Man glaubt es kaum, aber die Existenz bisexueller Männer war in Forscher_innenkreisen bisher umstritten. So ergab eine Studie 2005, dass sie eigentlich verkappte Homosexuelle sein. Damals waren allerdings Probanden über Anzeigen in schwulen und „alternativen“ Publikationen rekrutiert worden und dann anhand eines Standardfragebogens (sagt schon einiges) in die Kategorien hetero-, bi- und homosexuell eingeteilt worden.
Nun, so die New York Times, wurden für eine neue Untersuchung tatsächlich selbst identifizierte bisexuelle Männer ausgesucht. Und, tada, hier zeigte sich Erregung bei Schwulen- und Lesbenpornos. Diese gaben die Männer nicht nur an, sie wurde auch noch über die Messung der genitalen Erregung bestätigt. Eine andere Studie, die sich mit der Erregung beim Ansehen von heterosexuellen Pornos beschäftigte, unterstreicht demnach das Ergebnis. Dabei seien bisexuelle Männer stärker erregt gewesen als die Hetero- und Homosexuellen.
[An dieser Stelle denkt Euch bitte einen Rant darüber, dass Selbstbeschreibungen in der Wissenschaft bis heute viel zu oft ignoriert und abgetan werden, solange sie nicht in vorhandene Modelle passen. Dass diese Modelle aber unsere Gesellschaft prägen und den Betroffenen dann das Leben verflixt schwer machen können, weil sie auf einmal zum „anderen“, zum „nicht-passenden“ werden. Dass Wissenschaftler_innen noch viel kritischer sein müssten, wenn es um ihre eigenen Vorannahmen, Studiendesigns und Auswertung geht. Und dass es irgendwie verdammt schwierig ist, sexuelles Begehren in hübsche, passgenaue Kästchen zu zwingen und dann ein Label draufzupappen.]
Liebe Helga,
nur weil du uns bittest, uns eine Schimpftirade vorzustellen, muss diese (und die symbolische Ankündigung jener) nicht auch gerechtfertigt sein; insbesondere wenn es um „die Wissenschaft“, Wissenschaftler_innen usw. geht.
Dass die klassischen Wissenschaften der Moderne – Medizin, Psychologie, Biologie, usw. – gerne die eigenen (aber faktischen) Fremdzuschreibungen über die Selbstbeschreibungen der Untersuchungsobjekte (der Begriff impliziert die erzwungene Passivität der Untersuchten ja schon) stellen muss vielfach als Schwäche angesehen werden. Andererseits zeigt dein Beitrag doch, dass es eine Entwicklung gibt.
Mittlerweile postmodern geläuterte (meist) Sozialwissenschaften sind hingegen nicht nur fähig, die eigenen Fremdzuschreibungen mit den Selbstzuschreibungen zu überschneiden, ob nun basierend auf Soziologie (Bourdieu) oder Philosophie (Foucault, Hacking, Althusser, Butler). Doch auch sie scheitern wie alle Modelle an der Differenz zwischen „ich bin“ und „ich will sein“.
Man kann, wie du richtig bemängelt hast, nicht einfach auf Fremdzuschreibungen setzen und erwarten, die Situation vollständig zu erfassen; diese Fremdzuschreibungen sind ja Kategorisierungen, die an die konkreten Fälle herangetragen werden. Andererseits sind die Eigenzuschreibungen ebenfalls nicht authentisch, und zwar insofern, dass wir alle im Werden sind, und es keine Garantie gibt, dass ich nicht in 10 Jahren merke, mich zu Männern oder Frauen hingezogen zu fühlen – „ich bin …“ ist eine prekäre Aussage, die zu jedem anderen Zeitpunkt mit anderen Antworten aufwarten könnte. Es gibt keinen Zustand an dem man vollständige Information über sich selbst oder andere haben kann, sondern es ist nur eine Annäherung. Es ist doch wirklich illusorisch zu glauben, „dass es das jetzt war“, wenn man nicht gerade Herrscher_in über die Zeit und alle Welten ist. Wie oft glauben wir etwas zu wollen, aber auch wieder nicht so richtig (Schwärmerei, Trennung, Job, Kinder, Hochzeit, …). Wie oft können wir unsere eigene Stimmung nicht einordnen. Wie viele Menschen entdecken ihre Sexualität mit anderen Partnern neu, bemerken homosexuelle Gelüste in den 30ern, 40ern. Wie viele Menschen möchten sich mal „richtig neu erfinden“, „mal zu sich selbst finden“, haben ne Mid-Life-Crisis, sind erstaunt über ihre Gelüste … usw.
