Renate Künast, der Vergewaltigungsparagraph 177 und die Unzulänglichkeiten des Rechtsstaats

Renate Künast, Bundestagsabgeordnete der Grünen und Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Recht und Verbraucher(sic!)schutz, hat auf Zeit Online eine Replik auf Thomas Fischer, Richter am Bundesgerichtshof und Strafrechtsexperte, veröffentlicht. Fischer war eineR von sieben Sachverständigen, die zu einer öffentlichen Anhörung in eben jenem Ausschuss geladen waren, deren Vorsitzende Künast ist, um vor Abgeordneten Bundestag und Bundesrat darüber zu referieren, ob der §177 StGB nach der Istanbul-Konvention reformbedürftig sei oder nicht.

Die Konvention sieht in ihrem Artikel 36 vor, dass jede sexuelle Handlung an einer Person unter Strafe zu stellen ist, die nicht mit ihrem Einvernehmen erfolgt. Rechtsexpert_innen, darunter der Deutsche Juristinnenbund, der Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe bff e.V. sowie viele Feminist_innen sind der Ansicht, dass der derzeitige Tatbestand im §177 die Vorgaben der Konvention nicht erfüllt, die Deutschland umzusetzen sich vertraglich verpflichtet hat.

Im Rechtsausschuss des Bundestages wird derzeit eine mögliche Reform des Gesetzes beraten. Neben Fischer waren zwei Rechtswissenschaftler, die Vorsitzende des bff e.V., eine Rechtsanwältin und zwei OberstaatsanwältInnen aus München und Dortmund geladen. Die Wortbeiträge waren allen im Raum Anwesenden vorher zugänglich gemacht worden. Im Mittelpunkt standen also die Beantwortung der Fragen der Abgeordneten, die übrigens nicht nur dem Rechtsausschuss angehörten, sondern es nahmen auch Mitglieder des Ausschusses für Familie, Frauen, Senioren und Jugend teil, ein Staatssekretär aus dem Justizministerium und eine Staatssekretärin des BMFSFJ. Künast leitete als Vorsitzende des zuständigen Ausschusses die Sitzung.

Anders als Fischer in seinem Beitrag behauptet und Künast ihm zugesteht, war er mit seinem Statement nicht unbedingt die ganze Zeit allein auf weiter Flur. Die Reformbedürftigkeit von §177 verneinten neben ihm noch drei weitere Sachverständige. Lediglich die Rechtsanwältin, die Vorsitzende des bff e.V. und ein Rechtswissenschaftler unterstrichen die Lücken im Strafrecht und mahnten Verbesserungen an, teilweise mit konkreten Vorschlägen und Beispielen. Halten wir also fest, dass vier von sieben Sachverständigen die Fehlurteile wegen Vergewaltigung und die geringe Verurteilungsquote nicht auf das Gesetz oder die Konzeption des Sexualstrafrechts allgemeiner zurückführten, sondern auf „mangelnde Beweislagen“, „Fehlurteile im Rahmen des Erträglichen“,  und Vergewaltigungsmythen. Dem öffentlichen Vorschlag vom Deutschen Juristinnenbund wurde argumentativ wenig entgegengehalten. Stattdessen wurde sich immer wieder auf die bestehende Rechtsdogmatik, Beweisaufnahmeverfahren und Prozessführung zurückgezogen. Obendrein gab es krude Vergleichen zu Straftaten, die nicht die körperliche Integrität von Menschen verletzen (Diebstahl und mutwillige Beschädigung von Eigentum wird gern genutzt).

Schlimm fand ich in diesem Zusammenhang eher weniger die Stereotypen und Mythen über Vergewaltigung, die da indirekt oder direkt durch den Sitzungssaal flatterten, sondern die gesamte Performance, die sich den Zuhörer/schauer_innen auf den Rängen darbot. Richtig liegt Fischer darin, dass er während der Anhörung keinen Stich setzen konnte. Er verwickelte sich mehrfach in Widersprüche, wurde auf diese auch von denen hingewiesen, die ihm in der Sache zustimmten und war merklich nervös. Sicher wirkten hingegen Fischers „Partners in Crime“ und ich muss zugeben, sie waren bis auf wenige Äußerungen allesamt überzeugend. Traurigerweise. Denn die Anhörung machte, ohne es explizit zu wollen, sehr deutlich auf die Entwahrnehmung von Machtverhältnissen, Diskriminierung und den Auswirkungen auf Menschen und die Gesellschaft in einem Rechtsstaat aufmerksam.

