Thilo Sarrazin hatte gestern ganz gemütliche Sonntags-Pläne. Einfach mal seine rassistischen, sexistischen, klassistischen, ableistischen (und ja, diese Aufzählung ließe sich lange fortsetzen) Thesen verbreiten, in schöner Kulisse des Berliner Ensemble. Nach „Deutschland schafft sich ab: Wie wir unser Land aufs Spiel setzen“ hat Sarrazin jetzt mit „Der neue Tugendterror: Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland“ ein zweites Buch nachgelegt. Vor diesem ist kaum ein Entkommen, denn viele Medien wollen gern etwas ab vom Aufmerksamkeits-Kuchen und sei es nur um „kontrovers zu diskutieren“. Auf wessen Kosten auch immer.
Doch nicht alle wollten Sarrazin zu bereitwillig eine Bühne bieten. Das Aktionsbündnis „TUGENDTERROR GEGEN #TERRORTHILO“ hatte für den gestrigen Auftritt zum Protest aufgerufen. Da hieß es unter anderem:
Mit der Wahl des Veranstaltungsortes setzen Sarrazin und das ausrichtende Cicero-Magazin auf volle Konfrontation: Sarrazins Rassismus und Sozialchauvinismus, längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen, sollen endlich auch die letzten Bastionen linker Kultur schleifen. Dass das Berliner Ensemble dieses Spiel mitspielt zeigt überdeutlich, wie ausgebrannt und wie staatstragend diese Kultur längst ist. Während sie den Kommunisten Brecht zum Stichwortgeber sozialromantischer Abendunterhaltung degradiert, wird draußen neoliberal „durchregiert“ (Merkel).
Mehr als hundert Menschen machten sich am Sonntagvormittag auf den Weg an den Schiffbauerdamm. Dabei hatten sie Schilder wie „Wir sind die Gebärmaschinen“, „Wir schaffen Deutschland ab“, „Wir sind die Kopftuchmädchen“ oder Brechtzitate a la „Wir haben Besucher aus der Vergangenheit nicht gern“. Mit lautstarkem Protest vor dem Gebäude und im Saal schafften sie es tatsächlich, dass Sarrazin nach einer Stunde unverrichteter Dinge abreisen musste.
Wie es um das politische Verortung des Berliner Ensembles steht, bewies dann auch gleich die Direktorin Jutta Ferbers, die auf die Rhetorik von Sarrazin zurückgreifend den Medien mitteilte: „Wir beugen uns dem Meinungsterror der Demonstranten“. Von mir Applaus an alle „Meinungsterrorist_innen“, die Rassismus, Sexismus und Klassismus nicht noch mehr Raum geben wollen.
(Dass natürlich auch Brecht keine emanzipatorische Heilsfigur war, soll hier an dieser Stelle heute nicht im Vordergrund stehen.)
es ist sogar leider schon sein dritter „Spiegel Bestseller“; nach „deutschland schafft sich ab“ kam „europa braucht den euro nicht“ – und nun „tugendterror“.
Hi! Achtung, kleine Korrektur: Das ist leider schon Thilos drittes Buch! Zwischen „Deutschland schafft sich ab“ und „Der neue Tugendterror“ gibt es noch das faszinierende Meisterwerk „Europa braucht den Euro nicht“. Komisch, dass er 3 Bücher schreiben kann, obwohl er den gleichen Inhalt immer wieder wiederholt…
Oh danke für den Hinweis. Ich danke meiner Filterblase und meiner selektiven Wahrnehmung dafür, dass ich das verdrängen konnte.
„Mit lautstarkem Protest vor dem Gebäude und im Saal schafften sie es tatsächlich, dass Sarrazin nach einer Stunde unverrichteter Dinge abreisen musste.“ Wo mit bewiesen wurde, dass Sarrazin recht hat, wenn er sagt, dass Meinungsfreiheit in diesem Land immer weniger wert ist.
@Pupsy: So, dann machen wir das jetzt an dir mal exemplarisch auf:
1. Rassismus ist keine „Meinung“.
2. Protest (und dessen Konsequenzen) sind keine Zensur – Protest gehört zur hochgepriesenen Form demokratischer Auseinandersetzung und ist ebenfalls durch das hochgepriesene Grundgesetz gedeckt.
