Was der Handspiegel für die Praxis ist, ist dieses Buch für die Theorie: Die Sichtbarmachung des weiblichen Geschlechts. Die Kulturwissenschaftlerin und Journalistin Mithu M. Sanyal legt mit „Vulva – Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts“ ein Grundsatzwerk vor, das definitiv keine Lektüre für nur eine Nacht ist.
Ausgehend von der These, dass das, was keinen Namen hat, auch nicht existiert, rekonstruiert die Autorin die Geschichte eines Genitals, dessen Offenbarung einst Böses abwehrte und Dämonen in die Flucht schlug, bevor es der christliche Diskurs von der Bildfläche verdrängte und zum Schweigen verdammte. Diese Prozesse sperrten nicht nur die Vulva in den Keller, sondern nahmen Frauen auch sonst jegliche Repräsentationsfläche. Auf den Zusammenhang zwischen nicht vorhandenem Geschlecht und mangelnder Artikulationsmöglichkeit von Frauen, weist Mithu Sanyal wiederholt hin.
Gleich zu Beginn erläutert die promovierte Kulturwissenschaftlerin, dass der Begriff Vulva auch im heutigen Sprachgebrauch mit Vagina, Möse, Muschi etc. gleichgesetzt wird; eine Bezeichnung, die sich aber bloß auf die Scheide bezieht und andere Bestandteile des Genitals wie die Klitoris oder die Schamlippen ausschließt. Die Konzentration auf das weibliche Geschlecht als Wahrnehmung eines „Lochs“ beschränkt demzufolge der Blüte voller Pracht und begünstigt den phalluszentrierten Blick auf das weibliche Genital als die Abwesenheit eines Penisses, was nicht nur von Freud als eklatanter Mangel gewertet worden war.
Schlimmer noch wird der vermeintlich körperliche Mangel, ein Loch anstelle eines Glieds zu haben, als patriarchalisches Argument benutzt, Frauen eine Daseinsberechtigung über die Fortpflanzung hinaus zu verweigern. Wer nichts hat, hat auch nichts zu melden.
Sanyal aber setzt ihre Forschungen in einer Zeit an, in der Frauen sehr wohl noch ihr Genital einzusetzen durften. Ausgehend von der anatolisch-griechischen Göttin Baubo, deren Vulva rituell verehrt wurde, zieht die Autorin den Bogen zu anderen Kulturen, in denen die Darstellung der Vulva als Trost und Lebensretter vermittelt wurde.
Bis ins Mittelalter hinein zierten vulvaeske Symbole religiöse Kultstätten, sogar Kirchen und Klöster. Hier lösten die Sheela-na-gigs-Figuren die Baubo-Darstellungen ab. Mit dem Erstarken des Christentums und der Anbetung der jungfräulichen Maria tritt die lebensfrohe und lustvolle Vulva in den Hintergrund. Den Rest kennen wir…
Nach Aberkennung des Gesehenwerdens und des Drübersprechens ist der medizinische Diskurs der einzig verbleibende – und wenig verlockende – Zugang zur Öffentlichkeit.
Sanyal verfolgt das Schattendasein der Vulva weiter über die biblischen Interpretationen in Kunst, Tanz und Theater bis Anfang des 20 Jahrhunderts, bis hin zum frühen Striptease und Burlesque. Auch sehr interessant ist das Kapitel über die weibliche Künstlergeneration der 60er mit Carolin Schneemann, Valie Export oder Judy Chicago, deren explizite Vulva-Darstellungen Entsetzen hervorriefen, während die phallistische Symbolik ihrer männlichen Kollegen umjubelt wurde. Nicht zu vergessen die wunderbare Annie Sprinkle, deren „Public Servix Announcement“ die Zuschauer einlud, per Spektulum einen persönlichen Blick auf Sprinkles Gebärmutter zu werfen.
Das poppig aufbereitete Cover des Buches, in pink und mit lustigem Gespreizte-Beine-Bild, sowie der Klappentext, der eine „freche“ und „lustvolle“ Erzählung verspricht, täuschen über den Detailreichtum hinweg, den Sanyal hier angehäuft hat. Eine Fülle, der die Autorin bisweilen nicht Herrin wird, wenn sie thematische Sprünge wagt, die die LeserInnen durch die Jahrhunderte katapultiert. Bisweilen ist der hohe Informationsgehalt derart fordernd, dass nur ein stetiges Hin- und Herblättern ein Verständnis der komplexen Zusammenhänge ermöglicht. Halt so, wie man das von wissenschaftlichen Stoffen gewohnt ist. Die zahlreichen Abbildungen entschädigen allerdings für besonders trockene Textstrecken.
Aber egal, wer von „Vulva“ nicht gerade in der U-Bahn oder der Mittagspause ein paar Kapitel lesen will, den erwartet ein spannendes und aufschlussreiches Buch, das genügend Querverweise beinhaltet, um noch tiefer in die Materie zu dringen.
Als prima Zusammenfassung, auch für die U-Bahn geeignet, empfehle ich übrigens den Epilog Mithu Sanyals, in dem sie schildert, wie ihr Blick zwischen die eigenen Beine die Entstehung dieses Buches anstieß: Etwas, von dem sie nicht sicher war, wie genau es aussah und über das auch in Büchern nichts rauszufinden war, außer man schlug Geschlechtskrankheiten nach, das bedurfte näherer Betrachtung als bloß dem Blick in den Handspiegel.
Mithu M. Sanyal: Vulva. Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts. Sachbuch. Verlag Klaus Wagenbach , 2009. 236 Seiten, 19,90 Euro .
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Klingt sehr interessant. Ich bin jetzt schon begeistert von dem Buch bevor ich es gelesen habe, denn: sagt nicht schon allein die im sprachgebrauch übliche bezeichnung des weiblichen geschlechts als bestenfalls vagina bereits viel über dessen wahrnehmung aus? das wort vulva ist doch noch oft ungebraeuchlich. und wie du sagst fuehrt dieses bedauernswerte faktum auch heute noch nicht selten zur – wenn auch stillschweigenden oder ironischen – sexuellen degradierung von frauen. ich denke, ich werde mir das Buch mal zu Gemüte führen.
ich auch!
ich lese das buch gerade, deswegen habe ich den artikel jetzt nicht gelesen,bevor er mir etwas vorwegnimmt.
ich bin gerade bei dem abschnitt „mythen“ und mein horizont erweitert sich um einiges.
also ich kann es auch nur empfehlen zu lesen, auch wenn es nicht unbedingt leichte lektüre ist, die man mal eben schnell lesen /überfliegen kann.
schön, das es hier erwähnung findet.
:)
Viva la Vulva – ich kann das Buch sehr empfehlen! Eine gelungene Übertragung einer Promotionsschrift in ein populärwissenschaftliches Buch!
gibt es eigentlich noch andere begriffe für vulva? für vagina gibt so viele synonyme, wenn auch einige abwertend gebraucht werden, aber scheinbar ist die vulva so ignoriert worden dass es nur dieses eine wort dafür gibt?