Wettermoderator Jörg Kachelmann wurde am Dienstagmorgen vom Vorwurf der Vergewaltigung freigesprochen. Das Mannheimer Gericht machte in seiner Urteilsverkündung klar, dass eine zweifelsfreie Unschuld nicht bewiesen werden konnte und deshalb „in dubio pro reo“ – im Zweifel für den Angeklagten – auf einen Freispruch entschied. Das Urteil, der gesamte Prozessverlauf, die Untersuchungen gegen Kachelmann im Vorfeld sowie die mittlerweile über ein Jahr andauernde Medienberichterstattung über den Fall werfen Fragen auf.
Es ist nicht das erste Mal, dass einem vor Gericht verhandelten Vergewaltigungs- vorwurf keine Verurteilung des Angeklagten folgt. Es ist nicht das erste Mal, dass sich Opfer in ihren Aussagen in Widersprüche verstricken, am Ende Aussage gegen Aussage steht. Es ist nicht das erste Mal, dass ein solcher Prozess von einem Diskurs begleitet wird, der Rechtsstaatlichkeit und Unschuldsvermutung betont, die Glaubwürdigkeit der mutmaßlichen Opfer in Frage stellt und das Sexleben von mutmaßlichem Täter und Opfer ausschlachtet. Doch wie sind diese Dinge zu bewerten?
Die Fakten sprechen für sich: Nur ein Bruchteil von sexualisierten Übergriffen wird überhaupt zur Anzeige gebracht, noch weniger Fälle landen vor Gericht, noch weniger enden mit einer Verurteilung. Die Strukturen für Opfer sexualisierter Gewalt sind mäßig bis schlecht, Polizist_innen unzureichend ausgebildet, Gutachter_innen darauf aus, die Integrität des mutmaßlichen Opfers solange zu prüfen, bis Widersprüche aufgedeckt werden können. Die Betroffenen sexualisierter Gewalt sind in der Bringschuld. In der Bringschuld zu sein in einem System, in dem Sexismus und Frauenfeindlichkeit offen ausgelebt werden können und institutionell verankert sind, bedeutet, in einer nicht gleichberechtigten Position zu sein gegenüber denen, die überzeugt werden müssen von der Schuld des vermeintlichen Täters. Wenn wir über sexualisierte Gewalt reden und verhandeln, müssen wir auch die Verhältnisse, Normen und Strukturen bedenken, in denen sie passiert.
Dass das Gericht im Fall Kachelmann nach Gesetzes- und Beweislage auf einen Freispruch entschieden hat, ist davon nicht unabhängig zu sehen. Geschweige denn können sich die Medien auf die Fahnen schreiben, objektiv und nach bestem Wissen und Gewissen berichtet zu haben. Es muss offen kritisiert werden, dass Sabine Rückert für die Zeit und Gisela Friedrichsen für den Spiegel auch nach dem Urteil nicht davon ablassen konnten, die Integrität des Opfers radikal in Frage zu stellen und Kachelmann als hauptsächlich Geschädigten zu konstruieren. Obwohl beide, wie die Faz zu berichten weiß, im Prozess einen nicht unwesentlichen Anteil am Freispruch hatten. Es muss nachdenklich stimmen, wenn die einzige stimmgewaltige Feministin in diesem Fall Alice Schwarzer ist, die das mutmaßliche Opfer für ihre Selbstdarstellung instrumentalisiert – in der Bildzeitung.
Es geht nicht darum, Rechtsstaatlichkeit generell in Frage zu stellen oder die Unschuldsvermutung abzuschaffen. Sondern sich bewusst zu machen, dass beide Prinzipien in einer liberalen Gesellschaft, die formale Gleichheit für alle Individuen als Maxime setzt, soziale Ungleichheit und Machtverhältnisse nur unzureichend berücksichtigen können. Das heißt: Gesetze werden in diesem Kontext gemacht und Recht wird in diesem Kontext gesprochen. Für wen gilt die Unschuldsvermutung? Wer kann sie vollumfänglich in Anspruch nehmen? Wem helfen rechtsstaatliche Prinzipien zu einem freieren Leben, wenn es zur Disposition steht?
Wer Recht das Potenzial gesellschaftlicher Signalwirkungen abspricht und sich auf Rechtssprechung als letztgültigen Wahrheitsfinder verlässt, verhilft Machtverhältnissen zum Status Quo und imaginiert alle Individuen als Gleiche. Letztendlich kommt damit nicht nur bei den Rechtsgläubigen zum Ausdruck, dass die nachhaltige Bekämpfung von sexualisierter Gewalt und sexistischen Strukturen nicht erwünscht ist.