3. Meinungsfreiheit bedeutet nicht, dass man für eine geäußerte Meinung keine Konsequenzen erfahren kann. Widerspruch, Proteste, gar juristische Konsequenzen aufgrund von „Volksverhetzung“, Beleidigung, etc., haben nichts mit Zensur/Missachtung der Meinungsfreiheit/“Meinungsterror“ zu tun.
4. Thilo Sarrazin hat hiermit seinen wohl dritten Bestseller geschrieben. Er verdient sein Geld mit solchen Büchern, Talkshow-Touren und Vorstellungen wie jener geplanten im Berliner Ensemble. Wo genau hier Zensur und ihn unterdrückender „Meinungsterror“ oder Missachtung von Meinungsfreiheit stattfinden, bleibt unklar.
5. „Tugendterror“-Gefasel ist die Immunisierung gegen Kritik qua Tabuisierungs-Stilisierung von Diskriminierung. Da muss man dann auch keine Argumente haben für die vermeintliche Unterdrückung Privilegierter: jede Kritik an Rassismus, Sexismus, Heterosexismus, etc. ist Tugendterror – und Sarrazin und Konsorten sind diejenigen, die heroisch ein vermeintliches Tabu für die Unterdrückte Mehrheit (TM) brechen. Das ist eine ziemlich alte und langweilige Strategie; gerne verwendet von der Neuen Rechten.
Dann werden Vermarktungs-Pseudo-Eklats herbei organisiert, damit man wieder von „Zensur“ sprechen kann, wenn man Widerspruch bekommt. Wer dann findet, dass man Sarrazins vermeintlich unterdrückte Meinung – die ja nur der alltägliche Terror gegen Marginalisierte ist – durch Protest zu einer solchen mache, ist nicht nur der rechten Rhetorik um PCness und vermeintlichen Tabus und Sarrazins Vermarktungsstrategie ganz schön auf den Leim gegangen, sondern zeigt auch erstaunliche Unkenntnis (wohl eher: privilegierte Ignoranz) tatsächlich bestehender gesellschaftlicher Machtverhältnisse und wer hier in Realität täglich mundtot und sprichwörtlich wie tatsächlich niedergebrüllt wird, wer aus öffentlichen und privaten Räumen gedrängt wird, wessen Publikationen ignoriert, wem Bühnen verwehrt, und wessen Einsprüche verunmöglicht werden.
Es wäre also toll, wenn wir mal aufhören könnten, Sarrazins Zensurgefühl als den Maßstab der Bewertung politischer Auseinandersetzungen und Streitkultur zu nehmen – Sarrazin, das Cicero-Magazin, die FAZ und Fans müssen nicht informiert werden. Es handelt sich hier nicht um ein Missverständnis, das man mit dem „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ ausräumen müsste oder auch nur könnte (im übrigen: Googlen kann auch der Thilo). Sarrazin und Konsorten sind (u.a.) Rassist_innen, die sehr genau wissen, was sie sagen und wie sie jenes Gesagte vermarkten möchten. Und da schließt sich der Kreis zu 1.: Rassismus ist aber keine Meinung. Rassismus ist ein gewaltsames Unterdrückungsverhältnis. Und, Überraschung: Sarrazin und Fans sind nicht diejenigen, die in diesem unterdrückt werden, obwohl hier ständig „Toleranz nach oben“ gefordert wird.
Aber hey, danke für die Illustrierung des Nährbodens, auf den Sarrazin und andere „in diesem Land“ fallen: genau deshalb ist er so erfolgreich, wegen der demokratischen, Voltaire-zitierenden „Mitte“, die ein bisschen mehr Toleranz und Geduld für Diskriminierung fordert (alles nur im Namen der – eigenen – (Jungen?) Freiheit, natürlich).
„Dann werden Vermarktungs-Pseudo-Eklats herbei organisiert, damit man wieder von “Zensur” sprechen kann, wenn man Widerspruch bekommt.“
Genau das Gefühl hatte ich auch, konnte es aber nicht in Worte fassen. Danke dafür!
Am Ende hat dieser widerliche Hetzer das alles selbst organisiert, um sich mal wieder als Opfer feiern lassen zu können.
