Auf altmuslimah.com veröffentlichte Jehanzeb Dar vor kurzem einen Text mit der sehr provokanten Überschrift „Männlichkeit ausrotten“. Das, so erklärte er sogleich, habe nichts mit Rückschritt oder Selbsthass zu tun, sei nicht gegen Männer gerichtet und bedeute auch nicht die Abschaffung heterosexueller Männer. Bei den radikalen Veränderungen von sich selbst und der Gesellschaft ginge es vielmehr um die Eliminierung von schädlichen und gefährlichen Gesellschaftsnormen und -zwängen.
Als pakistanisch-amerikanischer Moslem sieht er einerseits den Einfluss von Sexismus, Rassismus, Homo- und Islamophobie auf Männlichkeitsbilder, andererseits auch Vorgaben in süd-asiatischen und/oder muslimischen Gesellschaften. Mit der Migration nach Nordamerika seien dabei noch einmal ganz andere Probleme entstanden, die leider noch weniger erforscht sind.
Die Notwendigkeit zur Abschaffung von Männlichkeitsbildern sieht Dar in dem ansonsten stattfindenden Ausschluss:
If to be “feminine” is to be compassionate, caring, and Loving, can a man not have those traits as well? And if to be “masculine,” according to those who argue that there are positive things about “masculinity,” is to be protective, confident, and assertive, is that to say women cannot have those qualities?
Wenn „weiblich“ sein bedeutet, mitfühlend, fürsorglich und liebevoll zu sein, kann ein Mann diese Wesenszüge nicht auch haben? Und wenn „männlich“ sein, gemäß denen, die positive Dinge in „Männlichkeit“ sehen, bedeutet, beschützend, selbstbewußt und durchsetzungsfähig zu sein, sagt man damit nicht, dass Frauen diese Qualitäten nicht besitzen?
Stattdessen plädiert er für ein neues Bild der Menschlichkeit – ohne Objektivierung oder Label, entwickelt von Männern und Frauen zusammen. In Zeiten, in denen ansonsten lieber Schuldfragen hin- und hergeschoben werden und über statt mit Betroffenen gesprochen wird, ein wichtiger Ansatz. Hier und jetzt in Deutschland vielleicht auch kaum zu glauben, aber die Kommentare in Dars eigenen Blog Muslim Reverie sind fast ausschließlich zustimmend.
„Eliminierung von schädlichen und gefährlichen Gesellschaftsnormen und -zwängen.“
Ich würde es auch versuchen so zu formulieren :
Abschaffung der Männlichkeitsvermutung.
Und damit ist er nicht allein.
„Über der gesamten Männerkultur liegt das Tabu, den ideologischen Schein der auf der Basis von geschlechtsneutraler Rationalität funktionierenden Männergesellschaft aufzudecken. Männlichkeit transparent zu machen, darüber zu sprechen und zum Thema zu machen, stellt einen eklatanten Verstoß gegen eine Grundregel dieser Männergesellschaft dar : Männer stellen sich nicht in Frage, sie sind die Norm.“ (Lenz 1994, S.94)
wie auch diese Feststelung :
„Die ist ein Gedanke, den Bourdieu in seinem Werk „Die männliche Herrschaft“ (2005) von Wacquant übernimmt, der bei Männern einen leidenschaftlichen Kampf gegen das Gefühl der Verletzbarkeit konstatiert (ebd., S.94). Für Bourdieu gehört dies zum „Paradox der Männlichkeit“. Er sieht Männer als „Gefangene und auf versteckte Weise Opfer der herrschenden Vorstellung“. (ebd., S.90). Damit einher geht das Gefühl der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins.
(Beitrag von Hans-Joachim Lenz, S.295)
Wer gerne die Schuldfrage stellt : Wenn Männer als Gewaltopfer nicht wahrgenommen werden, ist es nicht Schuld „der Frauen“ o.ä., sondern Schuld der herrschenden schambesetzten Vermutung über „Männlichkeit“.
