Neulich las ich im Missy Magazine in einer Filmkritik das Stichwort Camp. Tiefes Wühlen in meinem popkulturellen Gedächtnis: 60er Jahre, Andy Warhol, Susan Sontag fielen mir ein. Nicht besonders viel. Doris Leibetseder weiß da mehr. In „Queere Tracks. Subversive Strategien in der Rock- und Popmusik“ folgt die Gender-Wissenschaftlerin queeren Spuren in der Rock- und Popmusik, die mit Ironie, Mimikry oder eben auch mit Camp Pfade jenseits der heterosexuellen Orientierung schaffen.
Dabei setzt die Autorin den Ansatz voraus, dass queere Elemente in der Rock- und Popmusik kaum existieren und wenn, dann im Mainstream oft aus medial aufmerksamkeitsgenerierendem Interesse eingesetzt werden. Leibetseder will aber Beispiele nennen, in denen queere Elemente politische Relevanz besitzen.
Da Leibetseder ihre Untersuchungen als Dissertation veröffentlicht, ist die Lektüre entsprechend weniger unterhaltungs- als analyseorientiert. Die Österreicherin bedient sich sowohl der Methoden der gender als auch cultural studies und bröselt ihre Vorgehensweise in etymologische und philosophisch-kulturelle Bedeutungszusammenhänge auf. Damit folgt sie unter anderem Judith Halberstams Methodik der „queeren Methodologie“. Popkulturell interessierte LeserInnen, denen das Editorial in der Spex schon zu bedeutungsschwanger erscheint, werden in „Queere Tracks“ keine unterhaltende Befriedigung finden.
Mit einem bisschen Ausdauer aber ist Leibetseders Arbeit ein absolut lesenswertes, höchst informatives Werk. Weniger, weil sie anhand Peaches oder Angie Reed queere Strategien nachweist, sondern in der Art, wie sie ihre Erkenntnisse herleitet. Ironie, Parodie, Camp, Maske, Mimesis, Cyborg, Transsexualität und Dildo sind die Mittel, anhand derer heterosexuelle Normen und das binäre Geschlechtersystem aufgebrochen werden. Jedes Kapitel beginnt mit der begriffsgeschichtlichen Untersuchung der einzelnen Strategie: „Historisches, Definition, Erkennung“ dienen der Einführung und Hinterfragen des subversiven Potentials. Wir erfahren um die Ambiguität der Ironie und wie wir sie decodieren können, über ihre zahmere Schwester, die Parodie, die sich durch Nachahmung statt unterschwelligen Spott auszeichnet. Aber folgen auch der Diskussion, wo die Parodie Gefahr läuft als Mittel des Widerstands missverstanden zu werden. Zum Beispiel im Kontext des drag, in der durch Aneignung der Stereotype die Performanz geschlechtscharakteristischer Zuschreibung noch verstärkt zu werden droht.
Und ja, auch dem androgynitätsstiftendem Camp, der „dandyistische Perspektive auf die Welt“ kommt ein eigenes Kapitel zu Gute. Einschließlich der genauen Auseinandersetzung mit Susan Sontags wegbereitendem Essay „Notes on Camp“. Camp, so heißt es, habe eine große Ähnlichkeit mit queer, gehe es doch bei beiden um die Aufdeckung und Instabiliserung von Kategorisierungen.
So wie Leibetseder sich für Camp an Sontags Ausführungen orientiert, dient ihr für die Parodie Judith Butlers Thesen des nicht vorhandenen Originalgeschlechts und die durch Wiederholung vermeintlich geschlechtstypischen Verhaltens, doing gender, belebte Vorstellung stereotyper Charakterzuschreibungen. Im Kapitel zum Dildo legt sie Michel Foucaults These von Sexualität als konstituierendes Konstrukt zugrunde. Zur Belohnung aller Theorie folgt jeweils die Überprüfung am lebenden Objekt, der Rock- und Popmusikerin. Ob Madonna, Angie Reed, Björk, Peaches oder Annie Lennox, die Autorin nennt und zeigt Beispiele, in denen die zuvor analysierten queeren Strategien praktisch umgesetzt werden, um heteronormative und zweigeschlechtliche Performanzsysteme zu untergraben.
Egal, ob Peaches mit Dildo posiert, Courtney Love den Gebrauch des Babydoll-Kleides ironisiert oder Grace Jones mit der Androgynität des Camp auftritt – hier informiert sich der_ie Leser_in für den nächsten Youtube-Besuch.
Ich muss zugeben, bei 300 Seiten anspruchsvoller Lektüre bin ich bisher nicht über ein Drittel und dort über Nietzsches Beschäftigung mit Masken, der Masquerade, nicht hinaus gekommen. Leibetseders universale Rundumschläge in Etymologie, Psychologie, Philosophie und so weiter setzen eine Menge Wissen voraus und müssen oft mit Nachschlagen hier- und dorthin unterstützt werden. Obwohl die Autorin einem gut strukturierten Aufbau folgt, sich klar ausdrückt und es schafft, auch komplizierteste Thesen und Widersprüche der Gender Studies verständlich zu machen, enthält „Queere Tracks“ ein ordentliches Wissenspensum, das auch über die Lektüre hinaus zum Diskutieren anregt. Wer sich deshalb nicht direkt an die ganze Platte rantraut, kann entweder Track für Track verinnerlichen oder auf das sehr gut zusammen fassende Schlusswort zurückgreifen.
So oder so: „Queere Tracks“ ist ein absolut taugliches Buch für die feministischen Bibliothekscharts.
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danke.
davon habe ich vor einer weile bei die standard gelesen, klang vielversprechend… ich will, dass bücher günstiger sind!
aber wenn es hier um themenverwandte bücher geht, weise ich mal auf die zwei perlen hier hin:
club transmediale, Meike Jansen (Hg.): „Gendertronics. Der Körper in der elektronischen Musik.“ (edition suhrkamp, sehr sehr lesenswert!)
Rosa Reitsamer, Rupert Weinzierl: „Female Consequences. Feminismus, Antirassismus, Popmusik“ (http://www.loecker.at/index.htm)
sowie die testcard #17 (sex) und #8 (gender; „leider“ schon etwas älter)
@ bubi zitrone
ja, auf das Buch von Rosa Reitsamer und Rupert Weinzierl weist Leibetseder auch hin und die beiden Testcard-Bände, wie überhaupt alle Ausgaben der Reihe, kann ich ebenfalls nur empfehlen. Und trotz des Preises sind diese Bücher ihre Anschaffung wert und eine langfristige Investition ins eigene Wissen :)