Ob in Sachen Vergewaltigung in Zukunft Recht und Gerechtigkeit vorherrscht, geht nicht nur Gerichte, Prozessbeteiligte und Journalist_innen etwas an. Sexualisierte Gewalt ist dabei keine Frage objektiver Beurteilung und sollte nicht allein auf dem Feld sexpositiver Debatten erfolgen. Eine öffentlich geführte und auf Sensibilisierung ausgelegte Auseinandersetzung mit rape culture wäre ein Anfang.
Danke für diese klaren Worte, das musste endlich einmal so deutlich gesagt werden!
Hier hätte man mit einem Schuldspruch ein klares Signal schicken müssen! Wenn man Kachelmann verurteilt hätte, hätte das anderen Opfer von sexueller Gewalt Mut gemacht. Stattdessen zeigt sich: Die Unschuldsvermutung gilt immer noch nur für die Täter, während die Opfer als hysterische Lügnerinnen dargestellt werden.
Was zwischen Kachelmann und dem Opfer wirklich vorgefallen ist, kann doch niemand außer den beiden selbst wissen. Dass Kachelmann alles abstreitet, ist ja klar: So haben es die Täter schon immer getan. Sexuelle Gewalt ist sowieso kein objektiver Tatbestand, nur das Opfer kann sagen, ob es eine Situation als sexuell gewalttätig wahrgenommen hat. Die Gerichte müssen deshalb endlich anfangen, das Wort der Opfer höher zu stellen als das der Täter.
Leider also eine vertane Chance auf dem Weg zu einer wirklich gerechten Gesellschaft. Vielleicht sogar ein Rückschritt.
rechtssprechung hat leider nichts mit gerechtigkeit zu tun, soviel ist klar.
interessant in dem zusammenhang finde ich was journalistInnen über diesen und ähnliche aktuelle fälle schreiben. sie verwenden massenweise klischees um damit die rape culture als den erwünschten und natürlichen zustand unserer gesellschafts- und machtverhältnisse darzustellen. so durchsichtig und platt wie das im augenblick gemacht wird, hab ich das bisher noch nie erlebt. ein guter zeitpunkt um das für unsere anliegen zu verwenden.
Für alle Menschen bis zu ihrer Verurteilung.
Alle Menschen bis zu ihrer Verurteilung.
Allen Menschen, denn es der Schutz vor Justiz-Willkür.
Wer fordert, ein Gericht soll einen Unschuldigen beziehungsweise jemanden für dessen Schuld zweifel besteht in den Knast schicken, der zeigt ein faszinierendes Rechtstaatsverständnis. Sicherlich ist es ein Problem, dass sich zu wenige Frauen, denen schreckliches angetan wurde trauen dagegen vorzugehen – unschuldige deswegen Hintergitter zu sperren kann aber kaum sinnvoll sein.
Man öffnet sonst Tür und Tor dafür, dass alleine Anschuldigungen genügen um jemanden nach einen Schauprozess für immer los zu sein und das kann nicht Sinn der Sache sein.
Übrigens sollte man bei Forderungen an Gerichte auch an die Gewaltenteilung im Staate denken. Es ist nicht Aufgabe der Justiz die Gesellschaft zu Verändern. Es ist nicht Aufgabe der Justiz Urteile darauf hin abzuwägen, welche Signalwirkung von ihnen in die Gesellschaft ausgeht. Es ist Aufgabe der Justiz bestehende Gesetze umzusetzen und Sachverhalte – beziehungsweise Schuld und Unschuld – festzustellen.
Wer die Unschuldsvermutung kippen möchte, der muss diese Forderung also an die Politik stellen und die Gesetze ändern. Ich bin gespannt was das Bundesverfassungsgericht dazu sagt. Ich schätze der Urteilsspruch würde einstimmig fallen – und das ist wahrhaft selten.
Das gerade Vertreter(innen) des Feminismus eines der grundlegendensten (justiziellen) Menschenrechte in Frage stellen ist für mich erschreckend, sollte es doch darum gehen die Menschenrechte für mehr Menschen (praktisch) zu erstreiten und nicht sie (für die anderen) abzuschaffen.
