Jay ist Antigewalt-Aktivist_in und Mitarbeiter_in bei LesMigraS, dem Antidiskriminierungs- und Antigewaltbereich der Lesbenberatung Berlin e.V.. Jay arbeitet seit mehreren Jahren zum Umgang mit Gewalt in queer-feministischen Kontexten und schreibt im Virtual Retreat Center zu self-care, Unterstützungsarbeit und kollektivem Empowerment. Im folgenden Text, den Jay für ein englischsprachiges Zine zu „self-love and self-care“ geschrieben und für uns ins Deutsche rückübersetzt hat, geht es um Fragen von kollektivem Zusammenleben, Solidarität und Verbündetsein sowie die Gestaltung von Räumen, die von möglichst vielen als Zufluchts- und Wohlfühlorte wahrgenommen werden können.
* Die verschiedenen Bedeutungsebenen, die für mich in dem englischen Verb „to care“ stecken, lassen sich für mich schlecht in einem einzigen deutschen Wort einfangen. Deswegen hab ich mich für den englischen Begriff entschieden und werde verschiedene Nuancen im Text anbieten. To care bedeutet für mich Anteilnehmen, sich für Themen und Menschen interessieren, einander zugeneigt und zugetan sein, füreinander sorgen.
Auf einem Workshop des Northwest Networks (Seattle, USA) wurde ich gefragt, warum ich Antigewalt-Aktivist_in geworden bin. Zu der Antwort, die ich gefunden habe, hab ich ein ambivalentes Verhältnis: Ich will anderen die Unterstützung geben, die mir selbst gefehlt hat, als ich Gewalt erfahren habe. Nach den Antworten der anderen Teilnehmer_innen urteilend war ich nicht die einzige, die aufgrund solcher Erfahrungen mit feministischer Antigewaltarbeit begonnen hat.
Aus dieser Erfahrung ergeben sich einige Fragen für mich: Wie sorge ich für mich selbst, während ich für andere sorge? Inwiefern bin ich davon abhängig, andere zu unterstützen, um in mir selbst ein Loch zu füllen? Gehe ich von Ähnlichkeiten zwischen mir und anderen aus, damit ich meine Erfahrungen mit_teilen kann? Wie gehe ich mit meinen Privilegien um und mit Situationen, in dene ich Diskriminierungsverhältnisse reproduziere?
Wenn ich über diese Fragen nachdenke, merke ich, dass ich daran interessiert bin, queer-feministische caring Communities aufzubauen, in denen das Interesse an queer-feministischen Themen und die Zuneigung füreinander und für sich selbst als wechselseitig und verbunden wahrgenommen werden. Mich mit diesen Fragen zu beschäftigen fühlt sich bereits für mich nach einem Perspektivwechsel an. Dabei gibt es auch eine Stimme in mir, die sagt, dass ich mir nicht den Luxus leisten kann, mich für caring Communities zu interessieren, weil es andere Dinge zu tun gibt – in hetero_sexistische Kackscheiße intervenieren, die Welt retten. Häufig fühlt es sich so an, als wäre die einzige Option, jeden Tag aufs Neue auf diskriminierende Sachen zu reagieren und es gibt so vieles, worauf reagiert werden müsste. Dieses Reagieren kann sehr leicht die ganze Energie verbrauchen und die Ergebnisse sind meistens unbefriedigend.
Caring als Luxus und Notwendigkeit
Meiner Meinung nach ist es sowohl ein Luxus als auch eine Notwendigkeit, von dem alltäglichen Druck queer-feministischer Interventionen und Aktionen ab und zu ein paar Schritte Abstand zu nehmen. Ein Luxus, weil es bedeutet, dass meine täglichen Kämpfe nicht so essentiell sind, dass sie mir nicht den Raum geben würden, darüber nachzudenken, wie sich Alternativen schaffen lassen. Und eine Notwendigkeit, weil ich denke, dass es kein „Kämpfen gegen“ ohne ein „Kämpfen für“ geben kann. Für mich sind caring Communities kein utopischer Traum, sondern die alltägliche Frage, wie ich mit anderen in Beziehung treten möchte und wie ich mit Widersprüchen, Fehlern und Ambivalenzen im Schaffen von feministischen Räumen und Praxen umgehen möchte. Wie können wir caring Communities schaffen, füllen und leben?
