Gastbeitrag von Mitgliedern der linken feministischen Kampagne „Gemeinsam kämpfen – für Selbstbestimmung und Demokratische Autonomie“. Die Kampagne ist am 25. November 2017 gestartet, u.a. mit Demos in Hamburg, Berlin und Celle. Ziel der Kampagne ist es, das Wissen über die Revolution in Rojava, der Demokratischen Föderation Nordsyrien, als Frauenrevolution zu verbreiten.
Mit dem Widerstand in Kobanê im Jahr 2014 waren Bilder von Kämpferinnen der YPJ groß in den Medien: „Diese Frauen kämpfen gegen den IS“, hieß es in den Schlagzeilen. Die Frauen der militärischen Einheiten der YPJ in Nordsyrien wurden als Symbolfiguren im Kampf gegen Daesh (sog. „Islamischer Staat“) bekannt. Wenig erwähnt blieben neben den fetischisierenden Bildern der Frauen mit Kalaschnikow die tatsächliche Dimension ihres Kampfes.
Die Frauen der militärischen Einheiten sind Teil von etwas viel tiefer gehendem – von einem Kampf, der alle Lebensbereiche mit einschließt und sich nicht nur gegen Daesh richtet. Sie kämpfen gegen das Patriarchat, gegen die ökologische Zerstörung unserer Umwelt, gegen ein Wirtschaftssystem, dass uns alle kaputt macht.
Frauenrevolution in der demokratisch selbstverwalteten Region Nord- und Ostsyrien
In Nord- und Ostsyrien findet derzeit eine Frauenrevolution statt, die uns als Feminist*innen eine Perspektive für gelebte Utopien gibt. Wir haben also am Tag gegen Gewalt gegen Frauen vor einem Jahr die feministische Kampagne „Gemeinsam Kämpfen – für Selbstbestimmung und Demokratische Autonomie“ gestartet. Mit der Kampagne wollen wir internationalistische feministische Perspektiven, sowie autonome Organisierung stärken und die Revolution in Rojava als Frauenrevolution bekannter machen. Nun sind wir mit einer Delegation von „Gemeinsam Kämpfen“ seit ein paar Wochen in der selbstverwalteten Region in Nord- und Ostsyrien. Wir lernen hier den Aufbau autonomer Frauenstrukturen besser kennen. Wir versuchen zu verstehen, was diese Revolution ausmacht und wie es in der Praxis gelebt wird. Wir sind an verschiedene Orte der Region gefahren, haben viel gefragt, diskutiert, geredet. Wir haben dabei vor allem die Stimmen von Frauen aufgenommen, die hier leben und an der Frauenrevolution beteiligt sind, um sie in deutscher Sprache zu veröffentlichen. Über unsere Reise schreiben wir regelmäßig und demnächst wird eine Beitragsreihe von uns auf Mädchenmannschaft erscheinen.
Uns ist wichtig zu betonen, dass ein zentrales Element des kurdischen Befreiungskampfes die Befreiung der Frau ist; und zwar nicht als nette Nebensache der Revolution, sondern als ihr grundlegender Ausgangspunkt, das woraus alles entsteht. Es ist wichtig, weil viele revolutionäre Kämpfe entweder die Rolle der Frau einfach nicht erwähnten oder argumentierten die Freiheit der Frauen würde natürlich aus der generellen Bewegung Richtung Freiheit entstehen.
Die Menschheitsgeschichte erzählt von Revolutionen, in denen anfänglich gute Absichten bald in neue Herrschaftssysteme umschwenkten. Das wird nicht zuletzt daran deutlich, dass Frauen für eine revolutionäre Veränderung und ihre eigene Befreiung in Revolutionen immer mitkämpften, aber nach der Revolution wieder in ihre alten Rollen zurückgedrängt wurden und ihnen anschließend keine Bedeutung beigemessen wurde.
Aus diesen Fehlern Konsequenzen zu ziehen zeigt die Revolution in Rojava. Die Rolle der Frau ist dabei zentrales Analyseelement und hat eine lange Geschichte in der kurdischen Bewegung. Demnach wird die Frau als „erste Kolonie“ bezeichnet. Es wird tausende Jahre in die Geschichte zurück geblickt und betrachtet, wie auf dem Rücken von Frauen Herrschaftssysteme wie das Patriarchat, Nationalstaaten und Kapitalismus entstanden sind. Andererseits wird gesehen, dass Frauen vor der Entstehung von Herrschaft eine besondere Rolle in der Gesellschaft inne hatten. Somit gilt: „Ohne die Freiheit der Frau gibt es keine freie Gesellschaft“.
Auch deshalb können wir Rojava und den Kampf der Frauen der YPJ nicht ohne die Ideologie der PKK betrachten. Vielmehr ist er ein direktes Resultat aus dem Erbe der PKK. Frauen mussten viele Kämpfe innerhalb der kurdischen Befreiungsbewegung führen. Dass sie dies mit der steten Unterstützung von Abdullah Öcalan, Vorsitzender der PKK taten, ist wichtig zu erwähnen. Die Frauen der Guerilla realisierten, dass sie sich für ihre eigene Befreiung autonom organisieren müssen um sich vom männlichen Blick zu entfernen und den Zusammenhalt untereinander zu stärken. Daraus entstand in der kurdischen Befreiungsbewegung die erste Frauenarmee, geteilte Werte und Prinzipien für die Frauenbefreiung und eine eigene „Partei“-Organisation der Frauen, die PAJK.