Im Zweifel für den Angeklagten gilt immer im Strafrecht – und zwar immer in eine Richtung, wobei die Person wechseln kann. Wenn eine Frau, die sexuelle Gewalt anzeigt, am Ende sich eines Strafverfahrens ausgesetzt sieht, in welchem sie wegen falscher Anschuldigungen etc. angeklagt wird, dann gilt auch hier dieser Grundsatz. Würde das Opfer höher gestellt werden als der Täter dann müßten in solchen Konstellationen beide verurteilt werden – eine Seite wegen einem Sexualdelikt, die andere wegen falscher Verdächtigung…
Ein Strafverfahren geht immer nur gegen den oder die Angeklagten und auch nur die müssen vor einem Fehlurteil geschützt werden. Opferschutz im Strafverfahren kann und darf dies niemals aushebeln.
Die Frage stellt sich aber, inwieweit ein Strafverfahren bei sexueller Gewalt wirklich weiterhilft. Ein solches Verfahren kann nichts ungeschehen machen und muß aufgrund der Bürgerrechte wegen vorgenannter Zielrichtung immer besonderes Augenmerk auf die Anklagebank legen. Sicher kann man dabei etwas erreichen, aber VOR Anklageerhebung sollte gründlich geprüft werden, inwieweit bei einer Aussage gegen Aussage – Konstellation andere Beweismittel vorhanden und ausreichend sind.
Ob die Öffentlichkeit in verstärktem Maße bei Sexualstraftaten auszuschließen ist, ist trotzdem eine Überlegung wert. Aber eben auch problematisch im Hinblick auf die Erkenntnisse bei den Geheimprozessen der Vergangenheit.
Es braucht in meinen Augen eine Stärkung Betroffener AUSSERHALB des Strafverfahrens. Ein Opfer sexueller Gewalt braucht Hilfe – und die sollte umfassend sein. Außerdem sollte es allein in der Hand haben, ob und wann ein Strafverfahren zu dem Thema unternommen wird. Hilfe und Strafverfahrensanliegen schließen sich leider häufig gegenseitig aus.
Am schlimmsten an diesem Medienprozess, genauso wie bei Strauss-Kahn, ist das ich Mitleid mit den Angeklagten verspüre, obwohl sie dieses wahrscheinlich in keiner Weise verdienen. Trotzdem führt das vorführen der Angeklagten in der Öffentlichkeit dazu sie in einer neuen Opferrolle wiederzufinden. Warum werden solche Verhandlungen nicht grundsätzlich hinter geschlossenen Türen verhandelt um die Würde der Opfer UND des Angeklagten zu wahren?
Ich hoffe doch für jeden. Oder stellst du das ernsthaft in Frage?
Was ist denn die Alternative?
@Benjamin
In meinem Text steht nichts davon, dass ich die Unschuldsvermutung abschaffen und Unschuldige im Gefängnis sehen will, um ausgleichende Gerechtigkeit vorzufinden.
Deine anderen Aussagen sind streitbar und beruhen genau auf der Denkweise, die ich in meinem Text kritisiere. Wir sind nicht gleich, weder vor dem Gesetz noch vor den Gerichten.
Ansonsten gilt auch für dich die Netiquette. Feminismusbashing und das absichtliche falsch Verstehen von Aussagen werden hier nicht geduldet.
@kraeuterzucker
Alternativen: siehe letzter Satz im Text.
@KleinerTod
Solche Fälle auch zivilrechtlich auszufechten, ist eine Möglichkeit, geht aber von einer Kritik an Strafverfahren und Gesetzen gegen sexualisierte Gewalt (die im Strafgesetzbuch geregelt sind) weg. Warum ich auch das gern einer kritischen Perspektive unterziehen möchte, erläuterte ich im Text.
Die Frage stellt sich ja, ob man diese Fälle überhaupt juristisch klären muß. Gerechtigkeit wird allein aufgrund prozessualer Notwendigkeiten kaum hergestellt werden können. Hilfe darf nicht von einem rechtlichen Verfahren abhängig gemacht werden, sondern sollte umfassend jeder Person gewährt werden, die sie sucht. DAS sollte am Wichtigsten in solchen Fällen sein, solange das Opfer nicht in die andere Richtung will. Leider sind sowohl Gerichtsverfahren, ob strafrechtlich oder auf dem ordentlichen Gerichtsweg, als auch eine optimale Hilfe vollkommen widersprüchlich angelegt – man muß schließlich nicht erst gründlich prüfen, ob jemand die Wahrheit sagt und die Aussage zwingend auf neutrale Weise aufnehmen – das hilft schließlich nur für ein Gerichtsverfahren…
@KleinerTod
aaah, jetzt verstehe ich besser, was du meinst. Nun, ich sehe deine Vorschläge nicht unbedingt im Widerspruch zu dem, was ich schrieb.
