Auf Papier gelesen
Jederzeit gern versinke ich in Büchern, die andere Welten entwerfen, einen Hauch Magie beinhaltet, Märchen- und Sagenfiguren geschickt integrieren. Diese Bücher, die gerade nicht ‚realistisch‘ wirken, schaffen es – im besten Fall – gerade auch durch ihr Ausloten der (un)vorstellbaren Dinge, nur allzu ‚realistische‘ gesellschaftliche Strukturen zu hinterfragen und alltägliche Gedanken herumzuwirbeln. Hier nun also als Herbst-Lesetipps einige meiner liebsten Bücher der letzten Wochen, mit magischen, spukigen und außerirdischen Elementen.
Von Nnedi Okorafor schwärmte ich hier bereits an dieser Stelle, als ich ihr Jugendbuch Akata Witch vorstellte. Doch sie schreibt auch Bücher, die eher an eine ältere Zielgruppe gerichtet sind, in denen es ebenfalls nicht an Magie und anderen außergewöhnlichen Elementen mangelt, so beispielsweise in ihrem dystopischen Roman Who Fears Death (2010, DAW). In einem post-apokalyptischen afrikanischem Schauplatz folgen wir Onyesonwu, einem jungen Mädchen/ junge Frau, die aufgrund ihrer Herkunft sozial geächtet wird, doch nach und nach ihre wahren Kräfte entdeckt. Und nötig ist dies, denn jemand sehr mächtiges versucht sie zu töten. Der Roman ist packend, teils brutal, teils humorvoll, geschrieben, voller wunderbarer und interessanter Charaktere und mit einem spannenden Plot – und behandelt dabei ebenfalls Themen wie Sexismus, sexualisierte Gewalt, FGM, Rassismus und Umweltzerstörungen. Letzten Endes geht es um Freund_innenschaften, weibliche Solidarität, dem Niederringen von Gegner_innen sowie die Kosten, die dies haben kann.
Ganz anders, aber nicht weniger fesselnd ist Okorafors Roman Lagoon (2014, Hodder & Stoughton). An einem Strand von Lagos, Nigeria, treffen eines Nachts eine Meeresbiologin, ein berühmter Ghanaischer Rapper und ein Soldat, der gerade seinem Vorgesetzten einen Fausthieb verpasst hatte, wie durch Zufall aufeinander, nur um dann von einer Welle verschluckt und wieder ausgespuckt zu werden. Nach ihnen tritt eine Schwarze Frau aus den Fluten, doch sie ist keine gewöhnliche Frau, sondern Abgesandte der im Ozean vor Lagos gelandeten Aliens und sie hat eine Nachricht an den nigerianischen Presidenten. So ein Alienbesuch geht natürlich nicht spurlos an einer Stadt vorbei, in Lagos bricht Chaos aus und mittendrin neben unseren Haupt-Protagonist_innen, Studenten, die mit Internet-Scams ihr Geld verdienen, eine LGBT-Gruppe, ein Prediger und eine Fledermaus. Und noch mehr steckt auf diesen 300 Seiten: Es gibt mythische Kreaturen im Meer, eine Straße, die sich selbst der „Bone Collector“ nennt und eine Geschichtenspinnende Spinne. Im Herzen der Geschichte steht eine Alien-„Invasion“, doch unterläuft Okorafor geschickt viele der typischen Darstellungen: Ihre Aliens besitzen keine großartigen Technologien, sie _sind_ Technologie, auch sind sie weder immanent gut oder schlecht, sie sind _Wandel_.
In Kirsty Logans A Portable Shelter (2015, Association for Scottish Literary Studies) warten zwei Frauen, Ruth und Liska, auf die Geburt ihres ersten Kindes. Die Zeit nutzen sie um dem Ungeborenen Geschichten zu erzählen, die wichtige Lektionen für’s Leben beinhalten. Ruth erzählt ihre Geschichten tagsüber, während Liska arbeiten ist und Liska flüstert ihre nachts während Ruth schläft. Nur eine Bedingung haben sie sich gegeben: Sie wollen ihrem Kind nur die Wahrheit sagen. Die dreizehn Geschichten, die auf schottische Mythen zurückgreifen, könnten auch einzeln als Kurzgeschichten gelesen werden. Sie werden bevölkert von Meeresmenschen, Wölfen, Hexen, Geistern und dem Zirkus. Die Geschichten sind oftmals Wiederholungen von Geschichten, die andere Personen Ruth oder Liska erzählt haben und unterscheiden sich in Form, Stil und dem Grad wie ‚realistisch‘ sie sind. Aber genau darum geht es auch in diesem wundervollen Band: Was ist real? Was ist Wahrheit? Was macht unsere ganz eigene Wahrheit weniger wertvoll als die angenommene ‚faktische‘ Wahrheit? Der Roman nähert sich Fragen rund um das Erzählen an, den Geschichten, die wir uns erzählen um Dingen Sinn zu geben, den Erzählungen anderer und denen, die wir weiter geben wollen; es geht um die Unmöglichkeit einige Erfahrungen in Worte zu fassen und noch mehr die Unmöglichkeiten einige Geschichten anderer, die deren wichtigste Wahrheiten beinhalten, zu verstehen.
