Adventszeit my ass

Heng ist freie Autorin, bloggt auf Tea-Riffic und twittert unter @sassyheng. Zuletzt schrieb sie auf der Mädchenmannschaft über gruselige Halloween-Kostüme

Spätestens mit der ersten Herz-Brezel-Stern-Lebkuchenmischung des Jahres ist es schwer zu verdrängen: Die beschissenste Zeit des Winters geht los. (Ich sage bewusst nicht des Jahres, denn auch der Sommer kann richtig kacke sein.) Der ohnehin schon gruselige white-savior-Charity-Geist spukt härter als zuvor. Spende für Kinder hier, Benefizkonzert für Mädchen in Indien dort und überhaupt: Wissen Die Leute In Afrika™ eigentlich, dass Weihnachtszeit ist?!

Parallel rattert die Kapitalismusmaschine ordentlich vor sich hin. Läden sind überfüllter als sonst, außerdem ist die musikalische Untermalung besonders hässlich. Da es mein Hobby ist, durch Geschäfte zu flanieren, ist die erhöhte Anzahl an Menschen ein großes Problem für mich. (Menschenmassen stressen mich schnell. Glühweingeruch auch.)

Werbekataloge und -kampagnen erinnern daran, dass ALLE ihren Herzensmenschen zeigen sollten, welchen Stellenwert sie in ihrem Leben haben. Wenn schon nicht durch Schmuck, dann wenigstens durch ein Los für irgendwelche dubiosen Lotterien. Oder was Selbstgebasteltes. Yeah, DIY! Als ob alle, die kein Geld haben, automatisch Zeit und Zugang zu Material hätten, um sich easypeasy und SUPERgünstig edgy Geschenkideen auszudenken.

Oder Adventskalender. Schlimmer als Pärchenbilder sind auf Instagram nur die morgendlichen Dokumentationen der jeweiligen Türchen-Inhalte. Schön für dich, dass du viele Freund_innen hast, die sich die Zeit nehmen können, dir so etwas Aufmerksames zu basteln. Ich meine es nicht ironisch, wirklich. Das ist richtig cool und wenn ich ehrlich bin, hätte ich auch nichts gegen Geschenktüten in täglicher Ration, fast einen Monat lang. Es ist auch völlig okay, sich darüber zu freuen.

Was nicht okay ist, ist durch vermehrte mediale Inszenierung das Feiern von Weihnachten und das Besitzen schöner Adventskalender zu normalisieren. Das Prinzip kennen wir schon von Reproduktion von Heteronormativität durch Hetenperformance allerorts. Wenn ich überall sehe, dass dieses westliche, kapitalistische, klassistische Fest gefeiert wird, dann denke ich erst mal: Das muss so sein, dass machen alle™ und ich bin ganz schön komisch, wenn Christmas-Feels für mich Aversion und Apathie bedeuten.

Als Kind war ich sehr traurig, dass meine Familie kein Weihnachten gefeiert hat. Oder Ostern. Ich hab im Kindergarten meistens erst gemerkt, dass Ostern war, weil alle ihre Geschenke mitgebracht haben. Trotzdem hab ich an den Weihnachtsmann geglaubt und mir die mickrige Bescherung damit erklärt, dass ich faul und unartig war. Meine Eltern haben sich Mühe gegeben, dass ich trotzdem am 1. Weihnachtstag eine Kleinigkeit auf meiner Fensterbank stehen hatte, was ich total lieb finde. Ich kann heute auch sehr gut nachvollziehen, dass sie damals andere Sorgen hatten als Polly Pockets vor dem Ausverkauf zu retten. #SadButTrue

Mittlerweile bin ich eher traurig, dass meine Eltern die Erwartung haben, dass ich an den Feiertagen nach Hause komme und mit anderen Verwandten socialize. Weihnachten feiern wir trotzdem nicht, es ist eher eine muslimische Familienfeier, die von christlichen freien Tagen profitiert. Letztes Jahr war ich nicht dort und es ging mir damit extrem gut. Keine Geschenke für niemanden, keine überteuerten Reisetickets, nada.