@Maria-Luisa: Danke – den Protest hat er nicht selbst organisiert; Intendant Peymann, das Cicero-Magazin und Sarrazin wollten aber wohl eine sich selbst erfüllende Prophezeiung zwecks Marketing – warum sonst ausgerechnet das Berliner Ensemble auswählen…
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Generell: Das Perfide an der ganzen „Tugend-/Meinungsterror“-Rhetorik ist ja, dass sie durch einen Zirkelschluss funktionieren soll: laut Sarrazin und anderen werden diskrimierende „Meinungen“ [sic] (die er als „nicht politisch korrekt“ euphemisiert) unterdrückt von jenem mehrheitsunterdrückenden Tugendterror. Kritisiert man dann diese (höchst ideologische, wenngleich sich als einzig anti-ideologisch ausgebende) These, ist das wiederum ein Beweis für Tugendterror, der einem_einer ja noch nicht mal mehr erlaube, dieses oder jenes zu sagen, usw. Dabei wird dann davon phantasiert, dass man ja quasi Sprech- und Denkverbote bekäme, was gewisse Themen anginge (z.B. Sexismus oder Rassismus) – trotz der sehr offensichtlichen Tatsache, dass Sarrazin und Fans all das sagen können, was sie denken, und damit sogar auf Bestsellerlisten landen. Der künstliche Tabubruch gehört aber seit Jahrzehnten zur Anti-PC-Vermarktungsstrategie, mit der sich selbsternannte Mutige feiern. Mutig ist hierbei, wohlgemerkt, gesellschaftlichen Diskriminierungskonsens zu reproduzieren.
Jede Art des Widerspruchs gerät so aber zur „Zensur“ und zum Meinungsterror/Tugendterror/Meinungsfreiheitsunterlassungsdruck, wenn man sich erstmal als unterdrücktes weißes männliches heterosexuelles deutsches Opfer dargestellt hat, das von totalitären Marginalisierten gejagt würde. Es ist ja nicht so, als sei niemand Sarrazin jemals argumentativ begegnet, ganz im Gegenteil. Wie gesagt: auch Thilo könnte Googlen, was Rassismus ist, oder einfach mal Kritiken zuhören. Aber die sind ja eben schon jener Tugendterror und jene Zensur, die er in jeder ihm widersprechenden Argumentation und Handlung sieht; und Rassismus ist kein unglücklicher Zustand der mangelnden Information.
Es ist angesichts dieser sarrazinschen Art der Selbst- und Fremdwahrnehmung letztlich völlig egal, welche Form des Protests man wählt: Tugendterror dreht sich auch darum, dass z.B. Journalist_innen Sarrazin „diskriminierten“ und er öffentlich „zensiert“ würde wegen seiner Aussagen. Kritische Nachfragen sind also schon Zensur. Proteste gegen ihn dann ebenso; sind sogar vergleichbar mit „den Brandstiftern in Hoyerswerda,“ wie Intendant Peymann tatsächlich in einem heutigen Interview in der Welt sagte.
Wie also im letzten Kommentar bereits angemerkt: es handelt sich hier nicht darum, dass Sarrazin oder das Cicero-Magazin nicht wüssten, was denn genau rassistisch, etc. ist an einer Vielzahl von Aussagen, und man sich hier um die einmalige Chance gebracht hätte, jene Leute argumentativ auf die Widerlichkeit ihrer Politik aufmerksam zu machen oder ihnen durch freundliches Winken hätte zeigen können, dass sie ja im Unrecht sind mit der Tugendterrorangst. Der Eklat gehört zur Inszenierung dieser Politik und der Immunisierung gegen jede Form von Kritik. Es gibt hier keinen „richtigen“ Weg des Protests, da jede Form des Protests für Sarrazin „Tugendterror“ ist und skandalisiert wird.
Zumal, wie Charlott schon schrieb, man sich dann fragen muss, auf wessen Kosten der kritische Plausch mit Sarrazin oder pointiertes Protest-Schweigen ginge. Rassismus und andere Formen systematischer Diskriminierung (die Thilo Sarrazin leugnet) muss und kann man nicht einfach mal entspannt sonntags diskutieren, damit auch der Thilo was davon hat. Offenbar muss aber immer und immer wieder darauf hingewiesen werden, dass z.B. Rassismus für manche durchaus theoretisch abzulehnen ist (und dann eben auch theoretisch mal ergebnisoffen diskutiert werden sollte und/oder einfach mal diskutiert werden sollte mit jenen, die rassistisch agieren und agitieren), für z.B. rassistisch Diskriminierte aber eine Lebensrealität und täglicher Terror, der auch durch Sarrazin befeuert wird.