Diese zu dekonstruieren, führt zum Vorteil Aller :
„Stattdessen plädiert er für ein neues Bild der Menschlichkeit – ohne Objektivierung oder Label, entwickelt von Männern und Frauen zusammen.“
Wenn man die Theorie von den vielfältigen MännlichkeitEN, die es in der Gender Forschung seit Robert Connell gibt, in diese Diskussion einbringt, dann macht es durchaus Sinn, vom Ende der (EINEN) Männlichkeit zu sprechen. Der Wiener Soziologe Peter Jedlicka hat in seinem Buch „Männercoaching“ ein gleichlautendes Kapitel.
P.R.
@Peter R. : Guter Hinweis!
http://www.libri.de/shop/action/productDetails/10444565/peter_jedlicka_mnnercoaching_ermutigende_ziele_fr_neugierige_mnner_1445251736.html
Kommt auf meine to-read-Liste.
Ich hab hier ein schönes Motto gefunden :
http://rette-sich-wer-kann.com/bist-du-mein-publikum/
„Außerdem möchte ich alles, was ich je sagen werde, mit Folgendem einleiten: Ich weiß nicht alles. (…“
@Thomas,
das ist mir jetzt alles zu hoch. Was ist die schambesetzte Vermutung über Männlichkeit? Was ist, wenn ich jetzt (ganz ernst gemeint) frage: ist es Schuld einer feminisierten Gesellschaft?
@MimoD :
„ist es Schuld einer feminisierten Gesellschaft?“
Genau dies eben nicht!
Wie kann eine Gesellschaft „feminisiert“ sein, nur weil jetzt ein paar Frauen mehr als 1954 Politik machen und aufgrund der konservativen Geschlechterrollendenke Frauen eher in fürsorgliche „weibliche“ Berufe gehen und Männer eher in „männliche“?
In „Männliche Identität“ wird diskutiert, warum z.B. im traditionell männlichen psychoanalytischen Bereich vermehrt Frauen dominieren und Männer sich zurückziehen?
Ich schreibe deswegen „Männlichkeitsvermutung“, weil es sich deckt mit Prof. Hollstein in „Geschlechterdemokratie“ auf S. 94, Jungen werden aus der fürsorglichen Symbiose mit der Mutter hinausgeworfen in eine unbekannte, diffuse Vorstellung von Männlichkeit.
M.E. ist das Problem, was „männlich“ ist, weiß eigentlich Keine/R so genau und meist wird dies eher von den Medienaus ökonomischen Gründen formuliert oder von allgemein bestehenden gesellschaftlichen Vorstellungen, die generationsübergreifend weitervermittelt werden/wurden.
Ich sehe die Problematik in der patriarchalen dichotomen Konstruktion von einengenden Männlichkeiten.
Darin liegt auch die bisherige geringe Wahrnehmungsbereitschaft von Männern als Gewaltopfern.
Es ist also alles andere als die „Schuld einer feminisierten Gesellschaft“, wie manche gerne verbreiten wollen.
@MimoD :
Zum Leidthema gewisser Männergrüppchen „feminisiert“ dürfte ein folgender Beitrag nicht unbeachtet bleiben :
http://www.freiewelt.net/blog-2335/die-m%E4nner-sind-die-neuen-frauen.html
Mit impliziertem Weltuntergangsszenario :
„Die Frage ist, ob es nicht dazu führt, dass die Männer auf die Barrikaden gehen, dass es zum Big Bang kommt“, sinniert Christian Hupertz nach lebhafter Diskussion und schließt: „Die Männer sind die neuen Frauen“.“
Ich vermag hier lediglich wieder nur die Indikatoren „Femiphobie“ und „fragile Abgrenzungsmännlichkeit“ zu erkennen.
Natürlich durfte ein Kommentar eines selbsternannten Jungenförderers ohne pädagogischen Background nicht fehlen. Einen
passenden Kommentar dazu :
„Seit nunmehr 30 Jahren werden Jungen bewusst zu Verlierern gemacht.“
Na das hätte mich auch gewundert, wenn…“
@Thomas
Danke für die Erklärung.