Mein Text ist darauf aus, grundsätzlich zu kritisieren, wem „Rechtsstaatlichkeit“ in einer hierarchischen und von Machtverhältnissen durchzogenen Gesellschaft eigentlich nützt. Im Fall von sexualisierter Gewalt leider meist nicht den mutmaßlichen und tatsächlichen Opfern bzw. Betroffenen. Rechtsvorschriften, Prozesse und Verfahren sind natürlich formal chancengleich ausgelegt. Faktisch aber eben dann doch nicht.
Ich finde schon, dass solche Fälle auch gerichtlich, auch zum Teil öffentlich geklärt werden sollten, da ich Recht aufgrund meiner theoretischen Herangehensweise sehr wohl gesellschaftliche Signalwirkungen unterstelle, die es auch faktisch haben kann. Es konturiert Gesellschaft und setzt Rahmenbedingungen. Insofern haben Urteile auch immer eine Aussage, die gesellschaftliche Relevanz besitzt.
Schöner Text! Man müsste sich aber schon auch darüber Gedanken machen, wie solche Überlegungen in das rechtsstaatliche Verfahren integriert werden können. In den USA gibt es ja zum Beispiel „rape shield“ laws, die eine Befragung des Opfers zu sexuellen Aktivitäten und Beziehungen untersagen. Was meiner Meinung nach ein Riesenproblem ist, ist die häufig schlechte Beweissicherung, die Opfer erst in die Situation kommen lässt, dass es nur auf ihre Aussage ankommt. Außerdem: Kachelmann hatte das Geld für all die Gutachten. Hat Recht vielleicht nicht auch eine Klassendimension, neben der Frage der Geschlechterverhältnisse?
Maria,
danke und guter Einwurf. Klasse oder soziale Schichtung sind auf jeden Fall mindestens genauso relevant. Stimme dir da absolut zu. Mensch könnte sogar noch andere Brillen darauf legen, Intersektionalität ist ein wesentlicher Faktor.
Hmm, gute Frage, ich muss zugeben, dass ich mich mit diesen Möglichkeiten noch nicht eingehender beschäftigt habe, kann mir aber gut vorstellen, das aus dem Bereich der Rechtssoziologie oder der feministischen Rechtswissenschaft dazu schon Vorschläge gemacht wurden.
@Nadine Also wenn das als „gebashe“ ankam tut mir das Leid, aber ich wurde dann doch klar Missverstanden. Es wurde die Frage aufgeworfen für wen die Unschuldsvermutung gilt und ich habe geantwortet. War nicht gewünscht das man auf die Frage antwortet oder war die Antwort nur unerwünscht?
Ich bin leicht verwundert, dass man eine Frage niederschreibt, für wen die Unschuldsvermutung gilt und gleichzeitig sagt „für alle“ sei nicht in Frage gestellt. Welcher Teil meiner aussage ist denn Streitbar, das die Unschuldsvermutung ein Menschenrecht ist? Das die Justiz nach Schuld und Unschuld zu Urteilen hat und nicht nach gesellschaftlicher Signalwirkung? Das in Deutschland – zum Glück – die Gewalten geteilt sind?
Entschuldigung, aber ich bleibe dabei: Der Adressat der Forderung ist falsch. Das Gericht hat sich – so fern man das von außen beurteilen kann – absolut korrekt verhalten. Wenn man möchte, dass in dubio pro reo in Zukunft nicht bei jedem Straftatbestand in vollem Umfang gelte, dann muss man diesen Wunsch an die Politik und nicht an die Justiz tragen.
Wenn man möchte, dass in Zukunft im Regelfall die Aussagen von potentiellen Opfern stärker gewichtet werden als die von potentiellen Tätern, dann begibt man sich auf dünnes Eis.
Und das man dies unterschwellig herauslesen kann sieht man doch am Kommentar von Vito D’Olli. Dort steht alles nun wortwörtlich drin: Schuldspruch wäre Signalwirkung. Kachelmann muss schuldig sein, da er beschuldigt wird. Die Aussage von potentiellen Opfern muss über die von potentiellen Tätern gestellt werden. Und bevor das alles da steht, bedankt er sich für deine klaren Worte.
Nicht das ich das Problem verneinen möchte, das über sexuelle Gewalt zu wenig gesprochen und vor allem zu wenig geklagt (im wahrsten sinne des Wortes) wird. Aber pauschal die Schuld eines jeden Beschuldigten anzunehmen bis er seine Unschuld beweist kann nicht die Antwort sein – das dürfte nämlich genauso schwierig sein wie das Gegenteil und dazu führen, das Unschuldige hinter Gitter gelangen.
