„Wollen wir nachher noch was essen gehen?“ – Nope.
„Ich kann was kochen, wenn du kommst.“ – Nope.
„Wir treffen uns zum Abendessen in XY, kommst du mit?“ – Nope.
„Ich hab … gemacht, darauf hast du sicher Lust.“ – Nope.
„Mmmmh das ist so lecker.“ – Nope.
„Magst du nicht (noch) was essen?“ – Nope.
„Ich hol mir bei XY noch was zu essen, willst du auch was?“ – Nope.
„Hast du gar keinen Hunger?“ – Nope.
„Du musst doch was essen.“ – Nope.
„Hast du heute schon was gegessen?“ – Nope.
„Was willst du essen? Worauf hast du Appetit?“ – Nope. Nope. Nope. Nope.
Ich liebe essen. Vor allem viel. Es gab Zeiten, da kannte ich kein Sättigungsgefühl und schaufelte alles in mich rein, bis mir schlecht wurde. Es gab Zeiten, da wurde ich fast wahnsinnig mit dem Gefühl Appetit zu verspüren, ohne zu wissen, worauf. Es gab Zeiten, da saß ich jeden Samstagabend mit meiner Mutter vor’m Fernseher, um Alfred Biolek beim Weintrinken (und kochen) zuzusehen. Ich verschlang jede Kochsendung (und nebenbei eine große Portion eines leckeren Irgendwas). Rezepte lesen. Fotos von Essen anhimmeln und das wohlige Gefühl im Bauch spüren.
Es gab Zeiten, da hatte ich bei jedem Bissen ein schlechtes Gewissen. Zählte Kalorien. Führte Tagebuch über meine Essgewohnheiten (und meine Kalorienzufuhr). Schaute mich mehrfach täglich im Spiegel an und fand mich „zu dick“. Hätte heulen können, als mir meine liebsten Klamotten zu eng wurden. Verbrachte etliche Stunden pro Woche im Fitnesscenter im Glauben, es würde was bringen (aka. ich könnte abnehmen). Machte unsinnige Diäten, verlor kein einziges Gramm Körpergewicht. Wog mich mehrmals täglich. Trank so oft wie möglich so viel wie möglich Alkohol, damit mir am nächsten Tag schlecht war und ich nichts runterbekam. Einen Monat lang steckte ich mir nach jeder großen Mahlzeit den Finger in den Hals bis ich kotzen musste. Und ich kotzte. Bis der Magen leer war. War nicht so geil.
Seitdem ich aus der elterlichen Wohnung ausgezogen bin, verlor ich jedes Jahr mindestens ein Kilo. Ohne meine Essgewohnheiten zu verändern. Ohne mich im Fitnesscenter abzumühen. Ich hasse Sport. Ich brauchte allerdings ein paar Jahre, bis ich nicht mehr überlegen musste, ob der Gang zum Kühlschrank nach 20 Uhr okay ist. Oder warmes Essen kurz vor Mitternacht. Trotzdem fühlte ich mich in meinem Körper nicht wohl. Ich stand vor dem Spiegel, hielt mir meine Hüften und Oberschenkel ab, bis mein Oberkörper, Becken, Beine und Po eine gerade Linie bildeten. So wollte ich aussehen. Es wäre gelogen zu behaupten, ich hätte keine Angst vor’m „Zunehmen“ gehabt. Ich hasste meine Kurven auch deshalb, weil ich damit einfach nicht aussah, wie ich aussehen wollte. Ich wollte kein Mädchen, keine Frau sein. Ich wollte aussehen wie ein Brett. Mit Muskeln, pumpenden Venen und harten Kanten.
Heute sehe ich so aus. Allerdings ohne die Muskeln und pumpenden Venen. Heute sehe ich oftmals krank aus, zumindest sagen mir andere das. „Mensch, du nimmst immer mehr ab. Iss mal was. Das ist doch ungesund. Muss ich mir Sorgen machen? Du bist ganz schön schmal geworden. Geht’s dir nicht gut?“ Nein, es geht mir nicht gut. Ich habe Tage, an denen ich fast nichts esse. Ich habe keinen Appetit, kein Hungergefühl oder Angst vor’m Essen. Ich nehme nicht mehr zu (nimmt überhaupt irgendjemand vom Essen zu? oder ist Gewichtszu/abnahme nicht viel mehr eine Reaktion auf eine zunehmend zurichtende und abnehmend sensible, fürsorgliche Umwelt?). Ich bin gestresst. Ich habe jahrelang vernachlässigt zu essen, weil ich so mit meinem Leben und meinen Emotionen beschäftigt war, mit Denkarbeit, mit Kopfkino, Analysen, durch den Alltag hetzen, Rauchen, Kaffee, Arbeit, Aktivismus, dass ich vergessen habe, wie schön das Gefühl sein kann, satt zu sein, Appetit zu haben, mit Genuss zu essen, ohne schlechtes Gewissen.
Essen stresst mich. Essen ängstigt mich. Ich bekomme Ängste und Panikattacken, wenn ich esse. Ich bekomme Ängste und Panikattacken, wenn ich nicht esse. Essen Essen Essen. Es geht so oft nur um’s Essen. Wann ich esse. Wo ich esse. Wieviel ich esse. Was ich esse. Mit wem ich esse. Ein Tag, an dem ich nicht über die W’s des Essens nachdenke, ist ein guter. Dann esse ich meistens und mit Genuss. Ich könnte den ganzen Tag über mein Essverhalten reden und es macht mich nervös, wenn andere es tun. Es nervt mich, wenn Essverhalten und -gewohnheiten einzig und allein als Reaktion auf/Umgang mit Schönheitsideale/n und Schlankheitsnormen analysiert und als „gestört“ eingeordnet werden. „Magersucht“ und „Bulimie“ sind keine exklusiven „Leiden“ schöner, weißer, dünner, gesunder Frauen, die „ich will so bleiben, wie ich bin“ nicht aus ihrem Kopf bekommen. Essen hat mit Kontrolle und Kontrollverlust zu tun. Mit Selbstbestimmung und Ohnmacht. Was wir mit unseren eigenen Körpern (nicht) tun (können), wie wir für sie (nicht) sorgen (können), ist existenziell. (Nicht) Essen (können) ist existenziell. Leave me alone with your one-dimensional critique of patriarchy and capitalism!
