Wir freuen uns über unseren heutigen Gastbeitrag von Lea! Lea studiert „Nonprofit-Management und Public Governance“ und interessiert sich für Gender- und Queerthemen. Sie* hat mit Zwischengeschlecht.org über das neue Personenstandsgesetz gesprochen.
Plötzlich war ganz schön was los! Deutsche und internationale Medien berichteten Mitte August über das Personenstandsrechts-Änderungsgesetz als eine Geschlechterrevolution. Ab November gilt es: künftig wird in der Geburtsurkunde neben „männlich“ und „weiblich“ auch „ “ (nichts) eingetragen werden. Die Regelung wurde für Intersex-Kinder geschaffen. Was nach Befreiung klingt, alarmierte Menschenrechtsgruppen wie Intersexuelle Menschen e.V., IVIM-OII oder Zwischengeschlecht.org.
Der Deutsche Bundestag hat das Personenstandsgesetz bereits am 7. Mai 2013 geändert: „Kann das Kind weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden, so ist der Personenstandsfall ohne eine solche Angabe in das Geburtenregister einzutragen“, heißt es in Paragraph 22 Absatz 3 des Personenstandsgesetzes ab dem 1. November 2013. Die schwarz-gelbe Bundesregierung überrumpelte einen Tag vor der ersten Beratung im Januar die Opposition und Menschenrechtsorganisationen: „Die vorgesehene Regelung stellt klar, dass die Geschlechtsangabe im Geburtseintrag offen bleibt, wenn diese nicht zweifelsfrei feststeht“, hieß es nun in der Beschlussempfehlung des Innenausschusses.
„Das ist ein stigmatisierendes Sondergesetz“, kritisiert Markus Bauer, der die Kampagnen der Menschenrechtsgruppe Zwischengeschlecht.org leitet. Längst schon kann die Beurkundung des Personenstands zurückgestellt werden, wenn Angaben oder Nachweise fehlen. Einträge können auch später noch geändert werden, auch wenn Behörden oft Steine in den Weg legen. „Die Änderung im Januar war ein Ablenkungsmanöver der Regierung“, meint Daniela Truffer, Vorsitzende von Zwischengeschlecht.org, „von den Genitalverstümmelungen. Die Personenstandsdebatte bringt den Betroffenen nichts.“ Markus Bauer nennt das Gesetz eine an LGBTs gerichtete Wahlkampfmasche: „Ob das Gesetz Intersexen wirklich etwas bringt, interessiert kein Schwein.“
Einige Medien haben die deutsche Regierung kurz vor der Wahl als fortschrittlich gelobt. Heribert Prantl jubelte am 16. August 2013 in der Süddeutschen Zeitung von einer „rechtliche Revolution“, deren Tragweite nicht beachtet worden sei. Er war bei der Fachlektüre der FamRZ darauf gestoßen. Friederike Heine nahm den Ball auf Spiegel Online International auf: Deutschland ermögliche ein drittes Geschlecht. Die Gesetzesänderung erlaube Eltern, aus der Geschlechtszuweisung ihres Neugeborenen auszusteigen. Auch die Huffington Post schrieb, Deutschland biete ein drittes Geschlecht an. The Guardian äußerte sich später ähnlich. Mit Intersexen hatte übrigens keine der Zeitungen gesprochen. „Die Medien unterstützen die Politik der Regierung“, ordnet Truffer die Berichterstattung ein.
