(Triggerwarnung: Thematisierung von traumatischen Erlebnissen/ Aufarbeitung einer Vrgwltgng im Beitrag so wie in den Verlinkungen.)
Wenn einer Person sexualisierte Gewalt angetan wird, ist der anschließende Umgang damit für die Betroffenen und ihre Verbündeten (sofern die Betroffenen das Glück haben, welche zu finden) meistens ein Drahtseilakt (RW: Redewendung). Zu dem Trauma und dem Gefühl des Ausgeliefertseins kommt oft eine quälende Hilflosigkeit hinzu. Navina N. hat sich deshalb die Mühe gemacht, zwei umfangreiche Hefte mit dutzenden Informationen und möglichen Handlungsansätzen für beide Seiten (Überlebende und Verbündete) zu verfassen. Beide Broschüren sind sehr empathisch geschrieben, versuchen nie zu belehren, sondern immer nur zu unterstützen – daher auch der Name Unterstützer_innenInfo. Navina N. schreibt selbst, dass sie versucht hat, Reizwörter (Trigger) zu vermeiden – wo es ihr nicht gelungen ist, gibt es entsprechende Triggerwarnungen. Außerdem steht jedes Kapitel für sich, kann also auch einzeln gelesen werden, falls eine*r gerade nicht die Zeit oder Kraft hat, die ganzen 60 beziehungsweise 70 Seiten auf einmal durchzugehen. Darüber hinaus gibt es Kontaktadressen, ein Glossar und Tipps zum (kostenlosen) Weiterlesen.
Das erste Heft (für Betroffene) trägt den Namen Aufbruch und wird mit folgenden Sätzen eingeleitet:
Wenn du diese Zeilen liest, gibt es vermutlich keinen schönen Grund dafür. Vielleicht bist du in eine Situation geworfen worden, die für dich sehr schwierig ist. Wenn es so ist, eines vorweg: Was auch immer dir passiert sein mag, es ist nicht deine Schuld. Nichts, aber auch gar nichts, was andere Menschen mit dir machen oder gemacht haben, ist deine Schuld. Aber du musst mit allem, was passiert ist, irgendwie umgehen. Das ist nicht fair, trotzdem ist es Realität. Dieses Heft soll versuchen, dir den Umgang mit deinen Erlebnissen zu erleichtern.
Der zweite Teil (für Verbündete) heißt Wegbegleitung und geht neben Möglichkeiten der Unterstützung auch auf die Gefühlswelt der Verbündeten ein. Denn auch für sie kann der Prozess schmerzhaft, wenn nicht gar retraumatisierend sein, und selbst wenn nicht, so tritt oftmals ein Gefühl der Überforderung ein. Was kann ich tun? Was sollte ich lassen? sind Fragen, auf die sich oft nicht so leicht Antworten finden lassen. Genau hier setzt die Broschüre an.
Irgendwie bin ich damit nicht ganz glücklich. Dass männliche Täter und weibliche Opfer als Standardschema dargestellt werden, ohne andere Konstellationen zu thematisieren, finde ich nicht so gut.
Konfrontation ist schon ein ziemlich heftiges Thema und mich irritiert, mit welcher Selbstverständlichkeit das als Handlungsoption dargestellt wird.
Inhaltswarnung für den Link: Dazu gerade in der Frankfurter Rundschau gelesen, dass eine Frau, die zwei Täter angezeigt hat, wegen Verläumdung angeklagt wurde. http://www.fr-online.de/leute/-kinderbordell-jasmin–die-zeugin-als-angeklagte,9548600,20820120,view,DEFAULT.html
Aber es steht doch in den Heften nichts davon @Leslie
zumindest habe ich das nicht wahrgenommen.
Standardschema: Beim Durchstöbern fällt auf, dass der Täter als einziger kein „_in“ bekommen hat, und in der „Wegbegleitung“ ist die Betroffene durchgängig weiblich. Vielleicht ist dies gemeint.
Beim ersten Blick sind auch die Anlaufstellen „alle“ für Frauen (was aber auf dem zweiten Blick dann nicht mehr stimmt).
Leute, deren Erfahrungen nicht in diese Struktur passt, könnten etwas verunsichert sein dadurch und sich etwas ausgeschlossen und allein fühlen. Da die Broschüre eigentlich sonst keine Dinge thematisiert, die an Genderrollen festgebunden sind, wäre das durch ein paar „_in“ problemlos auszuräumen. (Und ein kleiner Minipunkt: Die Seitenzahlen in der „Aufbruch“ scheinen nicht alle zu stimmen. Ich überblättere die problematischen Passagen gerne; und bin nach Inhaltsverzeichnis jedes Mal falsch gelandet)
Insgesamt finde ich die Broschüren toll, sie bringen vieles knapp auf den Punkt, und auch gut lesbar, wenn das eigene Hirn da empfindlich und leicht triggerbar ist.
Im Titel des Artikels ist von „Überlebenden“ die Rede, ich nehme an in Zusammenhang mit dem englischen Wort „survivors“.