Die Frage für wen die Unschuldsvermutung also gilt, ja gelten MUSS, kann man kaum stellen. Viel wichtiger wäre in diesem Fall die Frage, wie man eine „offene Kultur“ um dieses Thema in der Gesellschaft schaffen kann. Gemeint ist nicht, dass diese Taten hingenommen werden, sondern endlich nicht mehr unter den Teppich gekehrt werden und das ein Thema für das „lästern“ unter im 4 Augen Gespräch ist – und das ist es zumindest hier im konservativ Geprägten Teil der Republik – besteht die Chance, das Opfer nicht alleine das sie (unschuldigerweise) Gesellschaftlich gebrandmarkt werden, besteht auch die Chance, dass sich mehr Menschen trauen gegen die Taten gegen sie verübt worden sind vorzugehen – die Zeit wäre dafür reif, finde ich.
Bei ZAPP gabs gestern einen Bericht zur Rolle der Medien, in dem es insbesondere um Sabine Rückert ging http://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/zapp/medien_politik_wirtschaft/kachelmann191.html
Mit diesem Bericht hat sich ZAPP auch nicht unbedingt mit Ruhm bekleckert und schon gar nicht die Ehre der Medien in diesem ganzen unwürdigen Spektakel gerettet.
Wer sich mit Einseitigkeit begnügt, geht meistens schief.
Die unrühmliche Rolle der ehemaligen Vertreterin der Emanzipation wird nicht problematisiert.
Naja – ich seh das ein bisschen anders. Rechtssprechung im Sinne höherer Ziele (Signalwirkung)? Wo fängt man da an, wo hört man da auf? Wen man grad zuwenige Fälle von Crime XY hat, verurteilt man schnell ein paar Unschuldige?
Nein – Die Unschuldsvermutung ist ein Gut, was angesichts hundertausender weltweit (hauptsächlich in Unrechtsstaaten) unschuldig in Haft sitzender Menschen unbedingt 100% eingehalten werden sollte.
Bei allen anderen Dingen stimme ich zu – der gesellschaftliche patriarchische Konsens/Kontext begünstigte *natürlich* eine Auslegung der Dinge zugunsten K’s – vor allem, weil er ja der ’nette‘ Wetteronkel ist.
Hier müssen allerdings andere Mittel greifen, um diese Strukturen aufzubrechen.
Was hält eigentlich Richter/Gerichte/Staatsanwälte davon ab, PARALLEL zur Urteilsverkündung grundsätzliche Debatten anzustossen? Was tun die Medien angesichts dieses fragwürdigen Prozessausgangs? Hab ich das nur verpasst, oder ging es zu 90% nur um die Frage – schuldig oder nicht? Gab es irgendwo Grundsatzdebatten zu dem Thema: Opfer-Traumatisierung, Gründe für männliche/häusliche Gewalt/Vergewaltigung – das ist sowieso ein Thema was meiner Meinung nach viel zu wenig angegangen wird. Prävention. Mir ist die Sicht auf die Dinge viel zu alttestamentarisch. Du böse, jetzt Strafe. Klar brauchen wir diesen Teil des Rechsstaats. Aber Prävention ist oft erfolgreicher. Und eine Strafe macht eine Vergewaltigung nicht rückgängig. Ich würde mir wünschen, dass auf diesem Feld viel mehr gearbeitet wird, um das wichtigste Ziel zu erreichen: Den massiven Rückgang von Sexualstraftaten / Vergewaltigungen.
@Schorsch: Volle Zustimmung!
Der gesellschaftliche Wandel hat im Rechtsprozess nichts verloren.
Auch wenn es noch so richtig ist, dass Urteile im gesellschaftlichen Kontext verhaftet sind. Sie unterliegen auch dem Zeitgeist. Aber deswegen grundlegende Rechte, wie die Unschuldsvermutung und die Verurteilung ausschließlich aufgrund bewiesener Schuld aufzugeben? Dann geben wir uns gesellschaftlich die Kugel!
Die höchstens legitime Frage wäre: Bestanden Zweifel an Kachelmanns Schuld, aufgrund einer (behaupteten) gesellschaftlichen Akzeptanz von sexueller Gewalt? Darüber könnte man streiten. Und ich käme angesichts der bekannten Beweise zum Schluss, dass es faktische Zweifel gab, die einzig einen Freispruch zuliessen.