Das Problem ist ein illusorisches Verständnis der Möglichkeit von Authentizität … die es nicht gibt (bzw. nicht bewießen werden konnte, sondern immer nur angenommen wird; den Blick auch mal auf Kants „Ding an sich“ gelenkt); außerdem von stabilen sozialen Rollen (die es weder unabänderlich gibt, noch sind sie in der Wahrnehmung verschiedener Menschen gleich). Deine Kritik hängt leider in einer pseudomodernen Logik fest, wonach etwas dann authentisch(er) beschrieben werden kann, wenn man nur … (insert beliebige Lösung). Ob nun von Wissenschaft, Familie, Freundeskreis oder Politik … Rollenangebote und Rollenrestriktionen strömen auf uns ein, und in jeder Situation (Job, Alltag, Freizeit, bei den Schwiegereltern) nimmt das Individuum eine bestimmte Position ein, selten vollständig reflektiert und oft fast affektiv.
Jetzt kann man das mit dem Lacan’schen Mangel im Subjekt verstehen, welches danach strebt sich zu vervollständigen … grundlegend ist jedoch wichtig, dass bisher kein „Schwulen-Gen“ gefunden wurde bzw. der Einfluss von genetischer Vererbung etc. wohl zu soundsoviel Prozent wichtig sein soll (was auch immer das heißen mag). Ergo muss geschlossen werden, dass die Sexualität v.a. sozial hervorgebracht wird, mit den jeweiligen gesellschaftlichen Konventionen etc. … Selbstfindung, das wahre Ich muss immer auf eine zugrunde liegende Utopie befragt werden und ist selten abseits der gesellschaftlichen Verhältnisse verstehbar. Damit unterliegt alles Fremd- und Eigenzuschreibungen, aber auch dem überkomplexen Kreislauf des Sozialen, innerhalb dessen wir uns immer wieder neu (er)finden.
ganz kurz: Einfache Antworten bitte am Stammtisch lassen.
Gerade ein (hervorragender) Blog, der mutmaßlich akademische Leser_innen hat, sollte sich mit ungenügend reflektierender Polemik („hübsche, passgenaue Kästchen“) doch dann bitte zurückhalten, zudem wenn diese im letzten Resumee-Abschnitt einen Rundumschlag versucht, und damit den gesamten Beitrag unnötig in eine plumpe Stammtischlerei manövriert. Und dass es ja gar kein Problem gibt, weil die „neue Studie“ ja den Mangel der alten Studie behoben hat, führt mich zu der Frage:
Was war jetzt nochmal das Problem?
@ Frank: Das Problem, das es in deinen Augen nicht gibt, ist hier darin zu sehen, dass es anscheinend einer Studie bedurfte, die den Probanden beweist, dass das, was sie über sich selbst und ihr sexuelles Begehren sagen („selbst identifizierte bisexuelle Männer“), auch tatsächlich stimmt. Deren eigene Erfahrungswelt musste also anscheinend überhaupt erstmal von außen legitimiert werden. Damit wird nicht der „Mangel der alten Studie behoben“, wie du schreibst, sondern eine problematisierungswürdige Praxis der ausschließlichen Fremzuschreibung fortgeführt.
Rundumschläge und einfache Antworten finde ich in Helgas Artikel nicht – stattdessen eine pointierte Kritik an und ein Infragestellen von gängigen wissenschaftlichen Praktiken. Einen methodenkritischen Ansatz vertrittst du selbst in deinem Kommentar doch auch, nur mit anderem Schwerpunkt, etwas ausgiebiger und garniert (ok, meinetwegen auch untermauert) mit akademischem Name- und Begriffsdropping. Etwas problematisch finde ich dein Argument, in dem die „mutmaßlich akademische“ Leser_innenschaft mit „plumper Stammtischlerei“ zusammengeführt bzw. kontrastiert wird. Abgesehen davon, dass ich mir in der Diskussion einen streckenweise sachlicheren Ton wünschen würde: Wir schreiben hier durchaus auch für nicht ausschließlich akademisch geprägte Menschen. Und nicht alles, was keine wissenschaftliche Abhandlung ist, fällt in die Kategorie „Stammtischlerei“.
wer hätte sowas gedacht. trotzdem… besser jetzt erforschen als sich 10jahre anhören zu dürfen „sowas gibt es wissenschaftlich sowieso nicht, blabla“.
