Im britischen Independent gibt es einen sehr umfangreichen Artikel über die Ungleichbehandlung von kleinen Jungen und Mädchen und den langfristigen Folgen. So geben beispielsweise 88 Prozent der Mütter an, nach Geschlechtern zu differenzieren, auch wenn sie es eigentlich falsch finden. Dabei sind sie doppelt so häufig kritischer gegenüber Töchtern. In anderen Studien sollten Mütter die Geschicklichkeit und Risikobereitschaft ihrer Babies einschätzen – hier wurden die Fähigkeiten der Jungen meist deutlich über-, die der Mädchen unterschätzt. Daran anschließend werden kleine Mädchen von ihren Eltern stärker beschützt, Jungen aber zu mehr Eigenständigkeit ermuntert. Zusammengenommen eine ungesunde Mischung. Im Erwachsenenleben denken Männer dann oft, sie verdienten einfach mehr Freiheiten als Frauen, während diese äußerst selbstkritisch sind, so eine befragte Psychotherapeutin. Wie genau dieser Prozess im Kindesalter abläuft, beschreibt eine Mutter:
“I try not to criticise Sophie more than Luke because I obviously love them equally, but I think I do. With table manners, for example, I let him get away with more. I’m also guilty of using terms like ‚funny‘ and ‚cheeky‘ for Luke, and ‚argumentative‘ and ’serious‘ for Sophie. But life is harder for a woman – they have to look their best and work harder to get somewhere. Maybe subconsciously, I’m trying to prepare her for what I know lies ahead.”
„Ich versuche, Sophie nicht mehr zu kritisieren als Luke, weil ich sie natürlich beide gleich liebe, aber ich denke ich mache es. Wenn es etwa um Tischmanieren geht, lasse ich ihm mehr durchgehen. Ich bin auch schuldig beim Verwenden von Beschreibungen wie ‚lustig‘ und ‚frech‘ für Luke und ‚streitsüchtig‘ und ‚ernst‘ für Sophie. Aber das Leben ist härter für eine Frau – sie müssen immer gut aussehen und härter arbeiten um voranzukommen. Vielleicht versuche ich unterbewußt, sie auf das vorzubereiten von dem ich weiß, dass es sie erwartet.“
Außerdem kommt Angela McRobbie zu Wort, zu deren Kritik an „postfeministischer Maskerade“ und dem Backlash hin zu aufwendigen Schmink- und Kleidungsritualen, auch gerade Antje Schrupp gebloggt hat.
Die feministische Theorie liebt die frühkindliche Prägung, weil das etwas ist, was man vielleicht ändern kann. Man muss ja bloß aufpassen, dass die Mamis und Papis das alles fein geschlechtsneutral hinkriegen. Theoretisch.
Aber wie verändert man die späteren Einflüsse? Zum Beispiel die Tatsache, dass jede durchschnittlich gutaussehende Frau ab ungefähr dem 14. Lebensjahr von Männern überzeugend vermittelt wird, Arsch und Titten seien eigentlich alles, was man braucht, um im Leben voranzukommen?
Das ist auch nicht gerade eine karriereförderliche Einstellung…
@Stimme aus dem Off:
pädagogisch betrachtet hast du dir mit deinem ersten Absatz die Antwort selbst gegeben: Kinder in ihrer frühen Kindheit, wo diese Geschlechterrollen-Erwartungen noch nicht auf sie „einprasseln“ (machen wir uns nichts vor, das betrifft auch Jungen, nur eben anders, da geht es dann darum, „Männlichkeit“ zu demonstrieren, in der Debatte um „Schulverlierer Jungen“ ein nicht unwesentlicher Faktor), also in dieser Zeit „stark machen“, um in der Phase der Konfrontation mit solchen stereotypen Erwartungen eine so gefestigte Persönlichkeit mit einem großen Selbstgefühl zu „haben“, die sich dann solchen Erwartungen nicht fügen muss, sie kritisch hinterfragen kann und sich davon befreit.
