Der November ist der Monat der Schwermut und der trüben Gedanken, die Tage werden unweigerlich kürzer, das Licht seltener, die Menschen kränker. Nicht abwegig also, befindet Martin Reichert in der taz, dass ausgerechnet in diesen Tagen der erste Männergesundheitsbericht vorgestellt wurde, der u. a. auf die Vernachlässigung psychischer Erkrankungen bei Männern aufmerksam macht. Ein Thema, das durch den Freitod des Nationaltorhüters Robert Enke vor ziemlich genau einem Jahr – noch eine gelungene kalendarische Fügung – ins Blickfeld geriet, inklusive der im Fernsehen live übertragenen Trauerfeier im Stadion Hannover 96, die berührend und verstörend zugleich war.
Den grundsätzlichen Befund des Männergesundheitsberichts, nämlich die Feststellung, Männer seien „das weitgehend vernachlässigte Geschlecht“ gewesen, wie es in der Presseerklärung heißt, teilt auch Reichert. Er gibt dieser Einschätzung jedoch einen etwas anderen Dreh:
„In der patriarchal geprägten Medizin waren eher die Frauen(körper) Objekt der Pathologisierung, während das ‚starke Geschlecht‘ dem männlichen Selbstbild entsprechend schlicht zu funktionieren hatte.“
Allerdings wäre hier vielleicht auch die Frage zu stellen, ob es nicht vielmehr darum geht, welche Krankheiten schwerpunktmäßig für welches Geschlecht ins Blickfeld genommen wurden. Gerade für die „harten“ Herz- und Gefäßkrankheiten nämlich wurde in vergangenen Jahre eher der umgekehrte Effekt beobachtet: Dass nämlich Diagnostik und Behandlung auf Männer ausgerichtet und spezifisch weibliche Symptome vernachlässigt wurden. Insofern ist die Stoßrichtung des Männergesundheitsberichts konsequent: Nachdem die harten Erkrankungen schon nicht mehr nur Männersache sind, sollen nun die „weichen“, d. h. in diesem Fall die psychischen, auch nicht mehr allein Frauenthema sein. Ähnlich wie bei den Herzinfarktsymptomen gilt es jedoch auch hier zu differenzieren, wie Reichert referiert: nämlich in Frauendepressionen und Männerdepressionen. Erstere knüpfen sich eher an partnerschaftliche und familiäre Probleme und äußert sich in Antriebslosigkeit, bei letzterer „dreht sich das Problem … eher um die eigene Nase“ und drückt sich in Aggressivität und Gereiztheit aus.
Über die physiologische, psychologische und kulturelle Bedingtheit der Symptomatiken der Erkrankungen von Herz und Seele und ihre Verbindung zu Geschlechterdifferenz lässt sich endlos streiten (und dies ist nicht unbedingt eine Aufforderung dazu!). Reichert hebt jedoch noch einen weiteren Aspekt hervor, nämlich das ökonomische Interesse der Pharmaindustrie: „Der verstimmte Mann ist also wie die traurige Frau auch ein Kunde der Pharmaindustrie und der kooperierenden therapeutischen Berufsgruppen.“ Unter dieser Perspektive lohnt sich auch ein Blick auf die historische diskursive Verfasstheit von Depression, die in der Antike und im Mittelalter als Melancholie gänzlich anders gedeutet wurde und im 18. und 19. Jahrhundert als Begleiterscheinung von Genialität zudem noch einen deutlich besseren Ruf genoss als heute. Für die aktuelle Wahrnehmung und diskursive Verortung der Depression verweist Martin Reichert auf das Buch des französischen Soziologen Alain Ehrenberg „Das erschöpfte Selbst“, der zu dem Schluss kommt, dass die heutige Depression ein Leiden an der Freiheit einer Gesellschaft sei, die auf ständige Selbstzurichtung, Flexibilisierung und Entscheidungsfreude ausgerichtet sei. Die apathische Schockstarre der Depression sei eine Reaktion auf diese Zumutungen des Neoliberalismus.