Ich kann beide Argumente nachvollziehen.
Wissenschaft befasst sich nun mal mit (so) objektiv (wie möglich) messbaren Phänomenen. Man kann meiner Meinung nach als Wissenschaftler_in wunderbar auf überprüfbare Ergebnisse bestehen und trotzdem gleichzeitig anerkennen, dass jeder Mensch sich definieren darf als was er will und danach leben.
Liebe Anna-Sarah,
1. „gängige wissenschaftliche Praktiken“ ist wohl so schön kuschelig bla wie „herrschende Meinung“, „gesunder Menschenverstand“ oder ähnliches. Wenn dus nicht konkret hast, da behaupte es nicht, oder es fällt schwer deine Aussage ernst zu nehmen. Ich habe mehrere Ansätze angesprochen und sehe bei meinem eigenen Background eine Inflation von Ansätzen, die für die von uns diskutierte Problematik sensibilisiert sind. Es ist natürlich spezifisch für Fächer und Forschungsthemen zu argumentieren, aber genau deswegen stimmt mein Einwand bezüglich einer argumentativen Pauschalisierung im Originalbeitrag.
Kommen wir zu der für Online-Diskussionen obligatorischen Erbsenzählerei:
2. „garniert“ / „untermauert“ = dropping … du bereicherst deine Kritik mit diesem Vorwurf, und ich kann mir sicher vorstellen, dass es leicht fällt dies zu tun (is ja auch ein gern genutztes topos im gekünstelten Elfenbeinturm-Laie-Wissenschaftler-Thema). Es enttäuscht mich, dass du in meiner Replik den Versuch auf bereits bestehende Ansätze zu verweisen mit „dropping“ gleichsetzt. Das spricht weder für deine Fähigkeit, dich auf abweichende Meinungen einzulassen, noch außerhalb des Klischees argumentieren/dropping zu denken. Du kannst natürlich mal im Detail klären, weshalb du den „dropping“-Vorwurf anhand welcher Beispiele gerechtfertigt siehst. Vielleicht lerne ich ja, wie „normale“ Leute argumentieren, ohne Name- und Begriffsdropping zu betreiben, sich dabei aber trotzdem über Wissenschaftszusammenhänge zu äußern.
3. akademische LeserInnenschaft: Worfür „ihr“ schreibt spielt doch keine Rolle. Die Frage ist von wem ihr gelesen werdet. Mein „mutmaßlich“ bezieht sich auf eine Vermutung sowie die Unwissenheit, wies konkret aussieht. Also mach ne Umfrage und dann kannst du argumentieren. Dass der feministische Diskurs zu großen Teilen ein akademisch produzierter und rezipierter Diskurs war (wobei Feminismus natürlich nicht auf Akademikerinnen beschränkt ist), dessen Positionen in „die Gesellschaft“ exportiert werden (und dort in Alice Schwarzer / von der Leyen / Schröder – Streits zurückentwickelt und versimpelt wird), dürfte doch nun wirklich schwer zu widerlegen sein.
4. nicht-akademisch vs. Stammtisch: Habs nicht entgegen gesetzt und bin verwirrt darüber, dass du glaubst mir erklären zu müssen, dass nicht alles nicht-akademische stammtischlich sei.
Die Pointe:
Hat bitte jemand hier (du, ich, die Autorin) die Studien gelesen und darin die explizite Belehrung der Homosexuellen über ihre eigene Sexualität entdeckt? Oder beziehst du dich auf ein implizites Prinzip, das wir herausinterpretieren sollen? Hatte die Studie nicht eher das Ziel, über das Verhältnis von biologischer Reaktion und Eigenzuschreibung im Fall von Bi/Homo/Heterosexualität zu forschen. Wo bitte stand den, dass sie die Männer über sich selbst aufklären wollen a la „Da schau mal, du bist gar nicht bisexuell; jetzt geh deines Weges als stolzer Schwuler“. Dass die berichterstattung darüber dann ihre Journalisten-Schlüsse zieht – mit den Parametern Kürze, Prägnanz, Längenbeschränkungen usw. – kann doch nicht der Maßstab der Bewertung der Studie sein. Ganz klarer Fail.