Dieses Jahr „muss“ ich hin, denn die eine Tante und die eine Cousine bekomme ich sonst nie zu Gesicht. Aber beim Gedanken an die bevorstehenden Diät-Talks bekomme ich Nervositätsdurchfall. Will damit sagen: Die Feiertage in ihrer bloßen Existenz nerven mich trotzdem. Wegen Erwartungshaltungen, normalisierten Pflichten und immer wieder auftauchender Diskurse. Ich bin halt ein Grinch, white middle-class christmas-all-over people’s pain is my gain.

Insbesondere dann, dann betont wird, dass es an Weihachten gar nicht um Geschenke, sondern um das Versammeln der (Herkunfts-)Familie geht, beginnt die Dauermigräne. Denn: Breaking News, nicht alle Personen finden es geil, mindestens drei Tage am Stück mit Verwandten und Fleischbüffet in einer Wohnung_einem Haus festzusitzen, wenn auch noch die Läden zu haben und nur Scheiße im Fernsehen läuft, parallel aber auch das Internet von Geschenke- und Essensbildern überflutet ist. ES IST EINFACH NICHT SO GEIL.

In meinem unmittelbaren Umkreis wird Weihnachten zum Glück nicht so zelebriert. Es steht nicht einmal zur Debatte, ob sich irgendwer was bastelt oder schenkt. Obligatorische Herkunftsfamilienbesuche bleiben dennoch nicht erspart. Immerhin bin ich nicht mehr die einzige in meinem Umfeld, die mit dieser Jahreszeit in erster Linie über effektivere Überlebensstrategien nachdenkt. In diesem Zuge: Ganz viel Energie allen, die nicht Weihnachten feiern (können)!

7 Kommentare zu „Adventszeit my ass

  1. Es tut so gut zu lesen, dass es nicht nur mir so mit den Feiertagen und meiner Familie geht. Weihnachtszeit bei den meisten meiner Freund_innen: WIE IHR FEIERT KEIN WEIHNACHTEN? Weihnachten bei meiner Familie: WIE DU SPRICHST KEIN KURDISCH? Beides eher unangenehm.

  2. In der Vorweihnachtszeit pack ich immer meine Sozialexperiment-Skillz aus.
    Phase 1:
    Gespräche, die Richtung „was-machst-du-denn-an-und-mit-wem“ gehen schnell und effektiv beenden. Ein gezieltes „Ich bin Heimkind. Ich habe keine Familie!“ tut den Job meistens schon ganz gut.
    Phase 2:
    Jede weitere Nachfrage oder Mitleidsbekundungen mit einem – wahlweise entschiedenen oder gehauchten – „Ich möchte darüber nicht reden.“ im Keim ersticken.
    Phase 3:
    Zurücklehnen. Das peinliche Schweigen genießen. Auf das Jahresende warten.

    Grinch? Auf jeden!

  3. Halte durch! Nur noch 12 Tage, dann ist endlich der 27.12.* (der Tag im Jahr, an dem Weihnachten am weitesten hin ist)

    Christian

    *irgendwann bastel ich mir mal einen Anti-Adventskalender, der auf eben jenen 27.12. hinsteuert.

  4. I feel you. Tw tod, psych. Krankheit

    Weihnachten mit einer psychisch kranken, süchtigen mutter und emotional abusive oma…war die hölle als kind, auch weil keine mit mir geredet hat(hab mit 22 erfahren, dass mein opa am 24 zu hause gestorben ist, dass die laune nicht so toll war ist also verständlich..Das nicht zu wissen hat mich&mein verhältnis zu weihnachten kaputtgemacht.. nie gefallen können, nie gut genug zu sein, das schreien,food-policing..sigh
    Heutzutage koch ich, wenn ich genug spoons hab.

Kommentare sind geschlossen.

Betrieben von WordPress | Theme: Baskerville 2 von Anders Noren.

Nach oben ↑