I.
Dass Recht Machtverhältnisse widerspiegelt – unbestritten. Recht ist (auch) Herrschaft.
Dass Opfern, besonders bei Sexualdelikten, sowohl im Vorfeld eines Prozesses als auch während dessen zuwenig hilfestellende Struktur zur Verfügung steht – ebenfalls unbestritten. Dazu muss noch gesagt werden, dass zumindest innerprozessual die StPO an sich einige Schutzinstrumentarien, wie z.B. den Ausschluss der Öffentlichkeit und/oder des Beschuldigten bei der Befragung bereithält. Da kann man sicher auch noch mehr installieren.
Und schließlich die mediale Begleitung solcher Prozesse – häufig ein Alptraum.
Ich verwehre mich jedoch gegen die immergleichen Stammtischparolen á la Rechtssprechung habe nichts mit Gerechtigkeit zu tun (@ingejahn) oder Gutachter und Gutachterinnen seien nur darauf aus, solange zu prüfen, bis sich Widersprüche in der Aussage des Opfers finden würden (@Nadine). Und nein, die Kammer hat sich das Urteil auch nicht von Friederichsen und Rückert vorschreiben lassen, ihr Beitrag dazu war alles andere als „wesentlich“.
Solche pauschalen und anmaßenden Sprüche würden z.B. in einem feministischen Themenkontext hier – zu Recht – nicht geduldet.
Und Worte, wie @Vito D’Olli sie nutzt, stehen pars pro toto für das, was vorallem Juristen dieser Tage so zornig macht. Eine Verurteilung als „Signal“, obwohl die Schuld nichtmal auf Indizien gestützt werden kann? Ein Exempel statuieren? Ein Strafprozess ist kein politisches Forum und das hat in dieser Republik seinen doppelten (Ab)-Grund!
II.
Das Recht hat kein Potenzial zu gesellschaftlicher Signalwirkung, die über die Bestätigung des status quo hinausgeht. Recht kann und will das nicht leisten. Das wäre auch mit der These, dass Recht ja gerade die bestehenden Verhältnisse abbildet nicht vereinbar. Gesellschaftliche Veränderungen haben allerdings umgekehrt ein gewaltiges Potenzial für Signalwirkung auf das Recht. Das ist zugegebenermaßen eine eigene Diskussion wert.
III.
„Letztendlich kommt damit nicht nur bei den Rechtsgläubigen zum Ausdruck, dass die nachhaltige Bekämpfung von sexualisierter Gewalt und sexistischen Strukturen nicht erwünscht ist.“ –> Solche Sätze, wie sie sonst in anderen Kontexten von CSU-Innenministern oder CDU-Familienministerinnen kommen, machen mich dann wieder etwas ratlos.
LWK, ich hoffe, du hast die verlinkten Texte und auch die anderen Kommentare gelesen.
Ansonsten finde ich es doch ziemlich bemerkenswert, dass du entscheiden möchtest, welche Aussagen in feministischen Kontexten legitim und welche „Stammtischparolen“ sind.
@Benjamin Stöcker: Dass ein Schuldspruch eine Signalwirkung hätte, ist doch offensichtlich, was genau kritisierst du an dieser Aussage? Bist du der Meinung, solche Signalwirkungen seien nicht nötig? Dann guck dir dochmal die Statistiken darüber an, wieviele sexuelle Gewalttaten nie angezeigt werden.
Und wo habe ich denn bitte geschrieben, dass Kachelmann schuldig ist, WEIL er beschuldigt wird? Verstehst du mich absichtlich falsch? Die Frage ist doch umgekehrt: Warum wird er beschuldigt? Die Gesellschaft sagt immer noch: Weil Frauen hysterische und rachsüchtige Lügnerinnen sind. Und das darf nicht sein!
Und ja, ich habe gesagt, dass die Aussage von Opfern ernstgenommen werden muss, und dass man Tätern nicht glauben darf, nur, weil sie die Tat bestreiten. Vielleicht habe ich mich nicht gut ausgedrückt, aber ich sehe nicht, wo du an dieser Aussage ein Problem siehst. Ich verstehe ja, dass Täter ihre Tat abstreiten, oder abstreiten, dass die Tat schlimm ist. Sie wollen sich schützen, das ist ja menschlich nachvollziehbar. Aber die Gesellschaft und die Justiz dürfen ihnen dabei nicht helfen, sondern sie müssen dazu beitragen, dass sexuelle Gewalt endlich ernstgenommen wird.