Und bitte: wenn Person X, die sich von Proband A unterscheidet, etwas über A wissen will, dann entscheidet sie sich für eine bestimmte Methode, von der sie denkt, dass diese das Wissen am verlässlichsten erbringen kann. Hier eine Kampagne der Aufklärung zu argumentieren, erfordert mehr Quellen oder bei Quellenmangel sehr viel Mutwilligkeit. Über die Probleme der „kompetentes Subjekt – inkompetentes beforschtes Objekt“-Trennung in der Forschung sind wir uns einig, und insbesondere stellte und stellt es noch immer in vielen Untersuchungsdesigns ein Problem dar, dass aber mittlerweile durchaus weniger ideologische Gründe als vielmehr pragmatische Gründe haben kann, die ich in meinem vorherigen Beitrag angerissen habe.
Diese auszublenden und in einen Absatz mit Wissenschaftsbashing zu stecken (das mich an die Coca Cola – Wissenschaftler bauen Bomben – Mütter backen Kuchen – Werbung erinnert hat) fasse ich mit dem Begriff Stammtisch zusammen, dass natürlich eher ein gesellschaftliches Klischee als ein konkretes Konzept ist. Aber deine Antwort auf meine zugegeben durchaus harrsche Kritik hat es in meinen Augen leider nicht geschafft, dden Originalbeitrag zu rechtfertigen.
Aufgeklärte und progressive Positionen wie die des Feminismus oder der Abkehr von fremdbestimmten Sexualitätskategorien einfach mit neuen Feindbildern zu garnieren ist eine mich enttäuschende Praxis.
Frank, ich finde deinen Standpunkt ja ehrlich diskutierenswert und würde mich zu Teilen auch anschließen, aber wenn ich deinem Mansplaining etwas entgegnen darf: Theorien für sich selbst und das eigene Redeverhalten reflektieren, sollte schon drin sein.
Entschuldige Nadine, aber auch hier: Vorwürfe bitte begründen und nicht nur einfach mal einwerfen:
Wenn du jemandem Mansplaining vorwerfen willst, und dabei nicht nur die Situation meinst, in der ein Mann einer Frau seinen Standpunkt erklärt, dann solltest du wohl etwas genauer werden. ANsonsten kannst du mir auch sonst was vorwerfen und dabei jede Diskussion über den Haufen werfen.
Ansonsten verzichte doch einfach auf Andeutungen, oder verzichte aufs diskutieren, im Falle dass du den Anspruch hast, deine Position deutlich zu machen.
@ frank
ehrlich gesagt finde ich, du gehst in weiten teilen nicht auf den artikel ein, sondern behandelst das dich beschäftigende thema ausschweifend anhand von dem, was du dem artikel andichtest und in den text hinein interpretierst, garniert mit unhöflichkeiten und herabwürdigungen.
nebenbei bemerkt machst du dir die position zu eigen, die im text kritisiert wird, du stellst deine perspektive über die von anderen.
z.b. hier:
„3. akademische LeserInnenschaft: Worfür “ihr” schreibt spielt doch keine Rolle. Die Frage ist von wem ihr gelesen werdet.“
nur so als gedankenanstoß: ich lese hier auch.
J. Michael Bailey ist bekannt für seine „Wissenschaftsfälschung“. Da er so aber immer auf das kommt, was die Majorität hören will, wird es offenbar ignoriert.
Das Problem mit seiner Studie war nicht die Wahl der Probanden sondern der Versuchsaufbau.
Die Durchblutung des Penis wurde gemessen und dann nachgeschaut, wie auf homosexuelle- und heterosexuelle Pornofilme reagierten. Und jetzt kommts:
Nur wenn die Reaktion annähernd gleich war, wurde dem Probanden Bisexualität zugestanden.
So kommt man leicht zu einem N.Y. Times Artikel, in dem man dan Behauptet: „Gay, Straight or lying“