Denn die Darstellung von Süddeutscher Zeitung, Spiegel Online, Huffington Post und The Guardian ist teilweise falsch. Es gibt keinen dritten Geschlechtseintrag. Die neue Vorschrift bedeutet die Pflicht, ihn wegzulassen, wenn das Geschlecht nicht zugeordnet werden kann. Markus Bauer sagt: „Neugeborenen wird ein Stempel aufgedrückt.“ Truffer ergänzt: „Eltern geraten unter Druck, ein staatliches Zwangsouting zu vermeiden.“ Das Gesetz stärkt somit Eltern und Ärzt_innen, die kosmetische Genitalanpassungen an Intersex-Kindern vornehmen. Es macht Ärzt_innen noch mehr zu Gutachter_innen als bislang. Markus Bauer will eine andere Lösung: „Es braucht hier klare Gesetzesregelungen statt Entscheidungen der Medizin.“ Auch der Deutsche Ethikrat hat in seiner Stellungnahme 2012 nicht das empfohlen, was der Bundestag beschlossen hat. Demnach soll es tatsächlich einen dritten Geschlechtseintrag „anderes“ geben, aber als Wahlmöglichkeit. Dies soll durch die Variante, kein Geschlecht zu beurkunden, ergänzt werden, bis das Kind für sich selbst entscheide. Daniela Truffer sagt: „Die meisten würden sich nicht als Intersex eintragen. Sie leiden unter den Operationen und den Medikamenten. Ein dritter Geschlechtseintrag Anderes nützt in erster Linie anderen Gruppierungen und macht Intersexe noch unsichtbarer.“ Gegen ein weiteres Geschlecht als Wahlmöglichkeit für Erwachsene sei nichts einzuwenden, aber dann eben nicht im Namen von Intersexen. Und schon gar nicht ohne das Verbot der Genitalverstümmelung, beschwert sich Truffer: „Hier findet Personenstandspolitik auf Kosten verstümmelter Kinder statt.“
Die Oppositionsfraktionen der SPD, der Grünen und der Linken haben am 27. Juni 2013 drei Anträge in den Bundestag eingebracht, die kosmetische Genitaloperationen an Minderjährigen verboten und eine historische Aufarbeitung verlangt hätte. „Diese drei Anträge waren die erste gute Sache für uns“, findet Bauer. Die Fraktion der CDU/CSU und der FDP haben die Anträge aber abgelehnt. Auch damit stehen sie gegen die Empfehlung des Ethikrats. Selbst die Rügen der UNO, zuletzt durch den UN-Sonderberichterstatter über Folter, ignoriert die Regierungskoalition. Insbesondere die CDU/CSU-Fraktion lässt hier nicht mit sich reden, will erst einmal abwarten. „Alle wollen Genitalverstümmelungen verbieten. Aber wenn es um die Praxis geht, klemmt die Regierung“, ärgert sich Bauer. Doch auch die Oppositionsparteien interessierten sich erst neuerdings für das Thema. Pikant: am selben 27. Juni verschärfte der Bundestag (vollkommen richtig) die Strafe für Genitalverstümmelung an Frauen. Eine Analogie zur Verstümmelungspraxis an Intersexen herzustellen, gelang CDU, CSU und FDP offenbar nicht.
Das Verbot kosmetischer Genitaloperationen an Minderjährigen ist die wichtigste Forderung von Zwischengeschlecht.org. Das Personenstandsrecht könne dann auch noch geändert werden: Eltern trügen das Geschlecht des Kinds ein, zur Volljährigkeit könnte dieses den Personenstand unbürokratisch ändern lassen.
Doch damit ist erst einmal nicht zu rechnen. Bis der Bundestag nach den Wahlen neu zusammentritt und eine Regierung gewählt hat, ist es voraussichtlich Mitte November. Das Personenstandsrecht-Änderungsgesetz ist dann bereits in Kraft getreten. Ein Verstümmelungsverbot gibt es noch immer nicht.
„Das ist ein stigmatisierendes Sondergesetz“
„Ein dritter Geschlechtseintrag Anderes nützt in erster Linie anderen Gruppierungen und macht Intersexe noch unsichtbarer.“
Das verstehe ich nicht ganz. Intersexe sollen nicht unsichtbar gemacht werden, aber wenn sie sichtbar gemacht werden, ist das Stigmatisierung?
Wie kann eine Sichtbarmachung aussehen, die NICHT stigmatisiert?