(Hier, weil Ihr den Artikel am Samstag oder Sonntag schon einmal „kurzveröffentlicht“ hattet, bekommt Ihr auch den zwei bis drei Tagen alten Kommentar dazu. Im zweiten Link geht es sogar um arbeitende Mütter – passt dann ja auch ein wenig zum anderen Post heute;-)
Passend dazu: den Artikel habe ich dann doch nicht lesen, aber das Symbolbild zum BamS-Report über die Herbstdepression läßt an der Geschlechterverteilung keinen Zweifel – vier Frauen und ein Mann.
Angetan habe ich mir hingegen einen anderen Bild-Artikel: Nach der Babypause wieder im Büro – Single-Frauen machen Müttern Angst. Zitat:
Meine Kolleginnen machen sich nicht hübsch, um mich zu beeindrucken? Jetzt bin ich aber enttäuscht!
Hihi, sehe bei der Überprüfung gerade, daß das Verhältnis ja zwei zu drei ist. Was kleiden sich die Kerle auch so unmännlich.
„Insofern ist die Stoßrichtung des Männergesundheitsberichts konsequent: Nachdem die harten Erkrankungen schon nicht mehr nur Männersache sind, sollen nun die „weichen“, d. h. in diesem Fall die psychischen, auch nicht mehr allein Frauenthema sein.“
Bingo!
Genau darüber habe ich gestern noch diskutiert, dass ein vorteilhafter Nebeneffekt des Männergesundheitsberichtes ist, das „Weiblichkeitsstigma“ der seelischen Erkrankungen zu egalisieren.
Das Thema ist dick in den Medien :
BILD, Kompakt (Zeitschrift der IGBCE, S.12), Apotheken-Umschau, STERN.
http://www.bild.de/BILD/ratgeber/gesund-fit/2010/11/04/promis-und-depressionen/bekaempfen-bruce-darnell-spricht-ueber-psychische-probleme.html
http://www.stern.de/gesundheit/bruce-darnell-mit-depressionen-kaempfe-ich-schon-mein-ganzes-leben-1619901.html
Männer hatten schon immer genauso Depressionen wie Frauen, diese zeigten sich jedoch in kanalisierter und „erlaubter“ Form :
http://www.gesundheit.de/krankheiten/psyche-und-sucht/depressionen/depressionen-bei-maennern
„Wutausbrüche, Kamikaze-Manöver mit dem Auto oder gewalttätige Übergriffe entsprechen nicht den klassischen Anzeichen einer Depression und fallen daher durchs Erkennungs-Raster. Wie in anderen Fällen auch, ticken Männer hier anders als Frauen. Anstatt sich niedergeschlagen und verzweifelt von der Welt zurückzuziehen, schlägt ihre Ohnmacht in Wut um. „Männer tendieren zu aggressivem Verhalten, weil das dem typisch männlichen Selbstbild eher entspricht als der leise Rückzug“,…“
Das „ticken“ würde ich ersetzen durch „anders“ und stereotyp sozialisiert.
http://www.welt.de/wissenschaft/article1277717/Wenn_depressive_Maenner_grundlos_ausrasten.html
Huch, schon wieder ein Artikel, demzufolge ich eigentlich schon immer ein Mann war. Immer wieder erstaunlich.
@Thomas (letzter Absatz): „stereotyp solzialisiert“ passt. Zumindest Frauen wird doch immer vorgehalten, wie sie zu leiden haben, ich schätze mal das ist bei Männern nicht anders.
Wobei bei Frauen auch sicher die Biologie eine Rolle spielt: Vielleicht sind wir „stilles“, introvertiertes Leiden einfach gewohnt, da die meisten von uns sowieso aller vier Wochen mit Krämpfen und Schmerzen umgehen müssen? Wenn eine Frau da ausrastet, nennt man’s PMS und verschreibt ihr ’ne Pille.
Aha, jetzt soll dieser ominöse Neoliberalismus also auch an Depressionen schuld sein? Soso. Bei den Leuten, die ich kenne, die mit Depressionen/depressiven Verstimmungen in Behandlung waren, sah das aber ganz anders aus. Einer hatte eine sehr ungute Beziehung hinter sich, ein anderer hatte Probleme bei der Arbeit (Stichwort Mobbing) und eine andere hatte Angst, ihr Examen nicht zu schaffen. Da kann ich beim besten Willen keine Auswirkung des Neoliberalismus erkennen – okay, Examen vielleicht noch am ehesten, aber das Jura-Staatsexamen war wohl noch nie so ein Zuckerschlecken, nehm ich an.