Größeres Problem sind deswegen nicht die Eltern, die, wie du es ausdrückst, das immerhin versuchen hinzukriegen, sondern es ist ein soziales Problem: Was passiert eigentlich mit den Kindern, die in einer Umgebung aufwachsen, in der Geschlechtsrollenstereotype von der Wiege an dazu gehören?
Ansonsten gibt es in der Jungen- und Mädchenarbeit da sehr viele Ansätze, die allesamt dazu dienen, Kinder eine Fähigkeit zur Kritik der bestehenden Verhältnisse zu vermitteln. Entgegen der immernoch herumgeisternden Meinung sind Kinder ja zum Glück keine dummen Mini-Erwachsenen, die nix kapieren. Kinder sind sehr kompetent – das muss man nur sehen können, dann kann man das auch nutzen. Letztendlich ist es immer das beste, wenn Kinder die Freiheit bekommen, selbst entscheiden zu können, wie sie sich verhalten, kleiden, leben und wohin sie sich entwickeln wollen. Nur wie oben gezeigt wurde, können sie das meistens noch nicht, da sie von Anfang an auf bestimmte Rollen festgelegt werden.
aus dem independent-artikel:
„The 2,500-strong survey by the parenting website discovered that mums „type“ their children according to gender, with boys seen as „funny“, „cheeky“, „playful“ and „loving“ – the perfect child – while girls are viewed as „stroppy“, „argumentative“, „eager to please“ and „serious“. “
finde ich eigentlich recht interessant. war das früher nicht eher andersrum? der junge sollte recht schnell erwachsen werden und das mädchen war sowieso dazu verdammt ewig kindlich und naiv zu bleiben.
Interessant wäre aber auch, was die Väter gesagt hätten. Das ist ja auch so ein Klischee, dass Mütter eher die Söhne anhimmeln, während für die Väter die Töchter die Prinzessinnen sind…
„Daran anschließend werden kleine Mädchen von ihren Eltern stärker beschützt, Jungen aber zu mehr Eigenständigkeit ermuntert. Zusammengenommen eine ungesunde Mischung. Im Erwachsenenleben denken Männer dann oft, sie verdienten einfach mehr Freiheiten als Frauen, während diese äußerst selbstkritisch sind.“
Genau diese frühkindliche geschlechterdichotome Selektion wurde eingehend in „Männliche Identität“, Dammasch, beschrieben. Auch die Tatsache, dass Kontaktversuche männlicher Säuglinge weniger empathisch beantwortet werden, befördert schon im Kinderwagen die männliche Selbstverleugnung und Selbstentfernung mit den bekannten Schäden (s. auch Titelbericht BILD „Gesundheit Mann“ am 25.10.10).
@Red Riding Hood :
Hier passt folgendes Zitat ganz gut :
„Ich habe die bestmögliche Schule meiner Jugendzeit besucht und sie war – so schlecht wie möglich“, schreibt Dohm und setzt ironisch hinzu :
Gemäß der Anschauung, die auch heute noch fortwirkt, dass der Zweck der weiblichen Erziehung nicht die Entwicklung der Intelligenz, sondern die des Gemüts sei, wurde uns Wissenswertes nur in minmalen Dosen verabreicht.“
(Quelle : Spuren ins Jetzt, H. Dohm – eine Biographie, Isebel Rohner, S.22)
Anlass zum Schmunzeln oder zum Erschrecken führt jedoch diese Feststellung, die sich auch aktuell bei Emanzipationsgegnern immer wieder ablesen lässt :
„Liest man ihre Texte, staunt man noch heute über die Aktualität und ihrer Forderungen und über die oft hanebüchenen Argumentationen von Gegnern Dohms.“ (ebd., S. 64)
„…wäre aber auch, was die Väter gesagt hätten.“
Da musste ich instinktiv an das Thema „selbstbeschränkende Denkschienen“ denken.