@AnitaTS:
Sichtbarkeit sollte mensch selbst bestimmen können und nicht mit einem Eintrag im Geburtenregister aufgedrückt bekommen. Ein Zwangsouting ist kein sonderlich emanzipatorischer Schritt.
Besser wäre es, wenn es die freie Wahl gäbe, sich einen Personenstand zu geben, der weder m noch w ist (und nicht ein Leerlassen des Eintrages). Dann könnten die Leute sichtbar werden, die sich sicher genug fühlen um sich sichtbar zu machen.
Wäre es nicht noch viel einfacher, den Geschlechtseintrag abzuschaffen?
@AnitaTS: Es gibt zurzeit die verpflichtenden Geschlechtseinträge „weiblich“ (für Neugeborene, bei denen eine Vulva zugeordnet wird) und „männlich“ (für Neugeborene, bei denen ein Penis zugeordnet wird), ab November gibt es noch den verpflichtenden Nicht-Eintrag „–“ (für Neugeborene, die nicht zugeordnet werden können). Der Geschlechtseintrag „anderes“ stellt eine vierte Variante dar. – Der Nicht-Eintrag wird von der interviewten Menschrechtsgruppe Zwischengeschlecht.org u.a. als stigmatisierend und abzulehnend angesehen. Der davon unabhängige mögliche weitere Eintrag „anderes“ wird nicht abgelehnt, aber die Gruppe Zwischengeschlecht.org bezweifelt den Nutzen für Intersexe, sondern sieht bspw. eher Vorteile für Trans* oder Queers (was denen nicht verübelt wird, aber Zwischengeschlecht.org möchte eben auch nicht, dass Intersexe dafür vereinnahmt werden). Der Nicht-Eintrag und der Eintrag „Anderes“ sind voneinander unabhängig.
@Project Enigma: Tatsächlich hat der Deutsche Ethikrat in seiner Stellungnahme zu Intersexualität empfohlen zu prüfen, „ob eine Eintragung des Geschlechts im Personenstandsregister überhaupt noch
notwendig ist.“ (ebd., S. 178) Dies würde es für viele Menschen, die nicht in das binäre Schema Mann–Frau passen, erleichtern. Zugleich könnte dies in einer patriarchal strukturierten Gesellschaft (unsere ist so) dazu führen, dass alle nicht privilegierten (Frauen, Intersexe, Trans* etc.) nicht zwingend sichtbarer würden, sondern dass Benachteiligungen eben auch schwerer nachweisbar wären. Zu glauben, dass die Abschaffung der verschiedenen Geschlechtseinträge automatisch zum Ende sexistischer und interphober Unterdrückung führen würde, halte ich für einen Trugschluss. Beispielsweise wäre damit immer noch nicht gelöst, dass Intersexe in Deutschland genital beschnitten werden als Kleinkinder. Und des weiteren würde dies ja auch nicht dazu führen, dass Intersexe sichtbarer würden als im binären System Mann–Frau. Es handelt sich in jedem Fall nicht um eine vorrangige Forderung der Gruppe Zwischengeschlecht.org, die sehen das Verbot kosmetischer Genitaloperationen an Minderjährigen als am wichtigsten an.
@Project Enigma: Der Link zum Ethikrat stimmte nicht. Hier geht es zur Stellungnahme zu Intersexualität des Deutschen Ethikrats.
Ist nicht gerade die Schwierigkeit, dass viele Eltern auf ein Intersex-Kind irgendwie panisch und unvernünftig reagieren (weil voller eigener Vorurteile) und somit durch Kurzschluss-Entscheidungen dem Kind schaden, nur weil es sich für sie besser anfühlt? Die Entscheidung, ein Kind einer erzwungenen geschlechtsangleichenden (ist das so richtig?) Operation zu unterziehen, treffen doch, soweit ich weiß, die Eltern. Und natürlich werden sie leider meist von anderer (ärztlicher) Seite dazu gedrängt…
Somit sehe ich die völlig freie Entscheidung auch als irgendwie problematisch an, weil sie eben direkt nach der Geburt nicht die betreffende Person selbst treffen kann. Zumindest kann mit der „Lücke“ sichergestellt werden, dass Neugeborene nicht in ein falsches Geschlecht gezwungen werden und sinnlose Operationen erleiden müssen, das ist immerhin ein Trost.