@Jules
Du glaubst, dass zwischenmenschliche Beziehungen, die Arbeitswelt und das Schulsystem nichts mit neoliberalen Politiken und Ideologien zu tun haben?
Hier ein paar Stichworte: Bologna. Leistungsgesellschaft/Leistungsdruck. 1-Euro Jobs. Abbau von sozialen Sicherungssystemen. Hartz 4. Arbeitslosigkeit.
All diese Dinge können zu Unsicherheit, Angst und auch zu Stress zwischen Partner_innen führen.
Wir haben hier auch ein paar passende Beispiele :
http://derstandard.at/1282979499024/Untersuchung-gefordert-Weitere-Selbstmorde-bei-France-Telecom
Die Staatsanwaltstaft ermittelt, der orstand Didier wurde bereits abberufen.
http://www.dak.de/content/dakprfirmenservice/depressionen_nicht_tabuisieren.html
Frauen sind da genauso betroffen. Ich habe 1996 erlebt, wie eine Mitarbeiterin stressbedingt einen Nervenzusammenbruch
bekomen hat und das Telefon in den Computerbildschirm warf. Und die Frau war eigentlich dafür bekannt, sehr stark zu seinU
Und auch andere Mitarbeiterinnen, die abends öfters anfingen zu weinen, bekamen von der Geschäftsleitung ein paar
feuchtfreundliche Worte „das geht schon, versuche sie mal.“
Und dumme Sprüche von Vorgesetzten, die nicht mehr wissen was, man unter Fürsorgepflicht versteht, „dann muß man gucken dass man alles irgendwie geschafft kriegt“, die kenne ich ebenfalls. Eine hohe „Erfolgsvergütung“ motiviert, immer mehr Arbeit mit möglichst wenig Leuten zu schaffen, koste es was es wolle. Und das auf Kosten der Gesundheit der Leute. Auch andere elementare Gefährungspotentiale werden billigend in Kauf genommen.
Diese Flöckchen richten mehr volkswirtschaftlichen Schaden an als alles andere – einmal abgesehen davon dass work-life-balance-Themen wie Auszeiten, betriebliche Gesundheitsförderung, responsible care, Vereinbarkeitsfragen für Frauen und Männer u.a. gar nicht erst wahrgenommen werden.
@Morjanne
„nennt man’s PMS und…“
Zu der sexistischen Abwertung PMS, da habe ich etwas Passendes als Gegenmittel.
In “Männer auf der Suche” von Steve Biddulph wird dieser nicht selten sexistische Hinweis gewisser Herren begegnet, dass manche Männer nicht selten an PSS – präsexueller Spannung – leiden und stellt ein paar schöne Zusammenhänge zu Geistesheroen wie Napoleon oder auch die Kubakrise Oktober 1962 her.
Einen klasse Konter fand ich auch im Film “Wer ist Mr. Cutty” mit Whoopy Goldberg.
Die abwertende Anmerkung ihres Kollegen mit PMS beantwortete sie mit “Wenn ich meine Tage hätte, wärst Du schon längst tot!”
Musste mich schlapplachen.
@ Magda: Allgemein bezweifeln würde ich das nicht, aber ich bin bloß immer skeptisch, wenn der Neoliberalismus als Universalursache für alle möglichen Probleme genannt wird, ohne dass das näher aufgedröselt wird. Das ist mir eben einfach zu einseitig, weil gerade die Depressionen vielfältige Gründe haben. Manchmal hat eine Person auch eine gewisse (familiäre) Veranlagung dazu und/oder es fehlen bestimmte Botenstoffe im Gehirn.
Oder nochmal anders gesagt: In meinen Augen ist der Neoliberalismus als Grund für diverse Probleme in der Gesellschaft überstrapaziert, gerade, weil er allzu oft viel zu undifferenziert verwendet wird.