Caring Communities sind für mich keine geschützen Räume (safe spaces) und versprechen auch nicht, welche zu sein. Ich denke nicht, dass queer-feministische Räume frei von Diskriminierung sein können. Wenn wir behaupten, dass solche Räume diskriminierungsfrei sind, wird es schwerer, die Gewalt, die in unseren Communities passiert, anzusprechen und darüber zu reden, wie wir verantwortungsvollere Communities aufbauen können. Ruth Gilmore Wilson sagt: „ein sicherer Raum bietet keine Zuflucht vor der Wirklichkeit, er ist ein Ort, an dem wir die Wirklichkeit üben können, die wir ins Leben rufen möchten“ (safe space is not an escape from the real, but a place to practice the real we want to bring into being; Übersetzung von mir; Wilson, zitiert in Smith, The Problem with Privilege).
Für wen sind „geschützte Räume“ Zufluchtsorte?
Wer kann sich in so genannten geschützten Räumen sicher fühlen? Wer kann geschützte Räume als Zufluchtsort vor gewaltvollen Realitäten imaginieren? Wie ist ein Sicherheitsgefühl mit Privilegien verbunden? Gibt es Konzepte von geschützten Räumen, die von verwobenen Machtverhältnissen ausgehen und Mehrfachdiskriminierungen mitdenken?
Es ist nun mal so, dass sich nicht alle in queer-feministischen Communities sicher fühlen und dass das Wohlfühlen einiger auf Kosten von dem Unwohlfühlen und Unsicherfühlen von anderen stattfindet. Ich finde es wichtig, vorsichtig dabei zu sein, Orte und Veranstaltungen als Orte, an denen sich eine_r „wohl“ oder „unwohl“ fühlt, zu beschreiben, weil häufig Menschen in privilegierten Positionen Sätze wie „ich fühle mich unwohl“ in Situationen nutzen, in denen gerade Machtverhältnisse in queer-feministischen Räumen adressiert werden.
Die Frage ist, wer wird aktiv und bewusst ausgeschlossen (z.B. Cis-Typen in FrauenLesbenTrans* Räumen) und wer wird ausgeschlossen, weil sie nicht aktiv eingeladen und willkommen geheißen werden. Wenn ich mich für caring Communities ausspreche, argumentiere ich nicht gegen identitär gestaltete Orte. Ich argumentiere auch nicht dagegen, Menschen von Räumen auszuschließen, wenn sie die Grenzen anderer verletzen oder diskriminierend auftreten. Aber ich möchte auch danach fragen, wer das Privileg hat, solche Räume in Anspruch zu nehmen und wer immer dazu gezwungen ist, mit (potentieller) Diskriminierung in diesen Räumen umzugehen.
Caring als fortlaufende Praxis
Ich mag den Begriff „caring“ weil es darauf verweist, dass das Schaffen von Räumen, in denen sich Menschen wohl fühlen können, eine fortlaufende Praxis ist. Sicherheit ist nicht etwas, das einfach so da ist. Menschen müssen ein Interesse an Sicherheit haben und aktiv dafür sorgen, dass sich Menschen sicher und willkommen fühlen. Der Begriff zeigt auch, dass ich davon abhängig bin, dass sich andere für mich und meine Themen interessieren. Es fällt mir nicht leicht, mir einzugestehen, dass ich andere dazu brauche, meine Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen ernst zu nehmen, damit meine Communities zu einem Ort werden, an dem ich mich zuhause fühlen kann.
Feministische Räume fokussieren sich häufig auf das vermeintlich gemeinsame Thema Sexismus, wobei einige vergessen, dass Sexismus nicht für alle gleich aussieht. Wie wir zum Beispiel Belästigungen auf der Straße erleben, hängt davon ab, welche soziale Positionen wir innehaben und/oder wie wir von anderen wahrgenommen werden. Bestimmte Themen aus einer bestimmten Perspektive zur Priorität zu machen reproduziert Heterosexismus in feministischen Communities, weil wieder mal Heterosexualität zur unausgesprochenen Norm erklärt wird.