Ich habe auch keine ultimative Wahrheit zu dieser Thematik. Obendrein fehlen mir da einfach zu viele Hintergründe (als Nicht-Wissenschaftler).
Ich denke jedoch dass, wie du schreibst, „ein Kind nur dann aus der Symbiose mit der Mutter in eine Welt ohne Vorstellung von Männlichkeit wird ein Kind entlassen“, wenn es Männlichkeit nicht kennenlernen konnte. Oder wenn dem Kind Verhaltensmuster, die ein Vater vorgelebt hat pauschal als falsch bewertet werden.
Eine Vorstellung von Männlichkeit, ganz egal welcher Art, muss erlernt werden können, denn sie entwickelt sich nicht aus dem Nichts heraus. In der Beziehung zu Eltern, Lehrern oder auch im öffentlichen Bild des männlichen. Dieses „öffentliche Bild“ wird allerdings von den Medien transportiert. Wenn vor allem Frauen als Richtschnur gesetzt werden und bestimmte Eigenschaften als ausschließlich weiblich, ist es natürlich schwierig sich selbst zu finden und das eigene Verhalten _weiter_ zu entwickeln.
Das ist es was abseits von Blogs wie diesem kolportiert wird (manchmal aber auch hier) und was ich mit feminisiert meine.
„Männlichkeit nicht kennenlernen…“
Genauso sehe ich das auch und in der Männerliteratur wird es ebenso beschrieben :
„Wer hat uns das Mannsein gelehrt – Niemand“ (Marvin Allen)
Und das die soldatische Männlichkeitsvorstellungen von den Medien übernommen wurden, sehe ich sehr kritisch.
Die Aufgabe, eine moderne und authentische Männlichkeit zu entwickeln, sehe ich als Aufgabe eine modernen Männerpolitik bzw.
-bewegung mit hoher Selbstreflektionsbereitschaft.
Ich setze große Hoffnungen in diese Initiativen :
http://www.bundesforum-maenner.de
http://www.neue-wege-fuer-jungs.de
http://www.dissens.de
Vor ca. 2 Jahren habe ich es mal 4 Monate bei einem kleinen Männerverein (MANNdat) versucht, das war aber ein Griff ins Klo.
„soldatische Männlichkeitsvorstellungen von den Medien übernommen.“
Muß ich etwas erläutern, da es irritieren könnte.
Ich meine damit, dass diese frühere Sozialisation abgelöst wurde von den Medien und Vermutungen und Klischees über
Männlichkeit durch die Werbung und Filmindustrie transportiert werden, die natürlich nicht mehr soldatisch sind, aber zumeist eher konservativ.
Vom Programm „neue Wege…“ halte ich persönlich nicht viel. Aufmerksam auf den Boysday als eher halbherzigen Ableger des Girlsday wurde ich im Rahmen eines Girlsday, den ich zusammen mit einer ortsansässigen Schule in meiner Firma durchgeführt habe. Als im anschließenden Ausbildungsjahr keine Resonanz kam, habe ich in der Schule darum gebeten auch Jungs zu einem Praktikum zu motivieren. Die Resonanz war positiv und wir haben einen neuen Azubi.
Ganz allgemein finde ich die Initiativen Girls- und Boysday eher kontraproduktiv. Die allermeisten Schüler haben absolut keinen Plan, was in ihren „Traumberufen“ auf sie wartet. Völlig unabhängig vom Geschlecht. Ich würde mir wünschen, den Jugendlichen das gesamte Spektrum ihrer beruflichen Möglichkeiten aufzuzeigen und keine staatlich verordnete Vorauswahl festzulegen.