Bis ich Mitte 20 war, hatte ich kein Gefühl für meinen Körper. Ich erlebte Emotionen, körperliche Reaktionen, Berührungen, Begegnungen, Gewalt, Diskriminierung als kognitive Wahrnehmung. Als etwas, das es zu entziffern, analysieren, einzuordnen, wegzuschließen, auszuschalten galt. Mein Erleben war nicht an mein körperliches Empfinden gebunden. Das einzige, was ich mir erlaubte zu spüren, wirklich zu empfinden mit jeder Faser meines fleischgewordenen Ichs, war Trauer, Verliebtsein und Orgasmen. Und manchmal den Geschmack guten Essens. Hach.
Irgendwann zog mein Körper einen Schlussstrich unter unsere enttäuschende, lieblose und einseitige Beziehung und quittierte den Dienst. Er entzog sich endlich meinem manipulativen und kontrollierendem Verhalten und machte fortan sein eigenes Ding. Unabhängig und frei traf er jetzt die Entscheidungen. Wann, ob, wie ich schlafe, wann er mich in Panik und Todesangst versetzt, wann er mich mit Angst zur Verzweiflung treibt, wann und wie oft ich auf’s Klo gehe, wieviel ich dauerhaft an Gewicht verliere, ob und wie lange ich leistungsfähig sein, mich konzentrieren und produktiv arbeiten kann, ob ich essen kann, ohne dass er sich ständig bemerkbar macht. Und das mit dem Sex klappt auch nicht mehr so gut.
Mein Körper nahm mir meinen Weltschmerz und meine Trauer, meinen Selbsthass und all die lieb gewonnen emotionalen Regungen, mit denen ich mich von der restlichen Welt für Stunden, Tage und Wochen lossagen konnte und ersetzte sie durch Angst. Meine Körper sagt mir „Fuck you!“ und nimmt mir alles, was das Leben für mich lebenswert macht. Essen zum Beispiel. Wir raufen uns täglich und mittlerweile finde ich das okay. Er hat Aufmerksamkeit und Zuwendung verdient. Er hat verdient zu bestimmen, wo’s langgeht. Mir aufzuzeigen, was ihm nicht in den Kram passt, wo seine Grenzen liegen und dass nicht nur meine Mitmenschen, sondern auch ich diese zu respektieren habe. Er ist nicht nett dabei und selten nachsichtig mit mir. Meine gut gemeinten Intentionen zählen nicht, er will, dass ich „mit Leib und Seele“ (höhö) hinter Veränderungen stehe. Er will spüren, dass ich mir wichtig bin.
Er merkt sofort, wenn ich ihn austricksen will. Er bremst mich, wenn ich zu viel zu schnell auf einmal will. Er gibt das Tempo vor. Wenn ich mitmache, lässt er mich eines meiner Lieblingsgerichte kochen und hinterher mit einem seeligen Grinsen den Teller ablecken. Meistens jedenfalls.
Fotoquelle: Mein Instagram-Account
Das klingt alles sehr heftig. Ich hoffe, dass du es irgendwann schaffst, mit deinem Körper in Einklang und Frieden zu leben. Es macht mir auch bewusst, dass es nicht selbstverständlich ist, wenn man sich mit Lust und Genuss ernähren kann, ohne sich all diese Gedanken zu machen. Alles Gute.
Leider kann ich den Bericht sehr gut nachvollziehen. Das was Nadine beschreibt kenne ich selbst nur zu gut. Das Stressgefühl, die Angst, das ständige Nachdenken über das Essen und das Laufen zum Spiegel.
Mich hat das lange Zeit sehr, sehr unglücklich gemacht bis ich nicht mehr damit zurecht kam. Dann habe ich eine Therapie gemacht . 1 1/2 Jahre lang.
Nun brauche ich die Therapie nicht mehr. Ich wollte so nicht mehr sein! Ich habe mich selbst ziemlich für diese Seite an mir gehasst, was allerdings alles nur noch schlimmer gemacht hat. Mein Verhalten zu meinem Körper war völlig gegen meine Überzeugungen und feministischen Züge. Ich wollte wieder glücklich sein!
Das habe ich geschafft. Natürlich begleitet mich das Thema immer noch in gewisser Weise, aber ich kann wieder normaler essen, koche sehr gut, gesund und lecker und habe gelernt mich so zu lieben wie ich bin. Zudem kann ich nun definitiv besser mit negativen Gedanken umgehen.
Ich wünsche Dir sehr, dass auch du ein besseres Verhältnis zu dir entwickeln kannst. In meinem Fall kann ich nur sagen, dass es sich gelohnt hat, sich lösungsorientiert mit dem Thema auseinander zu setzen.
danke für diesen text.
der diskurs über essen und schwierigkeiten mit dem essen ist so krass eindimensional…
wenig hilfreich.
jedenfalls. hat mich berührt, dein text.
Danke für deinen Beitrag. Hat mich wirklich sehr berührt, an manchen Sellen dachte ich wirklich, dass dies von mir geschrieben sein könnte. Ich jedenfalls kann mich gut in dich hineinversetzen… Ich hoffe, dass wir es irgendwann schaffen, mit unseren Körpern klarzukommen.
Alles Liebe. <3