Beispielsweise wird die Diskussion um reproduktive Rechte häufig auf das Recht auf Abtreibung beschränkt, während nicht über das Einbeziehen von queeren Lebensweisen in Aufklärungsmateriailen – sei es der Aufklärungsunterricht an der Schule oder „Dr. Sommer“ in der Bravo – gesprochen wird. Queer-feministische Räume werden meiner Meinung nach dann zu caring Communities, wenn sie sich nicht nur für (ein sehr begrenztes Verständnis von) Sexismus interessieren, sondern immer für verwobene Machtverhältnisse, wie Rassismus, Trans*diskriminierung/Cissexismus, Ableismus, Klassismus, Antisemitismus, etc.
Wer erwartet von wem Solidarität?
In caring Communities geht es für mich darum, Solidarität und Verbündetsein zu praktizieren. Wie kann ich Räume schaffen, in denen Menschen für sich sorgen können? Wie kann ich anderen ein_e gute_r Verbündete_r in Selbstfürsorge (self-care) sein? Mir ist es wichtig, nicht davon auszugehen, dass ich die Verantwortung übernehmen muss, für alle zu sorgen. Zunächst einmal finde ich es wichtig zu reflektieren, inwiefern das Sorgen für andere eine_n davon abhalten kann, für sich selbst zu sorgen. Obwohl ich denke, dass diese beiden Dinge sich nicht gegenseitig ausschließen müssen – was ich in den caring Communities lerne, in denen ich mich bewege. Aber vor allem kann und werde ich nicht immer wissen, was andere Menschen brauchen. Ich will nicht an die narzisstische Vorstellung glauben, dass andere davon abhängig sind, dass ich sie rette oder dass ich weiß, was das Beste für sie ist. Für mich ist das keine Fürsorge, sondern die Reproduktion einer Dominanzstruktur.
Deswegen möchte ich stattdessen darüber nachdenken, wie ich Solidarität zeigen kann, wie ich eine gute Verbündete sein kann und wie ich dafür Verantwortung übernehmen kann, wie ich meine Solidarität zeige und mich mit anderen verbünde. Andere können meine Solidaritätsangebote annehmen oder auch nicht. Es ist meine Entscheidung, Unterstützung anzubieten und dafür verschiedene Formen zu finden, aber in diesem Kontext bin ich nicht diejenige, die darüber entscheidet, was unterstützend ist. Ich denke auch, dass es wichtig ist, darüber zu reflektieren, wie Solidarität verteilt ist: Wer erhält Solidarität von wem? Wer erwartet von wem Solidarität? Wie zeigst du Solidarität? Zeigst du nur dann Solidarität, wenn du innerhalb deiner Komfortzonen bleiben kannst?
Also: Wie können wir caring Communities gestalten, in denen Menschen ein Gefühl von Anteilnahme spüren, auch wenn wir keine diskriminierungsfreien Räume versprechen können?
In letzter Zeit haben mich zwei Formen von Anteilnahme beschäftigt, die ich hier gerne teilen möchte: Räume für verschiedene Meinungen und Prioritäten schaffen und Räume für verschiedene Zugänge und Kapazitäten schaffen.
Ich kann dann einen Raum für verschiedene Meinungen und Prioritäten schaffen, wenn ich bereit bin, meine eigenen Prioritäten in Frage zu stellen. Dafür müsste ich reflektieren, wie diese Prioritäten damit verbunden sind, wie meine Privilegien die Perspektive formen, die ich auf queer-feministische Themen einnehme. Was ist Teil meiner Definition von Sexismus? Nehme ich Sexismus als rassifiziert wahr? Und wie zeigt sich das in meinem antisexistischen Aktivismus? Wenn ich einen Raum für verschiedene Meinungen und Prioriäten schaffe, muss ich mir die Frage stellen, welche meiner Prioritäten ich aufgebe und wie ich meine alltäglichen Erfahrungen und Perspektiven auf die Welt verkompliziere, um eine gute Verbündete mit anderen Themen zu werden, die dann auch zu meinem Thema werden.
