Keine Ahnung von Wissenschaft – die Wissenschaftsredaktion von ORF.at

Kausalität und Korrelation sind zwei ähnlich klingende Wörter. Das muss man den Redakteur_innen von science.ORF.at lassen. Die Bedeutung ist aber fundamental verschieden. Kausalität bedeutet, dass A die Ursache von B ist. Korrelation bedeutet, dass A ein Indikator für B ist. Gerade in einer Wissenschaftsredaktion sollte mensch sich dessen bewußt sein.

Bei science.ORF.at fehlt es anscheinend an diesem Basiswissen. Gepaart mit Sexismus kommt dann solch Mist wie heute heraus, der Opfern noch die Schuld in die Schuhe schiebt. Es geht um eine Studie, die sich mit Misshandlung von Kindern beschäftigt, die „geschlechteruntypisches“ Verhalten zeigen. Tatsächlich sind diese Kinder mehr psychologischem, physischem und sexuellem Missbrauch ausgesetzt, auch das Risiko einer post-traumatischen Belastungsstörung ist erhöht. Ge­schlechts­untypisches Verhalten sei ein Indikator für spätere Probleme, schreiben die Wissen­schaftler_innen in Pediatrics.

Wie lautet nun die Überschrift? „Mädchenspiele können Gesundheit gefährden“. Warum Mädchenspiele mit geschlechtsuntypischem Verhalten gleichgesetzt werden? Keine Ahnung, vielleicht die „männlich ist Standard“-Falle. Dabei sind Mäd­chen­spiele für Mädchen sogar völlig ungefährlich. Im Gegenteil, es geht um kein einziges Spiel, das die Gesundheit gefährdet – die Misshandlungen werden von Täter­_innen begangen, an den Kindern. Trotzdem schreibt der erste Absatz den Kindern und damit den Opfern noch einmal die Verantwortung zu:

Wenn Buben mit Puppen und Mädchen Indianer spielen, dann drehen sie nicht nur geläufige Stereotype um, sondern setzen damit auch ihre Gesundheit aufs Spiel. Denn sie bekommen von ihrer Umgebung so viel negatives Feedback, dass sich das massiv auf ihr Selbstbewusstsein auswirken kann.

Dass es sich dabei um Missbrauch und Misshandlung dreht, unterschlägt der Ausdruck „negatives Feedback“ leider auch. Sondern erweckt noch den Eindruck, wenn sie sich nur „normal“ verhalten würden, könnten sich die Kinder schützen. Ob geschlechtsuntypisches Verhalten eine Reaktion auf Missbrauch ist oder in ihn auslöst, ist allerdings ungeklärt. Und selbst wenn es letzteres ist, liegt die Schuld immer noch bei den Täter_innen.

Mit ihrer Forschung wollen die Wissenschaftler_innen übrigens das Risiko für Kinder minimieren, die Geschlechterstereotypen nicht entsprechen – die Redaktion von ORF.at macht Ihnen das Leben leider nur noch schwerer.

12 Kommentare zu „Keine Ahnung von Wissenschaft – die Wissenschaftsredaktion von ORF.at

  1. Wow da hat der ORF es ja echt geschafft aus einer guten Studie völligen Mist zu machen. Erlebt man ja leider immer wieder dass die Medien sich wissenschaftliche Ergebnisse so zu recht biegen, wie es ihnen passt. Erinnert mich spontan an diesen großartigen Comic: http://xkcd.com/882/

  2. Die Überschrift und der erste Satz sind unglücklich gewählt, der zweite Satz stellt die Situation klar: Eigentliche Ursache ist das negative Feedback.

    Ich sehe also den Artikel nicht so kritisch wie ihr, da für diejenigen, die den Artikel ganz lesen, die Aussage klar ist: die Autorinnen fordern dazu auf, dass nicht-konforme Kinder besondere Aufmerksamkeit erfahren und gegebenfalls gegen „negatives Feedback“ geschützt werden.

    (Natürlich geht dies nicht weit genug. Besser wäre es, die Geschlechterrollen insgesamt aufzulösen.)

  3. Manchmal irrt man sich offenbar. Du auch.

    Du schreibst: „Das muss man den Redakteur_innen von science.ORF.at lassen.“

    Was du jedoch meinst ist „zugute halten“.

    Deine Formulierung „Das muss man den Redakteur_innen von science.ORF.at lassen“ bedeutet was völlig Anderes, nämlich daß sie verblüffenderweise was Gutes gemacht haben. In dem Zusammenhang sagt man dann „Das muß man ihnen wirklich lassen“.

    Abgesehen davon geb ich dir recht. Der Bericht ist völliger Blödsinn.

  4. Kann man mehr von einer Organisation erwarten, die „Wissenschaft“ der Abteilung Religion unterordnet?

  5. Guter Artikel der Mädchenmannschaft / Helga. Absolut schlimmer Artikel vom ORF. Ist Lego so maskulinisiert worden, um die Jungs auch nur vor dem kleinsten Zweifel zu schützen, sie würden mit etwas für Mädchen spielen? Gerade wenn es um Spiele, Spielzeug und Erziehung geht, bin ich Baff, wie negativ sich das ganze die letzten Jahrzehnte entwickelt hat, und ich finde diese extreme Schubladisierung echt grauenhaft.

