Jahrescharts reviewed

Die Saison der Best-Album-Listen geht gerade zu Ende. Eine perfekte Gelegenheit, mal wieder einen kritischen Blick auf Geschlechterverhältnisse im Musikbusiness zu werfen, findet Liz in ihrer Genderkolumne auf freitag.de.

Das Ding mit den Jahreslisten ist keine einfache Sache, sondern ein fieser Mainstreaming-Prozess der Musikpresse. Hier findet sich eher Konsens statt wildem Grenzgängertum. Trotzdem mag ich sie. Abschlusscharts komprimieren das musikalische Jahr zu einer praktischen Übersicht und lassen den wilden Sound-Dschungel in hübscher Ordnung erscheinen. Je nach Medium lässt sich ablesen, welche Platte vielleicht zu Unrecht noch nicht gehört wurde – weil das Cover komisch war oder der Zeitpunkt des ersten Hörens keine guten Umstände bot.

Die nachrichtenarme Feiertagszeit habe ich also für eine intensive Listenanalyse genutzt. In dieser Kolumne folgt deshalb zweierlei: ein reichhaltiger Überblick an Musikerinnen, die immer wieder in den Jahrescharts auftauchen, und ein kritischer Blick auf die Geschlechterverteilung der in den Top 25 gelisteten Künstler_innen. Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache: Männlich dominiert ist – Überraschung – auch die Popmusik. Deswegen ist es wichtig, aktiv aufmerksam zu machen auf Künstlerinnen und Musikerinnen, über die Geschlechterverhältnisse in der Popkultur nachzudenken und strukturelle Ungleichheit der Geschlechter nicht wegzureden sondern zu bekämpfen. 

Zahlenspiele

Für die Auswertung der Top-25-Alben von Intro, PitchforkThe Wire und Resident Advisor habe ich die Musiker_innen in das gesellschaftliche System der Zweigeschlechtlichkeit eingeordnet, zum Beispiel über Namen oder die verwendeten Pronomen in Labelinfos. Ich kann also nicht sagen, ob sie sich selbst so identifizieren würden. Außerdem tauchen in den Ergebnissen nur die vereinheitlichten Gruppen von Frauen und Männern auf – Differenzen innerhalb der Gruppen sowie jegliche Personen, die nicht dazu gehören, werden unsichtbar gemacht. Alles Probleme mit denen sich die Geschlechterforschung schon lange beschäftigt und woher die wichtige Wissenschaftskritik an quantifizierender Forschung kommt.

Hier die Anzahl von rein weiblichen Acts, gemischtgeschlechtlichen Musikprojekten und männlichen Solo-Künstlern und Bands im Vergleich:

  • Kategorien:   weiblich – gemischt – männlich
  • Intro:                     2 – 7 – 16
  • Pitchfork:              4 – 6 – 15
  • The Wire:              4 – 3 – 18
  • RA (Top 20):         2 – 1 – 17

Unter den rein weiblichen Acts finden sich nur Solokünstler_innen, keine einzige nur weiblich besetzte Band. Und während bei den gemischtgeschlechtlichen Acts schon eine Quotenfrau an der stereotyp weiblichen Geige reicht, um in diese Kategorie zu fallen, überwiegen in allen vier Jahrescharts Musikprojekte von Männern. Am ausgeprägtesten in der elektronischen Musikliste des Resident Adviser, dicht gefolgt vom gern gelobten, avantgardistischen Wire. Aber auch die gitarrenlastigeren Magazine haben nur einen kleinen Vorsprung.

Hit-Musik

Die einzige Frau auf Platz eins ist Laurel Halo mit ihrem AlbumQuarantine in der Wire-Liste. Ihr herausfordernder Musikentwurf überzeugt die Kritiker_innen und taucht immer wieder als wichtiges Album des vergangenen Jahres auf. Weitere Musiker_innen aus den Listen, die schon in dieser Kolumne auftauchten, sind Grimes mit ihrem im März erschienenen Album Visions genauso wie Bat for Lashes‘  The Haunted Man und das gemischtgeschlechtliche Duo Purity Ring mit ihrem Debüt Shrines.

Fiona Apple – Every Single Night from Radio Fortuna 106.9 FM on Vimeo.

Auf Platz drei bei Pitchfork findet sich dann das vierte Studioalbum der in den USA kultisch verehrten Singer-Songwriterin Fiona Apple, die sich für ihr obenstehendes Video zur ersten Singleauskopplung schon mal einen Tintenfisch auf den Kopf setzt oder auch 23 Wörter für den Albumtitel wählt. Das einnehmende, wütende, verzweifelte The Idler Wheel… führt dabei die Arbeit einer außergewöhnlichen Musikerin auf konsequente Weise fort.

Die in Los Angeles wohnende Julia Holter hat im März 2012 das Album Ekstasis veröffentlicht, das viel Material ihrer schon gelobten Vorgängerplatte Tragedy enthielt und das mich durch den Sommer begleitet hat. Die pointiertere, eingängigere und auch etwas poppigere Form der Platte findet sich zu Recht in den Top 25 der Musikmagazine.

Zwei weitere Damen bestimmten 2012 mit charttauglicheren Sounds. Da ist zum einen die britische Soul-Pop-Hoffnung Jessie Ware, die mit ihrem Debütalbum Devotion auf Platz drei der Guardian-Charts gelandet ist. Und natürlich, nicht zu vergessen, die Königin der nicht nur wegen Simon Reynolds jahresprägenden Retromanie Lana Del Ray mit Born to Die. War ich lange Zeit vor dem Sound der Barbiepuppenverkörperung gefeit, schlich sich doch glatt entgegen der Vorgabe der Jahreszeiten ihr Hit Summertime Sadness noch im Winter in mein Ohrwurm-Gedächtnis.

Unter den gemischtgeschlechtlichen Bands finden sich in den Listen zum Beispiel der Art-Rock der Brooklyner Band Dirty Projectors mit ihrer Platte Swing to Magellan, genauso wie die gleich nach dem zweiten Album von The xx zu reihende Konsensplatte Kill for Love von den Chromatics, deren Sound durch Italo-Disco, langsame Synths und Post-Punk-Gitarren geprägt ist. Oder der deutlich dichter gewordene Dreampop von Beach House mit Bloom.

Und wer jetzt gar nicht mehr weiß, wo er als erstes Hinhören soll den möchte ich wahlweise in die Arme von Cat Power entlassen, die Meisterin der Krise, die mit Sun mal wieder gezeigt hat, welch tolle Musikerin sie ist. Oder in die Arme des schwulen Pornostars Arpad Miklos im wie immer tollen Video von Perfume Genius.

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