Stimmt, jede Kritik ist für Sarrazin ‚Tugendterror‘.
Aber der Rest der Öffentlichkeit muss doch nicht noch extra davon überzeugt werden, dass Sarrazin wirklich vom ‚Tugendterror‘ unterdrückt wird.
Nehmt zum Beispiel folgendes Szenario: Sarrazin hält seine Lesung und im letzten Drittel, in der Fragerunde wird Sarrazin gefragt, wie er denn in seiner Meinungsäußerung unterdrückt sein kann, wenn er doch gerade im Berliner Ensemble sitzt und eine Lesung seines dritten Bestsellers hält. Insbesondere, wenn wirklich Unterdrückte ganz real kein Podium bekommen, keine Lesungen halten und keine Bestseller schreiben können. Solche Fragen die ganze Runde durch, und Sarrazin würde danach ganz anders darstehen, nicht mehr als Opfer des Tugendterror, sondern einfach nur als der Dumme.
Klar könnte das in den Medien einfach untergehen und kein Hahn kräht danach was im Publikum für intelligente Fragen gestellt wurden, aber wäre das nicht allemal besser als Sarrazin in den Augen der Mitte zu bestätigen?
Die breite Masse liest keine feministischen Blogs. Die breite Masse hat keine Ahnung und geht auch nicht auf irgendwelche feministischen/antirassistischen/antiwasweißichnicht Lesungen und weiß nichts von strukturellen Benachteiligungen. Alles, was die jetzt sieht ist, dass Sarrazin von einem wütenden Mob niedergebrüllt wird, weil er ‚doch nur sagt, was alle denken‘. Und so nimmt der Tugendterror Gestalt an, wo vorher keine war.
Wer in der Mitte vorher noch skeptisch war, wurde jetzt sauber des Gegenteils überzeugt. Schade.
Meinungsfreiheit sagt dass der Staat dich nicht für deine Meinung eknsperren und unterdrücken darf.
Zensur ist auch staatlich definiert.
Zudem gilt Mejnungsfreiheit weder für Beleidigung noch für Volksverhetzung (und xass die Anzahl der übergriffe nach Arschl… erstem Buch gestiegen sind könnte darauf hinweisen,dass der eugenik-rassistdn-scheißdreck genau das tat. Aber drutschland tut sich schwer,rassismus zu erkennen. Wenn n mensch nicht glatze und insignie tragend(zusammen,skinheadtum an sich ist nicht rechts) und HH brüllend Menschen zusammenschlägt oder abknallt is das für deutsche Richter unf polizisten sowie bullen kein rassist.( siehe unsäglicher Polizekalender. Der beweist schon deren(nicht aller)unfähigkeit…
Also nur weil der sarri gegenwind bekommt weil n paar „toll e“leute meinen man müsste denmordernen ____________, der wie damals rassismus salonfähig und pseudoakademisch(studien sind nie eindeutig,auf die interpretation kommt es an) unterfüttert hat,platz für sein gejammer
geben(in dem brecht theater ziegottnochmal..)
Nach denen wären die weisse rose und edelweisspiraten auch abtidemokratisch,die haben den Kackrassisten auch nicht zugehört.
Die gleichen Leute die meinen muslime,wir wären alle terroristen und gewalt wäre besser weil man mit extremisten nicht reden könne meinen dass extremisten,sind sie nur reich,weiß,distinguiert und mit miesem englisch sowie nur indirekt durch entmenschlichung gewalt-legitimierend voll knorke als gesprächspartner sind und man dem natuerlich sein geld innen arsch blasen darf damit er noch mehr ueber unterdrückung nölen kann…
Ein „Kopftuchmädchen“…
@Fredi: Ähm, nein – siehe die vorhergehenden Kommentare. Daher nur noch so viel: Kritik an Sarrazin ist nicht neu oder unzugänglich für Menschen, die keine bestimmten Blogs lesen. Dass die Arbeit vieler antirassistischer/antifaschistischer Initiativen, Aktivist_innen, gar mancher Berufs-Politiker_innen von vielen ignoriert wird (oder: werden kann), ist Zeichen eines Privilegs. Die „Mitte“ macht Sarrazins Bücher zu Bestsellern.
Die „Mitte“ ist weder politisch neutral noch müsste sie einfach mehr freundlich präsentierte Infos bekommen, um weniger rassistisch zu sein; die „Mitte“ macht Sarrazin möglich.