Das gesellschaftliche System, das daraus entstanden ist, baut auf dem Konzept der „Demokratischen Nation“ auf, welches klare Kritik an Nationalismus und Nationalstaaten übt. Einer dessen Grundpfeiler ist der Demokratische Konföderalismus, ein von Murray Bookchin inspiriertes Gesellschaftsmodell, bei dem sich verschiedene kommunal selbstverwaltete Föderationen zu Konföderationen zusammenschließen. Abdullah Öcalan entwickelte diese Idee weiter und wandte es auf den Mittleren Osten an.
In der demokratisch selbst verwalteten Region Nord- und Ostsyrien bedeutet es die Organisierung der Gesellschaft in Kommunen und Räten. Alle Bereiche, die das Leben betreffen, wie zum Beispiel Gesundheit, Bildung oder Wirtschaft, werden kommunal von der Bevölkerung selbst organisiert. Somit gibt es in in allen Kommunen (jeweils ca. 150 Haushalte) Kommissionen, die für diese verschiedenen Lebensbereiche Verantwortung übernehmen.
Es bedeutet auch die autonome Organisierung von Frauen in allen Lebensbereichen. So gibt es zu jeder Struktur von Männern und Frauen, eine autonome Frauenstruktur. Das heißt beispielsweise bei den HPC (Hêzen parastina civakî), welche verantwortlich für die Selbstverteidigung der Kommunen sind, die Frauenstruktur der HPC-Jin. Diese sind genau so verantwortlich für die allgemeine Selbstverteidigung, sind aber auch Ansprechpartnerin, wenn es zum Beispiel um Gewalt gegen Frauen innerhalb der Kommune geht. Gleiches gilt für die Gerechtigkeitskommission von Frauen und Männern, neben welcher es das Mala Jin (Frauenhaus) gibt. In den Mala Jins wird versucht, Frauen bei patriarchalen Angriffen zu unterstützen und Lösungen für ihre Probleme zu finden.
Die Vielfalt der autonomen Frauenstrukturen reicht von Frauengesundheitsakademien bis zu unabhängigen Frauenkooperativen und von der alternativen Frauenwissenschaft Jineolojî bis zu einem Frauenfernsehsender. Sogar ein Frauendorf (Jinwar) wurde aufgebaut. All diese Frauen sind wiederum in dem Dachverband der Frauenstrukturen „Kongreya Star“ organisiert und somit durch ein Delegiertenprinzip alle miteinander verbunden.
Was zunächst als Revolution von Rojava begonnen hat, hat sich nun mit der Befreiung von Daesh auf weitere Gebiete ausgeweitet. Die unterschiedlichen selbstverwalteten Strukturen schließen sich als demokratische Konföderation Nord- und Ostsyrien zusammen. Dieses Modell kann ein Orientierungspunkt für unsere Kämpfe in Europa sein. Dennoch glauben wir nicht, dass das Modell à la copy paste überall implementiert werden kann. Allein jeder Kanton in Nord-und Ostsyrien hat eine andere Struktur. Jeder Bereich wird gesondert und nach den Bedürfnissen, Problemen, Wünschen und Lösungen der Bevölkerung entsprechend organisiert. Gerade dieser starke Fokus auf die gesellschaftliche Basis ist etwas, das dieses Modell ausmacht. Es ist auch etwas, das den Demokratischen Konföderalismus so international anschlussfähig macht. Ein kommunal organisiertes, freies und ökologisches Leben im Sinne von selbstverwalteten Föderationen ist etwas, das überall wieder zurückerlangt werden muss, aber der Aufbau davon unterscheidet sich auch je nach lokalen Gegebenheiten.
Alternativen schaffen
In Rojava findet gerade der Aufbau einer gesellschaftlichen Alternative zum Patriarchat statt. Die Revolution, die dort stattfindet, kann uns konkrete Perspektiven aufzeigen, die sich der Frage widmen, wie wir eigentlich leben wollen. Letztendlich ist es die Frage, wofür wir kämpfen und nicht nur wogegen wir kämpfen. Wenn wir ernsthafte feministische Alternativen schaffen wollen, ist das nicht nur eine lokale, sondern auch eine globale Angelegenheit.
Das bedeutet nicht Konzepte einfach zu übernehmen, sondern Wege zu finden, wie wir uns als vom Patriarchat unterdrückte Identitäten in unseren Kämpfen aufeinander beziehen können. Es braucht dafür Verbindungen, die über das Symbolische hinausgehen und sich der Suche nach gemeinsamen Perspektiven und dem Aufbau von Alternativen widmen. Es braucht einen Feminismus, der internationalistisch, im Leben verwurzelt und mit der Gesellschaft verschmolzen ist.
Wo bleiben die feministischen Stimmen?
Momentan gibt es akute Angriffsdrohungen gegen das Projekt, das in Nord- und Ostsyrien aufgebaut wird. Es droht ein Krieg der, wie überall auf der Welt besonders hart gegen Frauen geführt wird. Erdogan plant schon seit einigen Monaten, das Gebiet, in dem die Selbstverwaltung aufgebaut wird, zu besetzen. Wie es auch bei der Invasion Afrîns bereits der Fall war, würde es einen Einmarsch der Türkei zusammen mit dschihadistischen Banden bedeuten.
Der Angriff auf die demokratische Selbstverwaltung ist ein Angriff auf die Frauenrevolution. Gerade die BRD sticht zum Beispiel durch Waffenlieferungen oder Repression gegen die kurdische Bewegung als Komplize dieser Angriffe hervor.
Um so deutlicher wird die Dringlichkeit, dass wir uns als Feminist_innen auf die Frauenrevolution beziehen und sie gemeinsam verteidigen. Die Revolution in Rojava ist die Revolution unserer Zeit, eine antikoloniale Revolution, die den Kampf gegen das Patriarchat ins Zentrum stellt. Es braucht ein viel größeres Selbstverständnis von Feminist_innen, dass die Revolution in Nord- und Ostsyrien auch unsere Revolution ist.