Und für alle, die von Kirsty Logan nicht genug bekommen können, gibt es noch ihren Roman The Gracekeepers (2015, Harvill Secker). In dieser Dystopie, ist der Großteil der Erde überflutet und nur noch wenig Land steht zur Verfügung. Die Menschheit ist grob in zwei Gruppen geteilt: „Landlocker“ sind jene privilegierte Minderheit, die Land besitzen, „Dumplings“ hingegen leben auf Schiffen. Im Mittelpunkt stehen so auch zwei Protagonistinnen: Callanish, ist zwar Landlockerin, aber hat einen ganz speziellen Job. Sie ist ein „Gracekeeper“, lebt abgeschieden und kommt fast nur mit Trauernden in Kontakt, denn ihre Aufgabe ist es die Bestattungs-Riten für auf dem Meer Gestorbene durchzuführen. North hingegen ist auf einem Zirkus-Schiff geboren, Teil einer Truppe interessanter Charaktere und mit ihrem Bär fast jeden Tag auf der Bühne. Seit einiger Zeit hütet sie ein Geheimnis und erst Callanish errät dies. Doch dies ist noch lange nicht das Ende dieser verwobenen Geschichten. Unter dem Zirkus-Brimborium rund um North und dem langsamen, durch-ritualisiertem Leben von Callanish, geht es um Beziehungsgeflechte, Geschlechterperformances, Wünsche und die Projektion dieser auf andere, Religion, Besitz, Verlust und die kleinen Utopien.
Kurzgeschichten-Fans und solche, die es werden wollen, möchte ich Myriam Gurbas Painting Their Portraits in Winter: Stories (2015, Manic D Press) ans Herz legen. Diese Sammlung hat nicht nur die großartigsten Titel (z.B., „The Time I Rewrote the First Two Pages of The Bell Jar from a Melodramatic Chicana Perspective and Named It The Taco Bell Jar“, „Even This Title is a Ghost“), sondern auch wunderschöne, verschrobene, poetische, humorvolle, vom Herzen kommenede Geschichten, die sich hinter diesen verbergen. Ich hatte das Buch auf einer Liste entdeckt, die Bücher vorstellte, in der magischer Realismus auf queere Charaktere trifft. Und genau das (und noch mehr) liefert Gurba. Obwohl die Geschichten einzeln gelesen werden können und in sich geschlossen sind, sind sie trotzdem miteinander verknüpft. Am Ende des Buchs hatte ich eher das Gefühl eine Novelle gelesen zu haben – und wollte eigentlich noch nicht diese Protagonist_innen verlassen müssen.
Was es natürlich in Unmengen gibt: Jugendbücher mit den oben beschriebenen Elementen. Ein besonders schönes Beispiel liefert Michelle Tea mit Mermaid in Chelsea Creek (2013, McSweeney’s McMullens). Protagonistin Sophie Swankowski, lebt in Chelsea, Massachusetts. Die chice Highschool, die sie gern besuchen würde, kann sich ihre Mutter nicht leisten; ihre Großmutter betreibt die örtliche Müllhalde. Ihre Freizeit verbringt Sophie mit ihrer besten Freundin am Creek, wo sie – wie bereits Generationen von Mädchen vor ihnen – das „pass-out-game“ spielen. Bis zu jenem Tag als Sophie, im Delirium, eine (polnische) Meerjungfrau begegnet, die ganz anders ist als Sophie sich eine solche jemals ausgemalt hätte: Sie ist alt, mürrisch und flucht unentwegt. Und Sophie ist vielleicht der Schlüssel zu den Problemen vieler Menschen.
Im Juni erschien nun mit Girl at the Bottom of the Sea der zweite Teil der Triologie.
Im Netz gelesen
Sehr passend auch zum Thema der heutigen Buchvorstellungen der erste Artikel: In der New York Times analysiert Sloane Crosley wie Autorinnen – anders als ihre männlichen Kollegen – post-apokalyptische und/ oder dystopische Welten inszenieren.
Und das Bitch Magazine interviewt Ann Vandermeer, die die noch sehr neue Kurzgeschichten-Sammlung Sisters of the Revolution: A Feminist Speculative Fiction Anthology mit herausgegeben hat.
Happy Birthday! Der Querverlag feiert seinen 20. Geburtstag!
„I’ve been keeping an eye on fat representation in YA [Young Adult literature] for many years now. I can count on a single hand the books that depict a fat character as a whole, worthy being who can do what s/he wants to without being “held back” by their body.“, schreibt Kelly Jensen bei Book Riot, analysiert einige der typischen Tropen und stellt ein paar Bücher vor, in denen auf diese glücklicherweise verzichtet wird.
Traurig, aber nicht überraschend: Eine Schriftstellerin schickt nach mäßigem Erfolg, das gleiche Buch unter einem männlichen Namen an Verlage und Agenten und muss anhand des Rücklaufs feststellen, dass George, ihr männliches Pseudonym offensichtlich 8,5 mal besser darin ist, dass exakt gleiche Buch zu schreiben.
Noch Platz auf der Leseliste? ForHarriet stellte „25 Must Reads for the Empowered Black Woman“ zusammen.
Und zum Ausklang noch Musik: Margaux Schwartz spielt Klavier im oberen Stock des Pariser Buchladens Shakespeare & Company: