Heiko Kunert, geboren 1976, ist Geschäftsführer des Blinden- und Sehbehindertenvereins Hamburg, freier Journalist und Blogger. Er schreibt u.A. über Themen wie Inklusion, Barrierefreiheit und seinen Alltag als blinder Mensch. Er ist außerdem fleißiger Twitterer. Mit freundlicher Genehmigung dürfen wir seinen Text „Behindertenpolitik in Deutschland: Eine Liste des Versagens“ noch einmal bei uns veröffentlichen.
Die Behindertenpolitik in Deutschland bewegt sich irgendwo zwischen Trauerspiel und zynischer Frechheit. Der diskriminierende Wolf kommt im Schafspelz der Inklusion daher. Die Hauptverantwortung hierfür trägt die Bundesregierung. Eine Liste des Versagens:
- Die Bundesregierung blockiert eine Antidiskriminierungsrichtlinie der EU. Während sich alle anderen EU-Staaten einig sind, hat es das große, reiche Deutschland nicht nötig, seine rund 10 Mio. Bürgerinnen und Bürger mit Behinderung vor Diskriminierung zu schützen.
- Auch auf das Menschenrecht auf Bildung pfeift die Bundesregierung. Sie blockiert die Ratifizierung des Marrakesch-Vertrags, der blinden und sehbehinderten Menschen den Zugang zur Literatur erleichtern sollte.
- Offen verstößt Deutschland gegen EU-Recht, indem Asylbewerber_innen hierzulande keinen Rechtsanspruch haben, in Einrichtungen der Behindertenhilfe aufgenommen zu werden. Dabei sind dies häufig die einzigen Stellen, die auf die besonders prekäre Lage von Geflüchteten mit Behinderung eingehen.
- Mit großem Trara lässt sich – insbesondere der sozialdemokratische Teil der Bundesregierung – für die Einführung des flächendeckenden Mindestlohns feiern. Der Schönheitsfehler: Der Mindestlohn gilt nicht für Menschen, die in Behindertenwerkstätten arbeiten.
- Immer noch gibt es in unserem demokratischen Land, Gesetze, die Menschen mit Behinderung das Wahlrecht entziehen.
- Vergewaltigungen behinderter Frauen werden, zumindest noch, weniger hart bestraft als Vergewaltigungen nichtbehinderter.
- Taubblinde Menschen warten seit Jahren auf mehr Teilhabe. Ein erster Schritt sollte die formale Anerkennung von Taubblindheit als eigenständige Behinderung sein. Ausdrücken sollte sich dies durch die Einführung eines Merkzeichens im Schwerbehindertenausweis. Doch die Umsetzung wird bis heute verschleppt.
- Während sich bei der Politik für taubblinde Menschen nichts bewegt, scheint es so, dass es bei Leistungen für blinde Sozialhilfeempfänger_innen sogar einen Schritt zurückgeht. Die Unterstützung für diesen Personenkreis, die Blindenhilfe, soll zu einer Leistung zweiter Klasse werden, wenn es nach dem Willen der Bundesregierung geht.
- Sie schaut auch tatenlos zu, während die Lebensverhältnisse blinder und hochgradig sehbehinderter Menschen in Deutschland immer stärker auseinanderklaffen. Dabei verpflichtet das Grundgesetz sie eigentlich dazu, für gleichwertige Lebensverhältnisse zu sorgen. Statt dies mit einer bundeseinheitlichen gerechten Blindengeldlösung zu tun, nimmt sie die Negativspirale beim Blindengeld in den Bundesländern einfach hin.
- Die Bundesrepublik hat die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet. Im vergangenen Jahr hat ein Fachausschuss der Vereinten Nationen den Stand der Umsetzung bewertet und eine Vielzahl von Lücken entdeckt. Der Ausschuss nennt u.A. das Verbot von Sterilisationen behinderter Menschen ohne deren freie Einwilligung, den Rückbau des segregierenden Schulwesens und die Schaffung eines inklusiven Notrufs und Katastrophenschutzes.
- In diesem Monat präsentierte Sozialministerin Andrea Nahles das neue Bundesgleichstellungsgesetz. Das bringt zwar einige wenige Verbesserungen, klammert aber den ganzen Bereich von Benachteiligungen durch die Privatwirtschaft aus. Es ist so halbherzig, dass selbst die Beauftragte der Bundesregierung für Menschen mit Behinderungen nicht anders konnte, als das Gesetz öffentlich zu kritisieren.
- Und was ist mit dem größten behinderungspolitischen Projekt dieser Legislaturperiode, dem im Koalitionsvertrag angekündigten Bundesteilhabegesetz? Zunächst einmal brach die Bundesregierung kurzerhand ihren eigenen Koalitionsvertrag, in dem sie die finanzielle Entlastung der Kommunen (rund fünf Mrd. EURO) unvermittelt von der Agenda strich und damit einen großen Wurf von Vornherein beinahe unmöglich machte.
- Seitdem wird verzögert. Ein ausführlicher Beteiligungsprozess von Menschen mit Behinderung erweist sich zunehmend als Augenwischerei.
- Die Menschen mit Behinderung und ihre Organisationen müssen dieser Tage feststellen, dass vom Paradigmen-Wechsel in der Behindertenpolitik wenig bis nichts übrig geblieben ist. Vielmehr scheint das Bundesteilhabegesetz – wenn die Vorzeichen stimmen – für viele Betroffene mehr Nachteile als Vorteile zu bringen. Verständlich, dass die Regierung den Gesetzentwurf so spät wie irgend möglich veröffentlicht, um eine gesellschaftliche Debatte möglichst kurz zu halten.
