Einem für einen Kinderfilm eher ungewöhnlichen Thema widmet sich „Tomboy“, der am 03. Mai 2012 in den deutschen Kinos startet: Es geht um erwachende Geschlechteridentität und (mögliche) Transsexualität.
Hauptfigur ist die zehnjärige Laure (gespielt von Zoé Héran). Die sieht mit ihren kurzen Haaren und den sportlichen Klamotten nicht nur aus wie ein Junge, sondern, so suggeriert es der Film, wäre auch tatsächlich lieber einer (daher der mittlerweile selbst im Mainstream sofort geläufige Titel – siehe dazu auch den ensprechenden Wikipedia-Eintrag). Als sie (ich bleibe hier bei diesem Pronomen, da der Film nach ein paar Minuten keinen Zweifel mehr daran lässt, dass die Hauptfigur weiblich ist) mit ihrer Familie in ein neues Wohnviertel umzieht, nutzt Laure die Gelegenheit: Gegenüber den Nachbarskindern gibt sie sich als „Michael“ aus. Für Laure beginnt damit ein aufregender Sommer. Als Michael spielt sie mit den anderen Jungen Fußball und rauft. Zwischen ihr und dem Nachbarmädchen Lisa dagegen entstehen zarte Bande. Doch ewig wird das Spiel mit den Identitäten nicht weitergehen können – der Sommer neigt sich dem Ende entgegen, schon bald beginnt die Schule. Und auf der Klassenliste steht eben kein Michael, sondern eine Laure …
Zunächt einmal großes Lob an die französische Regisseurin und Drehbuchautorin Céline Sciamma: Mit kleinem Budget, viel Engagement und unverbrauchten DarstellerInnen hat sie es geschafft, einen Kinderfilm zu drehen, der einmal nicht die abgestandenen Klischees von cleveren Jungs, die als Mini-Detektive spannende Abenteuer erleben, und rosa Prinzessinnen mit weißen Ponys widerkäut, mit denen sonst leider bereits die jüngsten KinozuschauerInnen malträtiert werden (viele erhellende Studien zu Geschlechterrollen in Kinderfilmen, allerdings bezogen aufs Kinderfernsehen, gibt es beim Internationalen Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen/IZI).
Außerdem bietet „Tomboy“ als einer von wenigen Kinderfilmen einmal einen realistischen Einblick in die Lebenswelt von ZehnjährigeN, die zwischen noch kindlichen Spielen und sexuellem Erwachen pendelt. Völlig zurecht hat „Tomboy“ deshalb als Eröffnungsfilm der Panorama-Sektion der Berlinale 2011 den „Teddy Jury Award“ gewonnen. Und tatsächlich sollten Väter, Mütter oder auch LehrerInnen sich die Chance nicht entgehen lassen, mit ihren Kindern oder SchülerInnen diesen Film im Kino zu sehen.
Ein Wermutstropfen jedoch bleibt: Vor allem zum Ende des Films hin wird die Handlung doch wieder reichlich konventionell, ja stereotyp. Das liegt vor allem an der Figur von Laures Mutter: Sie ist es, die ihre Tochter letztlich zwingt, sich als Mädchen zu „outen“. Dieses Verhalten der anscheinend eine sehr klassische Frauenrolle lebenden Mutter (im Verlauf des Films bekommt sie ein drittes Kind, und während der Vater als typischer Familienernährer tagsüber kaum anwesend ist, bleibt sie während des Filmes vollständig der häuslichen Sphäre verhaftet) wird jedoch nicht hinterfragt, im Gegenteil: Wenn sich in der letzten Szene andeutet, dass Laure doch akzeptiert, weiblich zu sein, so ist dies leider eine ziemlich verzagte, konservative Wendung der Geschichte.
Schade, dass Regisseurin Céline Sciamma nicht den Mut für ein offeneres Ende gefunden hat, das tatsächlich auch eine Transgender-Perspektive als gleichberechtigte Deutung zulassen würde – anstatt zu suggerieren, dieser Sommer sei wahrscheinlich nur eine „Phase“ in Laures Entwicklung. Zumal die Regisseurin im Presseheft zu „Tomboy“ selbst so klug zu Protokoll gibt: „Es ist der Blick der anderen, der darüber entscheidet, wer man ist.“
(Regie: Cèline Sciamma, DarstellerInnen: Zoé Héran, Malonn Lévanna, Sophie Cattani, Mathie Demy u. a., Länge: circa 82 Minuten, FSK: ab sechs Jahre freigegeben, weitere Infos: www.tomboy-film.de)
Es heißt „Wermutstropfen“, nicht „Wehmutstropfen“. Schöner Artikel und danke für den Link zum „Tomboy“ – ich wäre gar nicht darauf gekommen, danach in Wikipedia zu suchen.
Ups, danke für den Hinweis – ist geändert! :-)
Klingt defintiv nach einem interessanten Film und ich hoffe, ich habe mal die Gelegenheit, ihn mir zu Gemüte zu führen.
Mich verwirrt im Artikel aber der Satz „ich bleibe hier bei diesem Pronomen, da der Film nach ein paar Minuten keinen Zweifel mehr daran lässt, dass die Hauptfigur weiblich ist“.