Und diese „Mitte,“ von der Peymann in seinem Kommentar zu Hoyerswerda jenen „wütenden Mob“ ( = antirassistische Aktivist_innen) abgrenzt und die Proteste letzterer mit Mordanschlägen vergleicht, war im übrigen auch damals schon die, die in Hoyerswerda (und Mölln und Solingen,…) zusah oder applaudierte, während jener „wütende Mob“ aus Betroffenen und antirassistischen/antifaschistischen Aktivist_innen eingriff.
Die „Mitte“ ist nicht naiv und unwissend, die „Mitte“ hat einen rassistischen/sexistischen/heterosexistischen, etc. Grundkonsens, der Sarrazin und andere erfolgreich macht und ihnen Bühnen dafür bietet, die Grundrechte Marginalisierter mal ergebnisoffen zu verhandeln.
Absolut notwendige Aktion!
Das „Hau ab!“ – Geschreie fand ich aber nicht gerade kostruktiv. Da hätt ich mir was sinnvolleres gewünscht, wenn man schon mal die bühne bekommt.
Peymann ist der eigentliche Opportunist hier: das war eine reine PR-Nummer für’s BE (was es anscheinend dringend nötig hat) und dann noch der Welt ein Interview mit unmöglichen Aussagen geben. Bäh, Peymann!
was accalmie sagt. danke dafür.
a propos: ich bin froh und dankbar darüber, dass es leute gibt, die in die bresche springen wenn es darum geht, kackscheißesituationen wie diese lesung hier einfach mal zu verhindern. mal ganz praktisch und unter inkaufnahme handfester risiken. jetzt komme ich nämlich auch mal mit dem vom-sofa-aus-argument um die ecke: am rechner sitzend den leuten im nachhinein zu anzumäkeln, was sie optimalerweise hätten rufen sollen, wie genau sie sich dabei am besten verhalten hätten und was sie hätten anziehen sollen (ich überspitze nur begrenzt) finde ich wohlfeil und außerdem derailend. wenn man es für gewinnbringend erachtet, bestimmte diskussionen zu führen und argumente vorzubringen, kann/sollte man das tun – das ist super. mache ich auch andauernd, unabhängig von der qualität meiner argumentation mit unterschiedlichem erfolg. es ist aber definitiv nicht DAS (einzig legitime & wirksame) mittel gegen kackscheiße.
@accalmie: Jo, die Mitte hat diese Grundeinstellung (wobei ich der Meinung bin, dass die letztlich auf Ignoranz und Unwissenheit basiert). Ich frage mich nur, ob es wirklich zweckdienlich ist, diese Grundeinstellung (zumindest in diesem Falle, nämlich dem ‚Tugendterror‘) noch zu bestärken.
Die ganzen Feinheiten und Ebenen des Protests kommen in der Öffentlichkeit nicht an. Nur der ‚Tugendterror‘. Daher halte ich Niederbrüllen, so sehr ich es begrüße Sarrazin nicht zu hören, für unsinnig.
Vermutlich hätte kein Hahn mehr nach der Lesung gekräht, denn das Interesse an Sarrazin ist seit seinem ersten Buch stetig gesunken. Was freilich das zugrundeliegende gesellschaftliche Problem nicht löst, aber bzgl. des ‚Tugendterror‘ Öl in’s Feuer gießen löst’s noch weniger.
Ich will den Protest gegen Sarrazin ja auch nicht schlechtmachen, denn der ist absolut angebracht, nur denke ich eben, dass durch das Stören der Lesung selbst der Sache ein Bärendienst erwiesen wurde.
^ QED für gegen Wände reden (eventuell gar von Rassismus nicht betroffene und die eigene Evaluation auf der Schilderung Peymanns – der auch nicht da war…- aufbauende?). Alles andere ist in den anderen Kommentaren beantwortet; die Wiederholung des gleichen Arguments – nach ein bisschen backpaddling bezüglich der „unwissenden“ Mitte… – macht’s leider nicht sinnvoller.
@Fredi: „Die schweigende Mehrheit ist gefährlich.“ (leider weiß ich nicht mehr, von wem der Satz ist.)
Besser hätte selbst Sarrazin nicht für sein neues Buch werben können.
Denkt ihr vielleicht vorher mal nach was ihr macht, oder rennt ihr einfach los?