Denn Freiheit hin oder her…Gegen Dummheit und reaktionäre Weltbilder ist leider kein Kraut gewachsen.
@Judith: Ich finde es etwas schwierig, hier von „Dummheit“ und Unvernunft zu sprechen. Man macht es sich meines Erachtens auch etwas einfach, wenn man Eltern in so einer komplexen und folgenschweren Angelegenheit des einfachen Wegs aus Ignoranz bezichtigt. „Nur weil es sich für sie besser anfühlt“, well, ich weiß nicht wieviele Eltern in einer Situation gesellschaftlichen, medizinischen, verinnerlichten, familiären und was weiß ich was noch für Drucks (abgesehen davon dass eine Geburt/Baby haben immer eine gewisse Extremsituation ist) sich das so total leicht machen, Entscheidungen für ihre Kinder zu fällen. Das soll etzt keine Legitimation und Generalabsolution sein, ich denke nur, es ist etwas zu einfach gedacht, dass Eltern *der* neuralgische Punkt in dieser Sache sind.
Dass Operationen durch das neue Gesetz vermeiden werden, ist doch gerade nicht so wahrscheinlich, wenn ich das recht verstehe? Im Text steht jedenfalls:
@Lea:
1. Da gebe ich mich keiner Illusion hin. Eine Abschaffung des Geschlechtseintrages (wenn ich das denn je erleben sollte) würde für sich alleine vermutlich nicht ausreichen, um Beschneidungen/Genitaloperationen/-verstümmelungen bei intersexuellen Kindern zu vermeiden. Dazu bräuchte es wahrscheinlich ein auch wirksam durchgesetztes Verbot. Nebenbei auch bei anderen Kindern. Es kann nicht sein, dass auch nur „leichteste“ Beschneidungen an eindeutig als Mädchen gelesenen Kindern nun als Verbrechen strafbar sein sollen (und ggf. zu recht gefordert wird, das auch noch in den Katalog der Auslandstaten aufzunehmen), und gleichzeitig als Jungen gelesene Kinder ausdrücklich „Freiwild“ sind, und intersexuelle Kinder für noch oft weit schwerwiegendere Eingriffe unausdrücklich, aber dennoch genauso.
2. „Zugleich könnte dies in einer patriarchal strukturierten Gesellschaft (unsere ist so) dazu führen, dass alle nicht privilegierten (Frauen, Intersexe, Trans* etc.) nicht zwingend sichtbarer würden, sondern dass Benachteiligungen eben auch schwerer nachweisbar wären.“ Dieses Argument kann ich andererseits nicht teilen. Denn sonst bräuchten wir auch in den Personenstandsregistern o.ä. Einträge für „Rasse“, „Religion“, „Herkunft“, etc. (also die ganzen Bereiche, wegen derer mensch privilegiert oder unterdrückt/diskriminiert sein kann), um solche Benachteiligungen nachweisen zu können. Und selbst in Bereichen, wo es teils offizielle Feststellungen gibt, z.B. Behinderung, sieht ja selbst die Rechtsprechung, dass mensch auch dann wegen Behinderung diskriminiert sein kann, wenn xie keinen offiziellen GdB hat. Warum soll es dann nicht auch möglich sein, sowohl im rechtlichen Rahmen, als auch „draußen“ gegen Unterdrückung und Diskriminierung auch entlang dieser Kategorien vorzugehen, wenn sie nicht staatlich registriert sind? Oder genauso: Brauchen wir „rosa Listen“, um gegen Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung vorzugehen? Oder können nur eingetragene Lebenspartner dies? *g*