großen und Ganzen rechtsextrem, die AfD hat die Linkspartei als CDU-/SPD-Alternative für die meisten Ossis endgültig abgelöst. Die Landtagswahlen in Thüringen, Brandenburg und Sachsen in diesem Jahr werden wohl ähnlich gruselig verlaufen. Da muss mensch sich auch nicht auf den urbanen Ost-Inseln ausruhen, wo es ein Mühchen weniger schlimm ist als auf dem Land. Richtig ist, dass mensch sich neben der AfD in Kreis- und Städtetagen, schon mal auf eine Landesregierung unter AfD-Beteiligung einstellen kann, sobald die Ost-CDU nach 30 Jahren lechts-rinks auf „Neues Spiel starten“ klickt. Aber auch ohne AfD im Kabinett geht’s im Osten fröhlich braun zu. Kleinere Parteien wie der III. Weg fühlen sich pudelwohl in SA-Ästhetik und schützendes Polizeigeleit, bürgerliche Harmlos-Veranstaltungen wie #wirsindmehr werden beim sächsischen Landesamt für Verfassungsschutz als linksextrem geführt und einige Regionen sind noch gefährlicher als andere (jaaaa, Osterzgebirge, ich schaue auf dich!) Nur: DAS INTERESSIERT SONST HALT AUCH KEINE SAU! Außer in Extremfällen, wenn mal was im Fernsehen läuft. Wessi-Bratzen ist der Osten scheiß egal. Alles Nazis hier! Mauer wieder hoch! Das proletige und jammernde Dumm-Volk abschieben! (Jaaaaa, stimmt, der Dude mit Hut und Recht am eigenen Bild lief ja auch im Fernsehen). Schon länger nichts mehr über Pegida in der Süddeutschen gelesen? Sorry, die gibt’s noch.
Ich verstehe den Impuls unter uns weißen Deutschen mit Faschismushintergrund und Nazienkeln (ganz ohne Ost-West-Gefälle) einen Schuldigen finden zu wollen. Irgendwo muss doch die Verantwortung hin! Passend dazu: Rassistische Strukturen, Lebensverhältnisse und Gedankenwelten sind neben Länder-, auch Sache des Bundes. Und nu sieh mal an, wieviele Wessis seit der Wende in den Kabinettssesseln Platz genommen haben. Weil gerade Wessis darauf bestehen, dass nach 89 nun wohl alles gesamtdeutsch sei (bis im Osten wieder einer braun wählt), sag ich mal so: Da kann sich jede_r ne Scheibe vom heimatlichen Bio-Schweinefleisch abschneiden. Oder sich z.B. auf tagesschau.de überzeugen, dass die blauen Kornblumen auch im Westen fast überall zugelegt haben. Einigkeit in Rechts ohne Freiheit.
Wenn mensch trotz schwerwiegender Vorgeschichte selbst kein Nazi ist oder menschenfeindliche Haltungen in sich trägt, ist es schwer zu begreifen, warum andere rechtsextrem, Nazis, gewaltbereite Rassisten usw sind und noch seltener, dass mensch sich ihnen jederzeit und mit allen Mitteln in den Weg stellen muss. Wenn man zur Westfraktion gehört, fällt einem auch nur „mehr Bildung“ als Antwort ein. Wenn mensch nie im Osten gelebt hat (nein, eine nette WG innerhalb des Berliner Rings zählt nicht dazu), denkt er_sie auch, dass der Osten verloren ist und wir nur auf eine nächste Generation hoffen können. Die nächste Generation? Nazis? Also ich weiß ja nicht, ob sich eure Probleme im Westen in Luft auflösen, wenn ihr lange genug aushaltet, aber meine Mutter hat immer gesagt: „Von nix kommt nix.“ Oder halt Nazis.
Wenn mensch nie im Osten gelebt hat, fallen einer_m bei der Analyse ausschließlich halbausgegorene Gedanken zur Nachwendezeit und Rostock-Lichtenhagen oder Hoyerswerda ein („Treuhandgesellschaften“ einwerfen für das Bienchen), die man zuvor in der Süddeutschen in einer Reportage über Pegida gelesen hatte. Warum im Osten die AfD dominiert, versteht man erst, wenn mensch sich tatsächlich für die Verhältnisse hier interessieren würde. Und hoffentlich auch daran, etwas zu verändern, Widerstand zu leisten. Nach Chemnitz wurde es schneller ruhig, als die katastrophale Lage erfordern würde. Kurzes Empören noch über den Verfassungsschutzbeamten mit Geheimhaltungsstufe 3, der als AfD Parteimitglied munter Informationen in Nazikreise schleuste, dann war Schicht im Lausitzer Braunkohle-Schacht (sorry, der musste sein).
Der Osten braucht eure Wessi-Kohle! Solidarbeitrag endlich ernst nehmen und an linke Vereine und NGOs, an die Antifa und andere lokale Strukturen spenden. Wer das Geld nicht aufbringen kann, soll Artikel teilen von Aktivist_innen und linken Politiker_innen aus dem Osten (keine Bange, die sind auch auf Twitter). Es soll ja Wessis geben, die waren noch nie im Osten. Wie wär’s demnächst mit einem gemeinsam organisierten Demo-Besuch oder einer antifaschistischen Marktplatztour? Schön grün ist’s hier nämlich auch!
Noch mehr Service gibt’s z.B. bei Katharina König und Johannes Grunert:
https://twitter.com/KatharinaKoenig/status/1133026910773088256
Ein langer Thread als Antwort auf die Frage von @ralphruthe, was getan werden müsste, damit in #Sachsen und #Brandenburg weniger Leute die AfD wählen. Freue mich auf Diskussionen! #wirimosten https://t.co/GmQb4jZ9YM
— Johannes Grunert (@johannesgrunert) May 27, 2019
und im Supernova-Magazin: „Lasst den Osten nicht alleine, liebe Wessis„
Ich habe bisher so ziemlich alle linken Parteien bei Wahlen mal gewählt und mal wieder nicht (dann eben eine andere linke Partei) – natürlich ist das nicht NUR personenabhängig, aber schon auch. Das heißt aber auch, dass das Wagenknecht-Argument eigentlich gar nicht passt, da sie für Europa ja gar nicht zur Wahl stand. Bei den Bezirkswahlen in Hamburg standen dagegen Personen auf der Liste, die schon mal sexistische Miaugeräusche machen, wenn man einen engagierten Diskussionsbeitrag als Frau einbringt, der ihnen nicht passt. Von daher wähle ich jene Menschen tatsächlich – ganz personenabhängig – nicht und finde das auch vollkommen zulässig, da ich solche Menschen nicht unterstützen möchte, nur, weil es vielleicht ums Prinzip geht.