Euer Auftritt dient den konservativen Kreisen als Beweis dafür, dass ihr absolut Demokratie-unfähig seid.
BE-Intendant und Alt-Achtundsechziger Claus Peymann über den Eklat:
„Es war ein undemokratisches, nazihaftes Gepöbel, dem wir uns schließlich beugen mussten.
Ich bin 76 Jahre alt. Ich kann also einen Teil der Geschichte unseres schönen Deutschlands durchaus als mündiger Beobachter einschätzen.
Und ich sehe eine zunehmende Brutalisierung und Militarisierung unserer Gesellschaft. Eine zunehmende Gewaltbereitschaft und ein immer geringeres Sozialverhalten.
Diese unbelehrbaren „Linken“ benehmen sich wie die Brandstifter von Hoyerswerda. Sie sind nicht erreichbar.
Sie brüllen nur, beschimpfen normale Zuschauer als Nazis und Rassisten. Sie haben sogar Leute geschlagen, draußen vor dem Theater.
Ich weigere mich, meine Vorstellung von Normalität im Theater über Bord zu werfen, nur weil einige aufgeregte junge Leute mit Parolen bewaffnet Krawall machen wollen.“
Glückwunsch.
@Dirk: Manchmal habe ich ja die Hoffnung, dass Leute nicht nur Artikel ganz lesen, sondern sich auch den Kommentarbereich anschauen, bevor sie den Enter-Button drücken, um SKANDAL zu schreien. Leider ist das selten der Fall – wie auch bei dir. Dein Kommentar illustriert aber auf wunderbare Weise die Diskussionskultur, die du als „Demokratie-unfähig“ beklagst, aber selbst nicht nur nicht in der Lage bist, die Implikationen des Peymann- und anderer Zitate mal kurz zu überdenken, sondern gleich alle Hintergründe, Begründungen, Argumente und Kontexte ignorierst, um das zu wiederholen, was schon das Cicero-Magazin oder die Welt schrieben. Glückwunsch, indeed! Also, noch einmal für dich ganz persönlich:
1. http://maedchenmannschaft.net/applaus-fuer-die-demonstrant_innen-gegen-terrorthilo/#comment-726687
2. http://maedchenmannschaft.net/applaus-fuer-die-demonstrant_innen-gegen-terrorthilo/#comment-726701
3. http://maedchenmannschaft.net/applaus-fuer-die-demonstrant_innen-gegen-terrorthilo/#comment-726707
4. http://maedchenmannschaft.net/applaus-fuer-die-demonstrant_innen-gegen-terrorthilo/#comment-726690
1. http://maedchenmannschaft.net/applaus-fuer-die-demonstrant_innen-gegen-terrorthilo/#comment-726702
2. http://maedchenmannschaft.net/applaus-fuer-die-demonstrant_innen-gegen-terrorthilo/#comment-726706
3. http://maedchenmannschaft.net/applaus-fuer-die-demonstrant_innen-gegen-terrorthilo/#comment-726717
4. Extremismustheorien sind out; seit ungefähr 60 Jahren. Spätestens seit 1986. Aus Gründen. Leicht ergooglebar. Historiographie hilft, und würde auch Peymann helfen.
Dass du anmerkst, dass er „Alt-68er“ ist, soll wohl darauf hindeuten, dass „wir“ ja alle auf der gleichen Seite stünden (oder selbst ein Alt-68er sowas nicht gemacht hätte, etc.) – bezeugt aber nur deine Unkenntnis bezüglich a) Peymanns Aussagen zu seiner politischen Vergangenheit und b) strukturellen Diskriminierungen auch innerhalb jener Bewegung(en). Übrigens (und auch das habe ich schon erwähnt): Peymann sagt in diesem Interview auch, dass er selbst überhaupt nicht vor Ort war.
Auch das wunderbare „ihr“, das du so oft benutzt in deinem Kommentar, ist Indikator für einen Mangel an Differenzierungsvermögen: wer genau ist „ihr“? Hier schreiben alle unter individuellem Namen – du folgst leider der peymannschen „Mob“-Rhetorik.
