Nach der Gedenkveranstaltung anlässlich des 100sten Jahrestages des Endes der deutschen Kolonialherrschaft im heutigen Namibia (9. Juli 1915) saß ich letzte Woche in einem Restaurant sowohl mit meinem zwölfjährigen Sohn als auch den namibischen Gästen: dem OvaHerero Paramount Chief Advocate Vekuii Rukoro, der Parlamentsabgeordneten und Nama-Vertreterin Ida Hoffmann, der Vorsitzenden der Ovaherero and Ovambanderu Genocide Foundation Esther Utjiua Muinjangu und Daniel Timotheus Frederick, in Berlin als Vertreter des Nama-Chiefs David Frederick. Sämtliche solidarische Unterstützer_innen waren auch dabei. Es war ein wunderschöner Neuköllner Sommerabend.
Wir freuten uns alle, dass so viele Leute sich die Mühe gemacht haben, den Weg in die Werkstatt der Kulturen zu finden, um die Gedenkveranstaltung und anschließende Podiumsdiskussion beizuwohnen. Und während wir anderen Erwachsenen am Esstisch uns über dies und jenes austauschten, merkte ich, wie sich mein Sohn an Daniel Timotheus Frederick wand, um ihn zu fragen: „Ich verstehe es nicht. Warum geben sie dir einfach nicht den Schädel zurück?“
Gemeint war der Schädel, den Daniels Vater unbedingt zurück in Namibia haben will. Der Schädel von Chief Cornelius Frederick – Daniels Großvater. Er wurde 1906 in der damaligen Kolonie Deutsch Süd-West Afrika ermordet und sein Kopf – wie die Köpfe unzähligen anderen OvaHerero und Nama – wurde nach Deutschland verschleppt.
Daniel schaute mich resigniert an. Auch er wusste keine Antwort.
Warum gibt Deutschland nicht einfach die Schädel zurück? Warum entschuldigt sich Deutschland nicht bei den Nachfahren der Opfer für seine Gräueltaten in der Kolonialzeit?
Es dürfte eigentlich nicht so kompliziert sein. Inzwischen wird sogar in offiziellen Kreisen offen von „Völkermord“ gesprochen. In einem Beitrag für die ZEIT hat der Präsident des Bundestages, Dr. Norbert Lammert, den Genozid an den Ovaherero und Nama endlich beim Namen genannt. Kurze Zeit später wurde bekannt: Die Bundesregierung:„(…) erkennt die schwere Schuld an, die deutsche Kolonialtruppen mit den Verbrechen an den Herero, Nama, Damara und San auf sich geladen haben und betont, wie Historiker seit langem belegt haben, dass der Vernichtungskrieg in Namibia von 1904 – 1908 ein Kriegsverbrechen und Völkermord war.“
Ist das für die Nachfahren der OvaHerero und Nama ein Durchbruch?
Israel Kaunatjike, ein in Berlin lebender OvaHerero und Aktivist im NGO Bündnis „Völkermord verjährt nicht!“, verneint es: „Wir begrüßen die überfällige Anerkennung des Genozids und werten sie als großen Erfolg unseres jahrelangen Kampfes. Aber die Formulierung der deutschen Regierung lässt befürchten, dass an keine förmliche Entschuldigung gegenüber den Ovaherero und Nama gedacht ist…“
Auch mein Sohn wundert sich darüber, warum die Bundesregierung ausschließlich die heutige namibianische Regierung als Gesprächspartner anzuerkennen scheint. Laut Kaunatjike: „…Als direkt vom Völkermord betroffene und damals enteignete Gesellschaften sollen wir [Ovaherero] offenbar auch nach der förmlichen Anerkennung des Genozids von den laufenden Entschädigungsverhandlungen zwischen der deutschen und der namibischen Regierung ausgeschlossen bleiben…“
Es ist schwierig, solche Sachen meinem Sohn zu erklären. Ich erzählte ihm, dass Deutschland einen sehr schwierigen Umgang mit seiner Erinnerungskultur auch in Bezug auf die Kolonialzeit zu pflegen scheint. Wir erinnerten uns an die Frage von Esther Utjiua Muinjangu, die sie in ihrem Beitrag bei der Podiumsdiskussion stellte: „Geht man so mit uns um, weil wir Schwarz sind?“ Im Saal wurde betreten geschwiegen. Keine andere Schlussfolgerung scheint naheliegender.
Obwohl die Petition „Völkermord ist Völkermord“ bereits am Bundespräsident abgegeben worden ist, hat sie nichts an Wichtigkeit, Relevanz und Aktualität verloren. Sie kann bis zum 111. Jahrestag des deutschen Genozidbefehls am 2. Oktober 2015 noch unterschrieben werden. Ich habe sie unterschrieben, weil ich fest davon überzeugt bin, dass zu einer anständigen Anerkennung des Völkermords eine offizielle Entschuldigung und Verhandlungen mit den Ovaherero und Nama gehört.
Die Fragen meines Sohnes kann ich allerdings immer noch nicht beantworten. Auch das verjährt nicht.
Liebe Sharon, vielen Dank für deinen Text. Ich finde es auch schon wieder so bezeichnend, wie die Formulierung der Bundesregierung lautet. Dass es da heißt „wie Historiker seit langem belegt haben“, macht so vieles deutlich, was du ja auch hier beschreibst. ‚Historiker‘ (und ich bin mir sehr sicher, dass hier vor allem weiße, deutsche, an Universitäten angebundene Personen gemeint sind) mussten erst feststellen, dass es ein Kriegsverbrechen, ein Völkermord war, die Stimmen der Ovaherero und Nama für den Prozess unbedeutend.
@Charlott: Vielleicht war es aber auch so, dass nahezu ALLE Historiker_innen (also auch diejenigen, die selbst unter der Kolonialherrschaft leiden mussten oder zumindest nicht weiß, männlich etc. sind) seit langer Zeit schon die nun von der Bundesregierung akzeptierte Position vertreten haben? Wenn Merkel und Co. jetzt eine Meinung übernehmen und um ihre konservative Wählerschaft nicht zu vergraulen die Wissenschaft mit ins Boot holen (obwohl sie dort eventuell schon lange gesammelt vor sich hinruderte), kann das der Wissenschaft nicht vorgeworfen werden, sondern nur Merkel und Co. selbst.
Solltest Du allerdings wissen, dass die führenden weißen männlichen Historiker allesamt gerade jetzt erst von Völkermord sprechen, ist Deine Kritik natürlich völlig korrekt, dann hättest Du diese Info aber auch nicht als Frage formulieren müssen, oder?
Genauso ist es Charlott.
Erst habe ich mich so über die Aussage der Bundesregierung riesig gefreut. Und dann dämmerte mir es…
Sehr sehr enttäuschend. Und leider nicht wirklich überraschend.
In Zusammenarbeit mit Sharon Otoo, Israel Kaunatjike und vielen anderen ist 2013 ein Film entstanden, den ich hier an dieser Stelle empfehlen möchte. Die aktuellsten Ereignisse sind zwar nicht mehr mit enthalten, ansonsten bietet er aber einen kleinen Einblick in die historische Entwicklung und bisherige Diskussion.