Ist mir z.B. auch nicht in den Sinn gekommen. Guter Hinweis.
war das früher nicht eher andersrum? der junge sollte recht schnell erwachsen werden und das mädchen war sowieso dazu verdammt ewig kindlich und naiv zu bleiben.
Naiv ist es anzunehmen, dass die Bevölkerung „früher“ nur aus einer Oberschicht bestand, in der die Heinzelmännchen die meiste Arbeit machten.
In der restlichen Bevölkerung mussten die Mädchen im Haushalt, bei der Betreuung der Geschwister und in der Feldarbeit anpacken. In den Städten ging es nach Abschluss der Schule in die Fabrik oder eben als Hausmädchen in den Dienst der Oberschicht.
@irene: wo hab ich das gegenteil behauptet?
@thomas: danke für die zitate! überhaupt sehr interessant was hier regelmäßig postest. hedwig dohms texte wollte ich mir ohnehin schon länger ansehen. gibt ja einige online. danke für den anstoß!
Bei „kindlich und naiv“ denke ich nicht an harte Arbeit. Die macht wohl recht schnell erwachsen.
@Irene: du missverstehst mich. natürlich wurden mädchen erwachsen, mir ging es aber um die nachgesagte geistige reife von frauen.
Oka, dann habe ich wohl das „sollten“ anders aufgefasst.
@Red Riding Hood :
„hedwig dohms texte wollte ich mir ohnehin schon länger ansehen. gibt ja einige online. danke für den anstoß!“
Ist wirklich lesenswert! Ich weiß jetzt, woher der Begriff „Kladderadatsch“ kommt und wie im Rom 1871 es fast schon ein Ghetto für Juden gab!
http://maedchenmannschaft.net/spuren-ins-jetzt-hedwig-dohm-eine-biografie/
„Bis 1871 trennen hier Mauern das Ghetto vom Rest der Stadt. Die Eingangspforten werden abends von außen verschlossen, so dass kein Jude das Ghetto verlassen kann.“ (ebd., S.42). Erschreckend.
Ich möchte zum Thema Jungen noch eine interessante und markante Praxiserzählung einbringen, die bemerkenswerte Fakten verdeutlicht und hoffe auf viele unterschiedliche Meinungen dazu, zumal ich damals auch noch die „richtige Jungs“-Erziehung geießen durfte und mich dieser Punkt daher immer wieder anstößt :
Aus „Männliche Identität“, Dammasch, S.27 :
Ein 6-jähriger Junge, der ohne Vater aufwuchs, bringt immer wieder zu den Therapiesitzungen Wrestlingkämpferfiguren mit. Eines Tages fragt der Therapeut, warum dabei auch niemals Frauen eine Rolle spielen.
Ohne Worte holt er eine vergleichsweise kleine Frauenpuppe. Er inszeniert mit den Figuren einen Kampf, wie die kleine Frauenpuppe gegen drei der Wrestling-Kraftprotze gleichzeitig kämpft und alle drei besiegt. Er schaut den Therapeute an und sagt :“Jetzt weißt Du, warum keine Frauen mitkämpfen dürfen.“
„Jungen müssen sich in ihrer phallischen Phase sowohl von der Weiblichkeit als auch von der präödipalen Mutter trennen, weil sie so ÜBERMÄCHTIG in ihnen präsent ist, genau genommen, weil ihr regressiver Wunsch nach Wiedervereinigung so stark ist.“ (ebd.,S.28)
Markant auch dieser Satz : „Nancy Chodorow meint, das grundlegende männliche Selbstgefühl ist Separatheit.“ (S.42)
Und es gibt auch analysierte Zusammenhänge des Nachlassens der Jungen in den Schulen mit den Effekten der „Abgrenzungsmännlichkeit“.