Dann: Wie bereits erwähnt in früheren Kommentaren zur Mitte: wer antirassistischen und antifaschistischen Protest durch von Rassismus Betroffene und Allies mit neonazistischen Mordanschlägen auf eben jene vergleicht, hat nicht nur grundlegende Verständnisprobleme gesellschaftlicher Machtverhältnisse und politischer Positionierungen, sondern ist eine widerliche, tatsächlich unbelehrbare Person. Nicht nur wird hier ein Täter_innen-Opfer-Verhältnis umgekehrt und systematische Diskriminierung und Gewalt ausgeblendet, sondern auch – wie bereits in einem früheren Kommentar erwähnt – geflissentlich ignoriert, dass jene „unbelehrbaren Linken“ die einzigen waren, die eingriffen, als „die Mitte“ (inklusive Politik und Polizei) zuschaute und applaudierte in Hoyerswerda, Lichtenhagen, Mölln, Solingen, später Dessau, etc. Übrigens: interessant, dass Peymann von sich aus diese Parallele zieht – wenn auch mit einer absurden Analogie. Just sayin’…
Wer genau „normale Zuschauer“ sind, die Sarrazin mal zuhören wollten bei der Buchvorstellung, darf man sich dann ebenso fragen (siehe 1. zur „Mitte“)…
Ich bin erstaunt (read: nicht erstaunt) darüber, dass unter dem Fähnchen demokratischer Diskussionskultur und (immer nur der eigenen) „Meinungsfreiheit“ (a.k.a. der mit Gewalt verteidigten „Freiheit“, Marginalisierte systematisch diskriminieren zu dürfen) hier erneut Rhetoriken und Politiken aufrechterhalten und verteidigt werden, die nicht nur rechts(-konservativ) sind in ihren Implikationen, sondern genau das von ihnen Lamentierte be-/erzeugen: einen Mangel an Diskussionskultur auf Augenhöhe, Zuhörbereitschaft und Argumentation. Die Ironie bleibt Peymann-Zitierenden wie dir aber leider verborgen, nech…
Ganz abgesehen davon, was ich nun zum dritten und letzten Mal wiederhole: Rassismus ist keine Meinung. Marginalisierte betreten den Diskurs mit/um Sarrazin nicht als gleichwertig Anerkannte in dieser Gesellschaft. Und, nur FYI: meine Humanität verhandele ich nicht.
Danke Accalmie. Ich glaube nicht, dass Dirk überhaupt nochmal auftaucht und das liest, weil es ihm anscheinend nur darum geht, einen verbalen Molotov-Cocktail in die Runde zu werfen. Da gehts doch nicht ernsthaft um Diskussion, sondern um das Ablassen von Parolen („Ihr seid undemolkratisch“, je nach Kontext auch was anderes, das gerade weh tun soll), weil die Herren Demokratieschützer sich ja sonst mit der Tatsache auseinandersetzen müssten, dass sie sich mit Halbnazis wie Herrn Sarrazin die Nachbarschaft teilen und nicht den Arsch in der Hose haben, was gegen den von ihnen beschriebenen Niedergang der Demokratie zu unternehmen.
Dirk, man wird sich ja wohl noch wehren dürfen!;)
Claus Peymann (Intendant Berliner Ensemble) hat in der ‚Berliner Zeitung Online‘ sinngemäß gesagt, dass er Sarrazin nochmal einladen möchte, da er seine Meinung auch sagen können müsse und dass sich die Demonstrant/innen schämen sollten. Der arme Sarrazin kann seine Meinung ja sonst nur in der Bild und diversen Quassel-Talks veröffentlichen – er war bei seinem ‚Deutschland schafft sich usw‘ über Wochen in den Bestsellerlisten. Das nennt er Meinungs- und Denkverbot. Ich finde den Protest gut, für Sarrazin und seine an Sarrazinose erkrankten Mitbürger und innen sind alle, die nicht den national-bürglich-konservativen Mist mitdenken sowieso Abschaum. Ich persönlich empfinde es allerdings als Verrat an Brecht und Weigel, dass ein astreiner Rassist im Berliner Ensemble auftreten darf. Dafür haben Bertholt und Helene nicht gearbeitet.
Nur mal so am Rande: Was qualifizierte Sarrazin überhaupt sich zu diesen Themen fachmännsich zu äußern? Gibt es nicht ausreichend Soziologen, Wirtschafts- und Kulturwissenschaftler in Deutschland, die man mal ins BE einladen könnte, um über Deutschland zu diskutieren? Oder reicht es aus Ex-Finanzsenator und NPD- pardon SPD-Mitglied zu sein?