„..keine staatlich verordnete Vorauswahl..“
Diesen Punkt würde ich gerne relativieren mit dem Hinweis, dass Deutschland hier im EU-Vergleich am Liberalsten sind :
1. Entgegen anderer Länder haben wir für Vorstände/Aufsichtsräte keine gesetzliche Frauenquote.
2. In Deutschland sind die Hemmnisse für eine Ganztagsbetreuung durch staatliche Institutionen wie Schulen am größten – bedingt durch unsere Vergangenheit. Schnell kommt das Argument der staatlichen „Umerziehung“, was meist von Profiteuren konservativer Regelungen angeführt wird. Diese Anschauungen werden auch von Aktivisten gepflegt, die aufgrund fragiler Männlichkeiten schnell Verlustängste verspüren.
3. Wir haben ein staatliches „Erziehungsprogramm“, das konservative Ehegattensplitting :
http://maedchenmannschaft.net/wie-misst-man-geschlechtergerechtigkeit/#comment-32719
4. Hr. Dr. Gesterkamp hat in „Die neuen Väter zwischen Kind und Karriere“ hervorragend praxisbezogen analysiert, welchen Unmut das staatlich geförderte Zurückfallen und tradierte Rollenverteilungen „Arbeitsmann-Hausfrau/Hinzuverdienerin“ zu Unmut führt. Erst bei der Frau, dann auch beim Mann.
5. Die Focussierung auf eindimensionale Ernährer-Berufs-Männlichkeiten ohne Berücksichtigung von work-life-balance-Aspekten lässt Männer 5,4 Jahre früher sterben als Frauen.
6. Vorbild nordischer Länder :
http://maedchenmannschaft.net/die-quote/#comment-32406
„Es ist wichtig für Kinder, mit verschiedenen Arten von Männern in Kontakt treten zu können, so eine der führenden norwegischen Kindergartenexpertinnen, Pia Friis (2006/2008:13). Besonderen Erfolg erzielte die norwegische Verwaltung – wie schon angedeutet – mit der Schaffung von Erlebnis- un Outdoor-Kindergärten, in denen teilweise bis zu 1/3 des Personals Männer beschäftigt sind (vgl. Haugland 2009:30) (ebd., S.56)“
Immer wieder wird gerade hierzulande thematisiert, dass Jungen und Mädchen frühkindliche Bezugspersonen fehlen und die Folgen werden immer wieder heftigst diskutiert.
Traditionsverwurzelt-rollenübergreifende Berufsorientierungen anzubieten und damit zu experimentieren ist auch kinderpsychologisch sinnvoll und führt zu einer weiteren Liberalisierung in den Lebensentwürfen.
Die Gefahr einer „staatlichen Umerziehung“ sehe ich lediglich derzeit präsent, jedoch mit boys- oder girls-days entgegen anderslautender Verlautbarungen konservativer Aktivisten absolut nicht gegeben.
Wesentlich problematischer finde ich, wenn selbsternannte „Jungenförderer“ ohne pädagogischen Background sich mit unseren Kinder zu Schaffen machen.
http://streit-wert.boellblog.org/stephan-hoeyng/comment-page-1/#comment-539
Oder „Femokratieblogs“ hier mitmischen, wo Burschenschaften geduldet werden für die frauenverachtende Denkweisen zum guten Ton gehören.
http://webjungs.de/jungs/jungs-erwachsene/bruno-kohler-jungs-zum-helden-machen-schwarzwaelder-bote-de/
Und Stereotype verbreiten wie :
„Basis von Fußballtabellen zu arbeiten und dem Bewegungsdrang gerade der männlichen Schüler Raum zu geben.“
Ganz abgesehen werden hier wieder zu Zwänge vermittelt, wie ich sie auch noch aus meine Kinderzeit kenne „richtige Jungs müssen sich für Fußball interessieren“.
Solche Herren vermitteln wesentlich mehr und wesentlich gefährlichere Ansichten, Zwänge und „Umerziehungen“ als einen harmlosen boys- oder girls-day oder die Initiative, männliche Lebensentwürfe aufzufächern wie „Neue Wege für Jungs“ oder DISSENS e.V.