  6. @susanna14: Negatives Feedback ist eine Verharmlosung, das macht es echt nur schlimmer. Und ja, der Rest des Beitrags ist erstaunlich differenziert, was alles noch einmal schlimmer macht. Irgendwer hat die Zusammenhänge schon verstanden – lässt aber zu, dass sie falsch dargestellt werden. Entweder weil das Problem nicht gesehen wird oder weil es billigend in kauf genommen wird. Ich weiß nicht, was schlimmer ist.

    @Manuelito: Ich habe auch andere Bedeutungen für „jemanden etwas lassen“ gelernt – regionaler Unterschied, sich verändernder Gebrauch, was auch immer…

  7. Zumindest der Titel klingt nach voller Absicht. So bald das Wort „Geschlecht“ in einer Studie fällt, kommt eine solche Berichterstattung häufig vor…

  8. Ich habe übrigens noch einmal den Originalartikel gelesen, und mein Eindruck ist, dass ORF einen Mechanismus konstruiert, der im Originalartikel nicht vorkommt, nämlich dass Kinder, die sich nicht rollengerecht verhalten, unsicher wirken und dadurch zu leichten Opfern werden. Im Originalartikel heißt es nur, dass sich Misshandler gerne Kinder suchen, die anders sind als durchschnittliche Kinder (S. 414 unten).

  9. Der ORF-Bericht ist eine Zumutung – er zementiert Geschlechterrollen – unter dem Schein einer objektiven Auseinandersetzung. Denn die Message des Berichts ist: „Die Aufhebung der Geschlechterrollen wurde objektiv in einer Studie untersucht und leider müssen wir mitteilen: es schadet den Kindern“
    Das ist – wie @Helga schon festgestellt hat, ned einfach nur dumm sondern – nennen wir es beim Namen – reaktionär.
    Wissenschaftliche Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Machtstrukturen (Sexismus, Rassismus, Bildungsungleichheit, Einkommenscheren etc.) erfordert natürlich besondere Sensibilität. Das Beleuchten von einzelnen Faktoren und Bereichen ohne Berücksichtigung des grösseren Zusammenhangs ist also dumm, reaktionär, tendenziös ….

  10. Hallo,

    als jene Redakteurin, die den Text geschrieben hat, nehme ich Eure Kritik ernst und möchte folgendes anmerken:

    1. Ich verwahre mich ausdrücklich dagegen, dass ich den Opfern von Missbrauch irgendeine Verantwortung zuweise. Das ist eine Verdrehung meines Textes.
    2. Ebenso stimmt es meiner Meinung nach nicht, dass ich Grund und Wirkung verwechsle. Die Forscherinnen stellen den Zusammenhang genau so her, auch wenn Sie – so wie ich – betonen, dass die Reaktionen der Umwelt die Schuld an den Belastungsstörungen tragen.

    Was ich gerne zugebe, ist, dass Überschrift und Einleitung stark verkürzt und pointiert formuliert sind. Das ist das journalistische Dilemma: Wie bringe ich ein komplexes Thema so in Kurzform, dass Menschen sich dafür interessieren und gleichzeitig verstehen, worum es geht?

    Schöne Grüße, Elke Ziegler (science.ORF.at)
    P.S.:Der Titel der Presseaussendung der Forscherinnen war übrigens: „1 in 10 children face elevated risk of abuse, future PTSD, due to gender nonconformity“.

  11. @DieRedakteurin: Ich weiß leider nicht wie ich „Wenn Buben mit Puppen und Mädchen Indianer spielen, dann drehen sie nicht nur geläufige Stereotype um, sondern setzen damit auch ihre Gesundheit aufs Spiel.“ anders interpretieren soll als „Kinder die sich nicht an die Regeln halten, bringen sich in Gefahr.“ Sie *sind* in Gefahr, ja, aber es ist nicht bewiesen, dass das Verhalten der Auslöser ist. Dieser Satz suggeriert Kausalität, nicht Zusammenhang. Selbst wenn es einen Zusammenhang gäbe, bedeutete es immer noch, dass die Gefahr von den Täter_innen ausgeht. So formuliert ist das 1a victim blaming.

    Dass die Forscherinnen selbst fast nie die Pressemitteilung schreiben sondern zu 99% die Pressestelle wissen Sie sicher auch – aber auch die Überschrift bedeutet dass Kinder einem erhöhtem Risiko gegenüberstehen, nicht dass sie sich gefährden! Und ja, ich weiß wie schwierig Überschrift und Einleitung sind. Dabei aber Erkenntnisse zu verdrehen und zu schreiben, dass „Mädchenspiele“ die Gesundheit gefährden – das ist keine ordentliche journalistische Arbeit.

  12. auweija.
    danke @Helga für deine absolut treffliche analyse.
    der bericht von/bei orf ist nicht nur höchst unwissenschaftlich sondern lässt es tatsächlich auch noch zu/ermöglicht es, das weniger wissenschaftlich geschulte/
    -erfahrene leser_innen (also erfahrungsgemäss „eine mehrheit“) da falsch u n d pseudo-informiert werden.
    (die umfangreiche problematik von diesen sog. statistiken lassen ich dabei sowieso mal weg.)
    der kommentar/die worte von DieRedakteurin lassen für mich nochdazu erkennen, dass zB konstruktives feedback reflexartig abgewehrt wird.
    #sexism makes me extremely grumpy

Kommentare sind geschlossen.

Betrieben von WordPress | Theme: Baskerville 2 von Anders Noren.

Nach oben ↑