Ich bin auf weitere Meinungen und ggf. Quellen sehr gespannt.
frauen müssen lernen und lehren, dass sie keine objekte sind, sondern handlungsfähige subjekte.
diese erwartungen prasseln vom ersten tag an auf sie ein. sogar schon vorher wenn eltern das kinderzimmer rosa oder hellblau streichen oder die regungen des förus geschlechtsspezifisch interpretieren.
das betrifft vermutlich alle kinder.
das ist ja ien widerspruch in sich. kinder können es nicht entscheiden, sie werden immer versuchen, den erwartungen der umwelt zu entsprechen. also wie sollen dann frei entscheiden können? dazu wäre die fähigkeit zur reflektion vonöten, die haben kinder aber nicht.
„dazu wäre die fähigkeit zur reflektion vonöten, die haben kinder aber nicht.“
sehe ich nicht so. Kinder stellen erstmal alles in Frage. Deswegen fragen sie auch ständig „warum“. das ist eine Chance. andererseits versuchen sie natürlich immer so gut es geht mit der Umwelt zu kooperieren, da hast du recht.
in der obigen Frage, auf die ich antwortete ging es aber um jene Kinder, die vielleicht bei „besseren“ Eltern aufwachsen, was diese Frage angeht, also Eltern, die in ihrer Erziehung erstmal davon ausgehen, dass es keine Unterschiede gibt. Die Frage war ja, wie DIESE Eltern ihre Kinder davor schützen sollen, dass diese, wenn sie 14 werden, damit so heftig konfrontiert werden, dass sie sich doch unterwerfen und die Stereotype annehmen.
Darauf meine Antwort, dass man in der Kindheit sehr wohl beeinflussen kann, wie selbstbestimmt ein Teenager einmal handeln, denken, kritisieren usw… wird.
Um das Beispiel von rosa-Quark zu nehmen: Mädchen wurde vom ersten Tag an Rosa angezogen und hat von Oma und Opa nur Puppen geschenkt bekommen. Aber die Eltern haben darauf geachtet, dass das Mädchen ein gutes Selbstgefühl, ein Können-Bewusstsein, Reflektionsvermögen, einen kritischen Geist entwickelt. DAS ist viel wichtiger, als ein 100%ig genderstereotypfreie Erziehung, denn NUR das ermöglicht es Kindern, sich gegen genderstereotype WIRKLICH selbst zu entscheiden.
Andersrum funktioniert es nämlich nicht! Ein Junge, der „gezwungen“ wird, mit Puppen statt mit Autos zu spielen (kontruiertes Beispiel – und übertrieben, um den Punkt klar zu machen). Und angenommen er WÜRDE gerne mit Autos spielen, darf aber nicht. Und weiter angenommen, die Eltern lassen ihn keine Wirkmächtigkeit erleben und er entwickelt vielleicht kein so gutes Selbstgefühl, wie das „rosa Mädchen“ im anderen Beispiel. Dieser Junge „lernt“, dass er in der Welt seiner Eltern kein Auto spielen darf. Aber er lernt nicht, kritisch zu hinterfragen etc…
reflektieren bedeutet, sich selbst ein urteil über sich selbst zu bilden. aristoteles nennt es „denken des denkens“. das können kinder nicht. schon gar nicht im kindergartenalter.
kleine kinder fragen ständig „warum“. sie können aber die dinge nicht wie erwachsene hinterfragen, also verschiedene aspekte und blickwinkel beleuchten, bewerten, in einen kontext einordnen und sich einen eigenen standpunkt erarbeiten.
daher sind sie nicht in der lage, eine freie wahl (bez. ihrer kleidung) treffen, denn sie verfügen nicht über ausreichende urteilskraft.
aber du kannst das gern anders sehen.
Ja, ich sehe das anders, da mein 3-Jähriger Sohn bereits Anzeichen von Reflektionsvermögen zeigt. Natürlich nicht so vollumfänglich und in allen Bereichen, aber es beginnt. Und wenn man bedenkt, dass Kinder im Alter von 4 Jahren beginnen, Moral zu entwickeln, dann wird klar, dass Reflexion hier auch eine Rolle spielen muss. Keine Moral ohne Reflexion, behaupte ich mal.