Die klaren Worte, für die ich mich bedanke, stehen übrigens in den letzten zwei Absätzen von Nadines Beitrag. Es ist sehr schade, dass an diesem eigentlichen Thema vorbeidiskutiert wird und man ihr stattdessen vorwirft, dass sie gegen den Rechtsstaat ist.
@LWK: Du schreibst „Eine Verurteilung als “Signal”, obwohl die Schuld nichtmal auf Indizien gestützt werden kann? Ein Exempel statuieren?“
Es ist eine ziemliche Unterstellung, dass ich ein Exempel statuieren will. Ich denke, du verstehst mich absichtlich falsch um meine Sichtweise zu marginalisieren.
Und „obwohl die Schuld nichtmal auf Indizien gestützt werden kann“? Es kommt eben darauf an, auf welche Indizien Mensch sich stützt, oder? Wenn alle Indizien, die für die Schuld sprechen, als Erfindungen und selbst zugefügte Verletzungen des Opfers bezeichnet werden, bleibt natürlich nur Aussage gegen Aussage. Und dass die Gesellschaft dann den männlichen Tätern glaubt und die Frau als hysterisch und rachsüchtig gilt, ist zwar seit hunderten von Jahren so, aber deshalb noch lange nicht richtig.
@LKW
Zur gesellschaftlichen Signalwirkung von Recht: Das sehe ich ganz anders. Ich denke nicht, dass man in dieser Pauschalität vertreten kann, dass Recht immer nur den gesellschaftlichen Status Quo abbilden kann und will. Zunächst mal trifft die Legislative selbst ab und an zumindest (diesen Begriff „der Gesetzgeber“ finde ich blöd) Entscheidungen für Recht, die gesellschaftliche Verhältnisse verändern sollen. Manchmal auch gegen die Widerstände von Mehrheiten. Und es gibt eine ganze Reihe wegweisender Entscheidungen, zum Beispiel des Bundesverfassungsgerichts, die die Rechte und insbesondere die Würde von Minderheiten schützten. Ich nenne da mal nur die Rechtsprechung zum Transsexuellengesetz, oder zur mittelbaren Diskriminierung. Oder die Nachtarbeitsentscheidung… Das Recht mag nicht das beste Instrument zur Veränderung der Gesellschaft sein, aber das es keinen Beitrag leisten kann und will? In der feministischen Rechtswissenschaft gibt es diese Debatte natürlich auch, was bringen uns „the masters tools“ und so. Ich würde sagen, das Recht ist ambivalent. Es ist einerseits vermachtet und ein Instrument zur Aufrechterhaltung von Herrschaft. Es kann und muss aber auch Instrument für Veränderung sein. Für den konkreten Fall Kachelmann hast Du natürlich Recht, es wäre wohl kaum möglich gewesen, jenseits der rechtlichen Rahmenbedingungen aus politischen Gründen eine andere Entscheidung zu treffen, um eine Signalwirkung zu erzielen.
@Maria
Ja, der Hinweis auf die Legislative ist richtig, ich habe tatsächlich nur an die Rechtssprechung & Lehre gedacht.
Gerade bei der Judikatur des BVerfG, EuGH oder EGMR habe ich dann aber stark das Gefühl, dass solche Urteile, wie von dir genannt, erst fallen, wenn sich außerhalb des Gerichtes eine gewisse kritische Masse von Befürwortern solcher Positionen gebildet hat. Das muss zugegebenermaßen nicht die Mehrheit sein, ist es wahrscheinlich sogar meistens nicht.
Deine Argumentation finde ich in Teilen also durchaus überzeugend. Jedenfalls für einen erstinstanzlichen Strafprozess greift sie aber nicht, wie du in Bezug auf den Kachelmann-Prozess ja auch sagst.
Nadine,
was sind deine konkreten Schlüsse aus deinen Ausführungen. Wie würdest du das Strafverfahren verändern, um der Unschuldsvermutung zugunsten des Angeklagten, aber auch dem „Integritätsinteresse“ des mutmaßlichen Opfers gerecht zu werden?
Und zur Rolle der Medien: Wäre es wünschenswert, für die Medien bei derartigen Prozessen ein Berichtverbot bis zur Urteilsverkündung zu erlassen, um Opfer wie Angeklagte vor einem Spießrutenlauf à la Kachelmannprozess zu schützen? Und falls ja, wie ließe sich dies mit dem Öffentlichkeitsgrundsatz, der auch Angeklagte wie Opfer vor Willkürjustiz schützen soll, vereinbaren?