Aber muss die Regierung überhaupt einen #Aufschrei behinderter Menschen fürchten? Wann berichten denn große Radio- und Fernsehsender, Leitmedien wie Spiegel oder SZ über Deutschlands skandalöse Behindertenpolitik, wann erheben Meinungsführer_innen in Blogs und sozialen Medien ihre Stimme gegen eine Bundesregierung, die bremst und blockiert statt sich für Inklusion und Barrierefreiheit einzusetzen? Wann gehen die Millionen Menschen mit Behinderung – immerhin 11% der Bevölkerung – auf die Straße? Wann werden wir sichtbar? Ich denke, es wird allerhöchste Zeit!
Die traurige Wahrheit ist doch: Wenn wir heute einen Mindestlohn für Behindertenwerkstätten einführen, sind die Einrichtungen morgen geschlossen, weil eine faire Entlohnung behinderter Menschen in unserem tollen Wirtschaftssystem einfach nicht vorgesehen ist.
Wieder so ein Problem, das sich mit einem bedingungslosen Grundeinkommen eigentlich von selbst erledigen würde.
oder alternativ: mit der bedingungslosen Anerkennung, dass Menschen alle gut leben möchten und das Recht dazu haben – ja
Mate K: Es ist eine Forderung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK), dass Behindertenwerkstätten (WfbM) geschlossen werden sollen. Die verordnete Wirtschaftlichkeit der WfbM ist ohnehin ein Fallstrick – Menschen müssen nicht wirtschaftlich verwertbar sein, um Menschenrechte genießen zu dürfen. Stattdessen soll das gleiche Geld direkt den Menschen mit Behinderungen zugute kommen und sie in (auch nicht-betriebswirtschaftlich lohnenden) Arbeitsverhältnissen auf dem ersten Arbeitsmarkt unterstützen. Statt diese explizite Forderung aus der UN-BRK umzusetzen, wird auch hier eine Rolle rückwärts gemacht (wird aber über EU-Recht gekippt werden): Deutschland will WfbM sogar extra fördern und EU-Ausschreibungen auf einen Schlag umgehen: Es soll künftig die Möglichkeit geben, öffentliche Ausschreibungen auf WfbM einzugrenzen.
Ansonsten: „Nicht-werkstattfähige“ Menschen und Kinder wird es vielleicht besonders hart treffen. Es gibt Überlegungen, Teilhabeleistungen an die (Werkstatt-)Arbeitsfähigkeit zu koppeln – wer nicht arbeitet, rutscht dann vielleicht in die (nicht bedarfsdeckenden) Pflegeleistungen ab – übrig bleibt „satt und sauber“ – frei nach dem Motto: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht teilhaben.
Zu den Minderjährigen: Schon heute werden sie eigentlich nur als Schulpflichtige, künftige Schulpflichtige oder Erwerbstätige betrachtet, nicht als Menschen, die vielleicht sogar ein Leben außerhalb von Schule und Arbeit haben (sonst käme es gar noch so weit, dass auch Menschen mit Behinderungen, die in Familien leben, bedarfsdeckende Leistungen bekämen und sie und ihre Familien nicht automatisch in Armut leben oder auf Chancengleichheit verzichten müssen). Z.B. sollen künftig alle Kinder mit Behinderungen und ihre Familien pauschal in die Erziehungshilfe (dann umbenannt in „Fordern und Fördern“ –äh, nein– „Entwicklung und Teilhabe“) – von vornherein mit der Ansage, dass man ihnen und ihren Eltern (sofern es keine pädagogischen Pflegestätten sind) nicht trauen kann, weil sie ja mitschuld sind an den Behinderungen ihres Kindes und solange das Kind sich nicht bessert („entwickelt“ bezogen auf seine Behinderungen), muss halt „das System Familie“ umerzogen werden. Dazu gehört dann auch, dass man diesen *zynisch* Taugenichtsen kein persönliches Budget anvertrauen kann oder gar die Entscheidung, was sie nun eigentlich beantragen wollen (jedem Sachbearbeiter sollen sozialpädagogische „Fallmanager“ vorgeschaltet werden) – dann gäbe es ja keine pädagogische Kontrolle mehr *heuchel* und überfordert sind diese Menschen sowieso *heuchel* – sie kriegen ja nichtmal ein nichtbehindertes Kind hin *zynisch*! (An dieser Stelle möchte ich auf die change.org-Petition 0cn.de/thg hinweisen.)
Auch (vor-)faschistische Begriff wie „die Asozialen“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Asoziale_%28Nationalsozialismus%29) leben neu auf in den Plänen zur Umerziehung/„Enthinderung“ von Kindern mit Behinderungen und ihren Familien und in Plänen, Menschen, die heute Leistungen nach dem SGB2 beziehen, künftig auch über die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen zu „fördern“ und in WfbM unterzubringen.
Bis hin zu solch entlarvenden, menschenverachtenden Dingen, wie Mittel zur Umsetzung der UN-BRK für Aufgaben der allgemeinen Gesundheit und Prävention einzusetzen (Stichwort FAS-Prävention): Statt an den Diskriminierungen, die ich hier und jetzt erleide, zu rütteln, wird noch extra gesagt: Dich wollen wir so wenig, dass wir das Geld für Dein menschenwürdiges Leben lieber darein investieren, dass es Dich nie gegeben hätte.
Ich lese gerade das Buch „Die Belasteten“ von Götz Aly und empfehle es hiermit sehr – Es ist leider brandaktuell.