Wenn sich die Hauptfigur fast im gesamten Film als männlich identifiziert und von der Mehrzahl der anderen Figuren als männlich anerkannt wird, dann sehe ich das doch als maximales Beispiel für berechtigte Zweifel an der Weiblichkeit. Auch wenn am Ende des Films eine Akzeptanz der Weiblichkeit angedeutet wird… wenn man sich vorstellt, dass die Geschichte nach dem Ende des Films weiterginge, müsste ja auch das nichts endgültiges sein.
Sprachlich sind solche Fälle immer sehr schwierig. Solange wir im Deutschen kein neutrales Pronomen wie „hen“ haben, muss man beim Schreiben eben entweder „er“ oder „sie“ verwenden, und ich finde für die Nacherzählung dieser Geschichte sind prinzipiell beide Varianten suboptimal, aber eben akzeptabel. Nur die Begründung für die Wahl des „sie“ stört mich irgendwie.
Wenn ich nun wüsste, was konkret in den ersten Minuten geschieht, was die Weiblichkeit unzweifelhaft erscheinen lässt, dann könnte ich noch konkreter dazu sagen, was ich von der Formulierung halte bzw. wie ich es stattdessen sehe.
Abgesehen davon aber ein schöner Artikel, danke dafür!
@Lena Schimmel: Danke für deinen Kommentar. Ich wollte die Handlung nicht zu sehr spoilern. Ich selbst finde es bei Filmkritiken immer ganz furchtbar, wenn einem schon jede unvorhergesehene Wendung verraten wird. :-) Deshalb nur so viel: Gerade dieser Film hält zumindest in den ersten Minuten die Handlung so offen, dass ich auf keinen Fall zu viel verraten wollte – aber so viel kann ich, denke ich dann doch sagen: Nach diesen ersten Minuten wird die Figur der Laure als weiblich gezeigt.
ich komm hier überhaupt nicht mit, wo da die transsexualität ist, wenn ein kind sich nicht „geschlechtstypisch“ verhalten will. hat das kind im film tatsächlich ein problem mit dem eigenen körper? oder einfach damit, dass aufgrund dieses körpers ein bestimmtes verhalten erwartet wird?
und die definition bei wikipedia von tomboy finde ich auch falsch. ein tomboy ist ein gesellschaftliches umfeld, das ein bisschen angrennt ist, weil es unfähig ist, ein kind nicht in geschlechtersterotypes verhalten zu zwingen.
Habe den Film noch nicht gesehen, aber von den Kritiken die ich bisher gelesen habe, und aus eigener Erfahrung, würde ich alex zustimmen.
Ich hatte selbst als Kind eine Phase (und es war tatsächlich eine Phase), in der ich ein Junge sein wollte. Grund war vor allem, dass ich mich mit den weiblichen Rollen-Angeboten der rückständigen Dorfgesellschaft nicht zufrieden geben wollte. Einfach gesagt, ich wollte Baumhäuser bauen, Lego spielen, Fußball spielen, von Dächern runterspringen etc. und war weder an Barbie interessiert, noch irgendwie Feenhaft veranlagt. Ein halbwegs konformes Mädchen konnte ich unter den Umständen nicht werden, also hab ich mich an den Jungs orientiert.
Während ich mich gefreut habe wenn ich für einen Jungen gehalten wurde, wäre ich nie auf die Idee gekommen, tatsächlich einer sein zu wollen. Soweit ich es verstanden habe (wie gesagt, nur aus den Kritiken) könnte es in dem Film genausogut darum gehen, und nicht zwangsläufig um Transsexualität im eigentlichen Sinne.
Zum Ende des Films noch eine Frage: du schreibst „dass Laure doch akzeptiert, weiblich zu sein“ – ist damit gemeint, dass sie ihr biologisches Geschlecht akzeptiert, oder auch die damit einhergehenden Rollenvorgaben? Z.B. spielt sie danach noch Fußball?
anders ist es in dieser doku von arte:
http://videos.arte.tv/de/videos/kinder_heute_3_15_-6614504.html
Erst mal danke für eure Kommentare!
@mooocow: Wie schon oben gesagt, möchte ich ja nicht den ganzen Film spoilern, deshalb möchte ich das Ende hier auch nicht verraten. :-)
Der Schluss ist auch offen gehalten, solche Detailfragen dürften (und sollten) sich dann im Kopf des Zuschauers bilden. Meiner Einschätzung nach suggeriert er jedoch (und für die eigentliche Senibiliät des Filmes für mich auch zu stark), dass Laure sich als weiblich aktzeptieren wird. Was ja auch total okay ist – nur hätte ich mir als Zuschauerin gerade bei diesem so guten Film noch ein wenig mehr Offenheit zum Schluss gewünscht …
Schöner Artikel, danke!
Ich hab den Film letztes Jahr in Amsterdam gesehen (offtopic: uraltes tolles Kino) – die Regisseurin war auch da und äusserte meiner Meinung nach eine sehr klare Meinung und Haltung (siehe das Zitat im Text).
Ich habe den Film, und auch das Ende genauso so empfunden, und nicht einknickend. Was Laure/Michael am Ende spürt, war eben keine „Änderung“, sondern eher das Erkennen, dass das Umfeld schwieriger ist, als ihm/ihr vielleicht vorher bewusst war. Und dass sie/er immernoch verliebt in das Mädchen ist und … (hier stop um nicht zuviel zu erzählen..)
Kurz gesagt, ich glaube, es liegt auch im Ende der BertrachterIn..