Kritiken an diesem Verfahren sind derzeit leicht zu erheben. Mit brauchbaren Alternativlösungen, die in diesem Spannungsfeld der Interessen zu besseren Ergebnissen führen, wird allerdings gerne gespart. Hier könnte sich die Mädchenmannschaft positiv abheben!
@Vito D’Olli:
Du benutzt „Kachelmann“ und „Täter“ als Synonyme, aber genau das ist ja gerade die Frage, die bei dem ganzen Verfahren nicht geklärt werden konnte. Du erweckst – zumindest bei mir als Leser – den Eindruck, hier sei ein Vergewaltiger davongekommen und es sei besser gewesen, ihn zu verurteilen, um das Signal auszusenden, dass Vergewaltiger immer verurteilt werden. Damit rennst du im Kreis, denn es gibt zwar offensichtlich eine Reihe Indizien dafür, dass Kachelmann die Frau vergewaltigt haben könnte, aber keinen Beweis dafür, dass er es getan hat. Dein gefordertes „klares Signal“ eines Schuldspruchs hätte also nur bedeuten können: Wir verurteilen jeden, der schuldig aussieht. Und das wäre eine Gerichtsbarkeit, die nur noch gruselig ist.
@Nadine:
Du schreibst oben als letzten Satz „Eine öffentlich geführte und auf Sensibilisierung ausgelegte Auseinandersetzung mit rape culture wäre ein Anfang.“ Absolut, und längst überfällig. In den Kommentaren fügst du hinzu, dass du dies als Alternative zur Rechtsprechung als letztgültiger Wahrheitsfinder betrachtest, und das habe ich nicht verstanden. Bei der Rechtsprechung geht es immer um einen konkreten Einzelfall (= hat Kachelmann vergewaltigt?), bei einem öffentlichen Diskurs um ein abstraktes Thema (= was ist Vergewaltigung, und wie reagiert die Gesellschaft darauf?). Wie könnte eine Debatte über rape culture Kachelmanns Schuldfrage klären?
Liebe Kommentator_innen,
diese Diskussion wird vorerst geschlossen, bis sich alle Gemüter etwas beruhigt haben. Der Moderationsaufwand ist gerade zu hoch. Feminismus-Bashing und Vergewaltigungsverharmlosungen sind hier nicht erwünscht.
Ich bitte darum, den Text erst vollständig zu lesen und erst dann zu kommentieren.
Wir melden uns zurück!
Liebe Kommentator_innen,
wir werden diese Diskussion weiterhin geschlossen halten, da wir nicht die Kapazitäten besitzen, den hohen Moderationsaufwand in diesem Thread zu bewältigen.
Kurz noch ein paar Dinge zum Inhalt der Diskussion:
In dem Text geht es darum sexualisierte Gewalt und deren Bekämpfung/Verurteilung in einen größeren Kontext zu setzen. Dieser Kontext heißt: Machtstrukturen. Wer_welche die verlinkten Texte und den Text selbst aufmerksam bis zum Ende gelesen hat, sollte zumindest Verständnis für meine Perspektive auf den Fall Kachelmann aufbringen können. Wer_welche das nicht kann, von dem_der ist in einer konstruktiven Diskussion zu erwarten, dass er_sie andere Perspektiven anerkennt. Das ist hier nicht geschehen.
Stattdessen wurden einige Aussagen in ihr Gegenteil verkehrt, um sie zu kritisieren oder die Grundaussage des Textes (dass Menschen im Kontext von sexualisierter Gewalt nicht gleich positioniert sind und die Strukturen hierzulande diesen Fakt stützen) in Frage gestellt. In einer Art und Weise, die weder im Ton noch inhaltlich auf einem feministischen Blog fruchtbar ist.
Auf einem gesellschaftskritischen Blog kann zudem erwartet werden, dass Diskutierende in der Lage sind, ihre eigene gesellschaftliche Position in einer Diskussion (um sexualisierte Gewalt wohlgemerkt) mitzureflektieren. Auch das ist hier leider zum Großteil nicht passiert: Mansplaining, uninformierte Feminismuskritik, persönliche Angriffe und das Voraussetzen einer individuellen, gleichwertigen Sprecher_innenposition.
Da die bisher abgegebenen Kommentare sehr eindrucksvoll das Machtgefälle repräsentieren, das im Ausgangstext kritisiert wird, belassen wir es jetzt dabei und wünschen allen ein schönes Wochenende.
Nadine
edit: für alle, die es interessiert >> Mindinprogress hat ein paar Ergänzungen zur Thematik.