Statt Harmonie: Raum für Kritik und Spaß
Eine Raum für verschiedene Meinungen zu schaffen beinhaltet häufig auch einen Raum für Widersprüche und Widersprechen zu schaffen. Ich muss dafür die Idee eines harmonischen Raums aufgeben, wo alle mit allen übereinstimmen – was oft eh bedeutet, dass manche dazu gezwungen werden, mit der dominanten Meinung übereinzustimmen. Dadurch wird es möglich, darüber zu reflektieren, welche Formen von Macht und Kontrolle in queer-feministischen Communities wirksam sind und welche Machtverhältnisse in alltäglichen Interaktionen reproduziert werden.
Für mich geht eine gegenseitige Anteilnahme nicht ohne gegenseitige Kritik. Manchmal geht es nicht ohne tough love. Wenn ich andere kritisiere, versuche ich mir vorher zu überlegen, wie ich selbst gerne kritisiert werden möchte und wo meine Kritik herkommt. Kritisiere ich jemanden, weil sie_er sich nicht verantwortungsvoll verhalten hat? Gesteht meine Kritik ihnen die Möglichkeit zu sich zu verändern – falls ich ihnen die Möglichkeit geben möchte? In anderen Worten, äußere ich meine Kritik auf eine solidarische Weise? Oder kritisiere ich jemanden, weil ich möchte, dass sie_er mir zustimmt und dass sie_er sich nach meinen Vorstellungen verhält? Für mich ist es wichtig, meine eigene Motivation und Absicht zu reflektieren, wenn ich andere kritisiere und dafür offen zu sein, selbst kritisiert zu werden.
Eine andere Form, mir Unterschiede bewusst zu machen, ist Raum für unterschiedliche Zugänge und Kapazitäten zu schaffen. Was ist mein Zugang von feministischem Aktivismus? Welche Zugänge haben andere? Wie ist mein Zugang durch Normen von Produktivität und Effizienz geprägt? Wenn ich gestresst bin, merke ich, wie ich sehr hart werden kann und mich anderen gegenüber sehr bewertend verhalte, wenn sie nicht die Dinge so tun, wie ich sie tue oder wie ich möchte, dass sie sie tun. Ich hab damit angefangen zu üben, andere Herangehensweisen, Bedürfnisse und Grenzen wahrzunehmen und zu akzeptieren. Für mich ist es wichtig, über verschiedene Gründe nachzudenken, warum Menschen vermeintlich „weniger“ machen. Ich möchte mich selbst über verschiedene Kapazitäten informieren, damit ich andere nicht dazu zwinge, über ihre Erschöpfung, Grenzen und Burnouts zu sprechen, bevor ich von meinen Erwartungen abrücke. Ich hoffe, dass ich auch liebevoller mit mir selbst umgehen kann, wenn ich mehr über die Grenzen von anderen lerne.
Ich denke, dass es in caring Communities auch Platz für Spaß, Spielerisches und Feiern braucht. Lange Zeit hat Anteilnahme für mich bedeutet, mich um andere zu kümmern, wenn es ihnen nicht gut geht. Irgendwann hab ich damit begonnen Selbstfürsorge miteinzuschließen. Es hat sehr lange gedauert, bis ich verstanden habe, wie begrenzt diese Vorstellung von Anteilnahme ist. Ich denke, dass es wichtig ist, Schonzeiten zu schaffen und sich gegenseitig auch mal zu schonen. Häufig höre ich nur dann damit auf aktivistisch aktiv zu sein, wenn ich einen Punkt erreiche, an dem ich nicht mehr kann. Ich finde es spannend, wie ich Aktivismus mit Aktivsein und Inaktivsein mit Ausruhen verbinde. Aber ich weiß auch darum, dass Selbstfürsorge sehr viel aktives Zeit- und Raumschaffen benötigt. Und dann gibt es die ganzen freudigen Dinge, wo ich mir wünschen würde, dass sie als Teil von queer-feministischem Aktivismus verstanden werden: die spontane Tanzparty in der Küche von jemanden, gemeinsames Abendessen, zusammen schweigend da sitzen, geteiltes Lachen – all die kleinen Momente, in denen caring Communities zu gewachsener und wachsender Verbundenheit werden.