Während der Justiz-Staatssekretär den Raum nach nur einer halben Stunde verließ und der frauenpolitische Sprecher der SPD erst nach einer Stunde zur Anhörung kam, um dann nicht von seinem Fragerecht Gebrauch zu machen, und lieber stern.de auf seinem ipad auszulesen, eine in der Materie offenbar sichtlich unbedarfte Kulturpolitikerin der Linken sich einfand und ihre Parteikollegin vom Rechtsausschuss sich nur auf formale Verfahrensangelegenheiten konzentrierte, die Staatssekretärin des BMFSFJ ebenfalls stumm blieb und einige Zeit vor Ende der Anhörung den Saal verließ, bildeten Künast und Parteikollegin Katja Keul (die ebenfalls Mitglied im Juristinnenbund ist) eine fast schon wohltuende kritische Beharrlichkeit aus. Und mit dieser sah Fischer halt schlichtweg alt aus. Keul und Künast haben Partei ergriffen, obwohl(?)/weil(?) wahrscheinlich im Bundestag immer genau so Gesetze debattiert und entschieden werden – zwischen Kaffeepause und der nächsten Bundestagsangelegenheit. Sicher kannten viele, die kaum oder nicht das Wort ergriffen, früher gingen, später kamen, die Stellungnahmen, die Argumentationen, ist dies sicher nicht die einzige Debatte in einem Ausschuss zu diesem Thema. Gesetzgebungsverfahren und Diskussionen über gesetzlichen Regulierungsbedarf sind bekanntlich langwierig und oft ohne befriedigendes Ergebnis für die, die es betrifft. Doch es gruselt mich, wenn ich darüber nachdenke, dass wenige Menschen in dieser dumpfmachenden Bürokratiemühle über das Leben von ganz vielen entscheiden.

Die Haltung, die die beiden Grünenpolitikerinnen einnahmen, war eine, die von einem klaren feministischen Grundsatz bestimmt war: Dem Selbstbestimmungsrecht. Das Recht über den eigenen Körper bestimmen können zu müssen, den Willen dieses Recht in die Praxis zu überführen, schlicht und ergreifend, weil alles, was diesem entgegensteht, Diskriminierung heißt und falsch ist.

Die Diskussion über die Reform von §177 ist nicht nur eine über die Strafbarkeit von Vergewaltigung, sondern auch eine über das Subjekt des deutschen Rechts. Über Dogmen, die vorgeben, dass das Strafrecht kein Opferrecht ist, das nach Gerechtigkeit strebt, sondern ein Täterrecht, das vorgibt fair gegenüber allen Beteiligten zu sein und ggf Sanktion ausübt (und die Bedingungen von „fair“ nicht mehr zur Debatte stehen), kein Recht für, sondern ein Recht gegen. Eine Diskussion darüber, dass Rechtsgüter (egal ob menschlich oder nicht), vor dem Gesetz so gleich behandelt werden, dass bestehende Hierarchien und Machtverhältnisse schlicht nicht stattfinden. Eine Diskussion darüber, dass der Täter im Strafrecht immer „der Andere“ ist, aber nie das Rechtssubjekt selbst: die Norm (weiß, cis-typ, hetero, gesund, deutsch, staatsbürger, christlich säkular). Und wenn doch, muss eben eine Abweichung herbeikonstruiert werden, um das Tatmotiv zu verdecken („verrückter“ Einzelgänger) und bestenfalls noch Mitleid abzunötigen („er konnte halt nicht anders“).

Die Veurteilungsrate in Prozessen gegen Vergewaltiger oder die Zahl der eröffneten Verfahren gegen Vergewaltiger oder die Zahl der weiterverfolgten Anzeigen ist deshalb so gering, weil das Recht seine Rechtssubjekte schützt. Weil ein Rechtsstaat seine Rechtssubjekte schützt. Auch wenn die meisten von uns wissen, wie die Zahl der schützenswerten Rechtssubjekte dazu im Verhältnis steht und wie hoch die Wahrscheinlichkeit, dass unter ihnen auch Vollzieher des Rechtsstaates sind. Deswegen ist jede Erörterung gegen eine Anpassung von §177, die innerhalb straf_rechtlicher Konventionen bleibt, so logisch.

Vor diesem Hintergrund ist der Beitrag von Renate Künast auf Zeit Online, fast schon revolutionär, auch wenn im Text zwei fragwürdige Bezugnahmen stattfinden (alle Frauen sind anders als alle Männer, frauenfeindliches Ausland), die ihre Argumentation gar nicht braucht. Der Deutsche Juristinnenbund hat einen Vorschlag gemacht, der selbst für Anfänger_innen wie mich Sinn ergibt und nicht das Urteil zulässt, das bestehende Rechtssystem müsse derart gebeugt werden, dass es keinen Sinn mehr ergibt. Und selbst dieser Minimalkonsens ist keiner unter Rechtspraktiker_innen, wenn es um Rechtssubjekte geht, die eigentlich keine sein dürfen. Wenn sich am Ende auf eine Reform geeinigt werden sollte, die eine Reform im Sinne der Betroffenen von sexualisierter Gewalt ist, dann wird auch diese Reform nur ein Rädchen im großen Getriebe des Kampfes gegen sexualisierte Gewalt sein.

Denn wie Renate Künast im Ausschuss zitierte: „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat“.

Zum Weiterlesen

Plädoyer für eine sachlichere Debatte um den Vergewaltigungstatbestand

Thomas Fischer, von Idioten umgeben

Menschenrechtliche Verpflichtungen aus der Istanbul-Konvention. Ein Gutachten zur Reform des Paragraf 177

Vergewaltigung verurteilen! – Kampagne des bff e.V. zur Reform von §177 

Stellungnahmen der Sachverständigen

 

Ein Kommentar zu „Renate Künast, der Vergewaltigungsparagraph 177 und die Unzulänglichkeiten des Rechtsstaats

Kommentare sind geschlossen.

Betrieben von WordPress | Theme: Baskerville 2 von Anders Noren.

Nach oben ↑