Es ist jedoch problematisch in Deutschland den Begriff direkt zu übersetzen und auf sexualisierte Gewalt anzuwenden, da dieser Begriff Überlebenden des Holocaust zusteht.
Es geht mir nicht um das Infragestellen des Begriffs und dessen Wichtigkeit für Betroffene sexualisierter Gewalt generell, sondern ich möchte darauf aufmerksam machen, dass in Deutschland dieser Begriff eine andere Bedeutung hat.
(der Kommentar bezieht sich nur auf den Titel, da im Artikel von Betroffenen gesprochen wird).
@ Inna, das ist ein schwieriges Thema, weil der Begriff auch im deutschen für Betroffene von sexualisierter Gewalt verwendet wird, und zwar vorallem auch im Kontext der Selbsthilfe (siehe zB hier oder hier). Ich kenne mehrere Personen, die sich selbst so bezeichnen, und für die der Begriff eine empowernde Bedeutung hat.
Ich bin mir gerade noch nicht sicher, wie ich mit diesem Hinweis umgehen werde, ich finde das ist schwierig und nichts, was sich so direkt auflösen lässt… :/
@inna: „da dieser Begriff Überlebenden des Holocaust zusteht.“
wieso sollte denn der begirff „überlebende“ für holocaust-überlebende exklusiv reserviert sein? das macht doch keinen sinn. es gibt doch auch überlebende nach unfällen etc. – da „darf“ der begriff doch verwendet werden.
ich finde nicht, dass ein begriff nur eine bedeutung haben sollte/dürfte/kann. klar ist in deutschland die verknüpfung mit dem holocaust historisch gegeben, aber deswegen heißt es doch nicht, dass „andere überlebende“ diesen begriff nicht verwenden dürfen.
Ich tu mir auch sehr schwer mit dem Begriff „Überlebende“ in diesem Zusammenhang. er steht in Deutschland für ein anderes Trauma, für Überlebende des Holocaustes, und das ist für mich nicht zu vergleichen.
Er bezeichnet in Deutschland nämlich eben nicht „ich habe was sehr schlimmes überlebt“ sondern steht für „ich habe den Holocaust überlebt“.
Ich weiß, dass manche Selbsthilfegruppen den Begriff verwenden. Ich kriege dabei Bauchschmerzen und finde ihn deswegen dann auch nicht mehr empowernd. Manche verwenden den englischen Begriff, das finde ich besser, klar, ist nur ne Übersetzung, aber eben anders besetzt.
Es geht nicht darum zu sagen, dass es nicht richtig ist zu sagen: „Ich habe überlebt“. Sondern tatsächlich um den konkreten Begriff „Überlebende“. Überlebende des Holocaustes verschwinden in unserer Gesellschaft sowieso konsequent. In Wahrnehmung und besonders auch in Sprache. Fortgesetztes Verschwinden der Opfer nannte das eine Autorin mal.
Daher finde ich es wichtig, darauf zu achten, wie mit dem Begriff umgegangen wird. In den Heften selbst wird glaub ich auch der Begriff der Betroffenen verwendet, der sich in Deutschland wegen des Kontextes auch eigentlich eher durchgesetzt hat.
ich respektiere alle hier geäußerten meinungen.
aber mich macht es wütend, wenn immer und immer wieder betroffene sexueller gewalt sich für jemand/etwas anderes zurücknehmen sollen.
daher: welche sich „überlebende“ nennen möchte, soll es uneingeschränkt tun dürfen, ohne dafür moralischen anwürfen ausgesetzt zu sein.
im rahmen des holocaust fand übrigens jede menge sexuelle gewalt statt, die nie groß thematisiert wurde: frauen wurden in den konzentrationslagern zur prostitution gezwungen, sprich routinemässig vergewaltigt. diese dienste durften u.a. „kooperative“ konzentrationshäftlinge als belohnung nutzen.
ich kann die einwände gut verstehen und benutze den begriff überlebende deshalb auch nicht. ich nehme es aber auch niemandem übel. es soll halt darauf hingewiesen werden, wie zerstörend sexualisierte gewalt sein kann. nämlich so sehr, dass es menschen umbringen kann.
darauf hinzuweisen, das überlebt zu haben, und die eigene identität darauf aufzubauen, möchte ich halt auch niemandem absprechen. weil ich eben weiß, wie schwer und verheerend das sein kann…
aber ich verstehe auch die kritik daran und bezeichne mich aus respekt für die überlebenden des holocausts als betroffene oder in manchen fällen als opfer.
Ich finde die Einwände zum Begriff „Überlebende“ wichtig. Ich selbst hab dazu noch keine feste Lösung. Ich nehme oft „Betroffene“, aber das ist nicht eindeutig, weil es auch schlicht „traurig“ bedeuten könnte, also habe ich mir von kiturak „negativ Betroffene“ abgeschaut. Allerdings klingt das für mich schon fast verharmlosend.
In einem Punkt bin ich auf jeden Fall Medusas Meinung: es sollte als Selbstbezeichnung möglich sein.