Am 16. November lädt der AK Psychiatriekritik zum Podium Psychiatriekritik & Geschlecht nach Berlin ein. Die Veranstalter_innen informieren:
2013 wird voraussichtlich das DSM V erscheinen. In ihm werden die Diagnosen für die sog. „psychischen Krankheiten“ für den nordamerikanischen Raum festgelegt. Dieses Handbuch hat einen enormen Einfluss auf die Definierung der entsprechenden Diagnosen im Manual der Weltgesundheitsorganisation, welches die Grundlage der Abrechnung für die gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland bildet. Dass die Diagnose „Geschlechtsidentitätstörung“ vom DSM IV für das DSM V übernommen werden soll, hat bereits im Vorfeld zur breiten Formierung von Protest geführt. U.a. hat sich ein internationales „Stop Transpathologization 2012“ Bündnis gegründet. Der Protest gegen die Diagnose Geschlechtsidentitätstörung deckt exemplarisch die Schnittstellen zwischen antipsychiatrischen / psychiatriekritischen und die von lgbtiq-Gruppierungen formulierte Kritik auf. So spielt die Psychiatrie eine wesentliche Rolle in der Konstruktion von Geschlecht – u.a. wurde die Frau mit der Diagnose Hysterie zum „kranken Geschlecht“ und Homosexualität galt bis 1992 als psychische Krankheit. Im Rahmen eines Bündnisses kam es zu Beginn 2012 zu einer ersten Zusammenarbeit in Berlin. Eine radikalere Kritik am psychiatrischen System seitens der lgbtiq-Gruppierungen wurde hierbei von den psychiatriekritischen Gruppierungen gewünscht. Im Rahmen eines öffentlichen Podiums sollen nun mögliche Konfliktlinien, aber auch Möglichkeiten politischer Zusammenarbeit diskutiert werden.
Am Podium nehmen Vertreter_innen von folgenden Initiativen/Institutionen teil: ABQueer, Ikarus Projekt Dresden, STP2012, TRIQ, Weglaufhaus.
Das Podium fndet statt am 16. November 2012 um 19 Uhr im k-fetisch (barrierefrei), Wildenbruchstr. 86. Der nächste barrierefreie U-Bahnhof: Rathaus Neukölln.
Die Schräglage der Psychiatrie und psychiatrischen Diagnostik im Genderdiskurs ist bis heute noch nicht ausreichend aufgearbeitet worden. Bis heute sind es deutlich häufiger Frauen, denen die Diagnosen „Narzissmus“ oder „Borderline“ übergebraten werden. Insgesamt zeigt sich eine Tendenz, auch in der Psychiatrie von heute, Frauen für krank zu erklären, während hingegen ähnliches oder gleiches Verhalten von Männern eben nicht als krank gilt. Solche Witzdiagnosen wie „Negativismus“ (gab es noch unter DSM III) wurden in den USA systematisch auf Arbeitnehmer_innen angwendet, welche sich gegen Ausbeutung oder schlechte Arbeitsbedingungen im Betrieb wandten, oder sogar gegen Frauen, welche nach Ansicht ihrer Psychiater nicht genügend Hingabe für die Hausarbeit aufwandten…
Widerständiges, deviantes, selbstermächtigendes aggressives Verhalten von Frauen, die sich damit gegen ihre Unterdrückung oder Nervereien richten, wird psychiatrisiert, während nicht minder aggressives und zusätzlich fremdverletzendes Verhalten von Männern sehr viel häufiger für „an sich normal“ erklärt wird. Mithin, männliche Täter bekommen maximal ein Antigewalttraining, Frauen hingegen werden psychiatrischen Krankheitsbildern zugeordnet.
Ein anderes Beispiel: Auch der Begriff „passivaggressiv“ (das ist übrigens als Diagnosebegriff im Wesentlichen eine Spätfolge des angeblichen Krankheitsbildes Negativismus) wird im Wesentlichen auf Frauen bzw. Verhalten von Frauen angewendet.
Das gleiche Muster ergibt sich im Umgang mit Homosexualität, Transsexualität oder nichtdominanten Formen von Männlichkeit, welche heute noch ziemlich häufig als „Ich-Schwäche“, „Identitätskrise“ oder „Persönlichkeitsstrukturstörung“ gedeutet werden. Antisoziales, skrupelloses Verhalten von Männern (z.B. in Führungspositionen) wird als Rollenvorbild oder als Ausdruck besonderer Männlichkeit abgefeiert, während ähnliche Verhaltensstrategien von Frauen durchweg als negativ auffällig oder als „krankhaft“ bewertet werden, was sogar ziemlich schnell ins berufliche Aus münden kann – oder eben sogar in die Psychiatrie.