Intersexuelle Menschen sichtbar machen und schützen

Leo studiert „Nonprofit-Management und Public Governance“ und interessiert sich für Gender- und Queerthemen. Er_Sie hat einer Veranstaltung über Intersexualität gelauscht.

Die SPD-Bundestagsfraktion veranstaltete am 4. September 2012 eine Podiums­dis­kussion zum Thema „Inter­sexuelle Menschen an­er­kennen. Selbst­be­stimmung im Identitäts­geschlecht“ in der Berliner Zwölf-Apostel-Kirche.

Mechthild Rawert, MdB (SPD) sagte zu Beginn: „Wir wollen alle Menschen sichtbar machen.“ Mut in der Debatte machte das Referat der argentinischen Botschaft über deren neue Gendergesetzgebung. Zum Schluss fasste Rawert zusammen: „Wir sind gegen kosmetische Operationen im Kindesalter. Wir wollen ein Ende der Dis­kri­mi­nierung und brauchen Unterstützungsangebote für Eltern und intersexuelle Menschen. “

Vor der Diskussion hatten die SPD-Fraktion und die Zwölf-Apostel-Gemeinde dort zum Vespergebet geladen. Die Predigt hielt Bruder Franziskus vom evangelisch-hochkirchlichen Rogatekloster. Er kritisierte, die Kirche habe bisher nicht genug für intersexuelle Menschen getan. Er bat Gott, alle Leben gleichsam zu schützen. Gott sei mit den Minderheiten. Amen. Wenn’s denn hilft.

Simon Zobel vom Verein Intersexueller Menschen und Amnesty International fragte ihn, wenn Gott mit den Minderheiten sei, wer die Mehrheiten seien. Und antwortete selbst: Es sind die Konstrukte Mann und Frau. Zobel kritisierte, viele intersexuelle Menschen würden nicht erfasst im „Raster von Fehlbildungen und Abweichungen“.

Fast alle Organe und Gewebe seien mehrwertig angelegt und könnten beide Ge­schlechter annehmen. „Wir sind alle mehr­wertig, einige auch mehrdeutig.“ Es gebe mehr intersexuelle Menschen, als manche_r vermute, aber nicht bloß drei Geschlechter, sondern viel­fältige Geschlecht­lich­keiten. „Wir sollten das Ge­schlecht nicht abschaffen, sondern neu denken“, so Zobel. Auch der Kinder- und Jugend­arzt Jörg Woweries schlug in diese Kerbe. Das dichotome Ge­schlechter­modell der Medizin sei falsch. Er empfahl eines mit zwei Polen und breitem Kontinuum.

Katrin Bentele vom Deutschen Ethikrat will einen anderen Weg gehen. Der Ethikrat schlägt vor, in das Personen­stands­gesetz die Kategorien „anders“ und „keine Bestimmung“ aufzunehmen. Eine un­büro­kratische Um­zu­ordnung ohne Gut­achten soll möglich sein. „Wir brauchen die Möglichkeit einer positiven Zuordnung. Gleich­zeitig wollen sich nicht alle zuordnen.“ Der Ethikrat hat ein Tor geöffnet, das auch Zobel und Woweries gefallen dürfte: Die Politik soll prüfen, ob beim Personen­stand überhaupt ein Ge­schlecht erhoben werden muss.

Bentele forderte den Schutz vor Körper­ver­letzung. Bei medizinischen Eingriffen müsse es vorher eine unabhängige Beratung geben von interdisziplinären Zentren oder Selbsthilfegruppen. Woweries kritisierte, dass Eltern häufig falsch beraten würden, ihre Kinder „um­operieren“ zu lassen. Mindestens ein bis zwei von 1000 Neugeburten sind intersexuell. „Das ist so häufig wie Diabetes, wozu alle Ärzte beraten können. Hierzu nicht.“

Bei Operationen seien das Kindes­wohl und die Meinung des Kinds maßgeblich, forderte Bentele. Der Ethikrat unterscheidet zwischen geschlechts­ver­ein­deutigenden und -zuordnenden Eingriffen. Erstere passen die äußeren Geschlechtsmerkmale an das ansonsten eindeutige Geschlecht an (andrenogenitales Syndrom/AGS). Der Ethikrat räumt hier Eltern ein Mit­ent­scheidungs­recht ein, aber das Kindes­wohl behält Vorrang. Geschlechts­zu­ordnende Eingriffe – kosmetische Operationen, die intersexuelle Menschen einem anderen Geschlecht anpassen – sollten vor dem 18. Lebensjahr verboten sein.

Jörg Woweries unterschied da nicht, gab dem AGS keine Sonderrolle und sprach nur von ge­schlechts­zu­ord­nen­den Operationen. Dabei entstünden schwere gesundheitliche Schäden. Unter den Folgen leide später ein Viertel bis die Hälfte der Betroffenen. Das sei Körperverletzung. Er sagte: „Bereicherungen sind keine Krank­heit, deswegen dürfen Ärzte nicht das letzte Wort haben.“

Die argentinische Botschaft hatte extra einen Experten aus Argentinien eingeflogen: Pedro Mouratian, Regierungs­rat der Anti­diskriminierungs­stelle INADI. „Wir wollen Diskriminierung diagnostizieren und ihre Mechanismen aus­hebeln.“ Also wurden viele Gesetze geändert, 2010 das Gesetz für die gleich­ge­stellte gleich­ge­schlechtliche Ehe eingeführt.

Seit Mai 2012 gibt es das Recht auf Geschlechts­identität. „Die Trans*community hat das gefordert und wir haben das gemacht“, zeigte Mouratian den Weg. Es räumt allen Menschen das Recht ein, den Namen und das Passgeschlecht zu ändern ohne chirurgischen Ein­griff. Alle haben das Recht auf ge­schlechts­zuordnende Be­handlungen. Die Kosten trägt der Staat. Auch Minder­jährige genießen diese Rechte und können sie einklagen, ohne ihre aus­drückliche Zustimmung läuft aber nichts.

So profitieren auch intersexuelle Menschen davon. „Wir ehren das Menschenrecht jeder Person auf eine eigene Geschlechtsidentität, auf freie Entfaltung und die Bestimmung darüber, was im Pass steht.“ Mouratian sagte, „mit der richtigen politischen Einstellung ist alles möglich“.

Die SPD-Fraktion will einen Bewusstseinswandel erzielen. Pedro Mouratian hat klar gemacht, dass eine umfassende Gesetzesänderung die beste Lösung ist. Und ziemlich einfach.

13 Kommentare zu „Intersexuelle Menschen sichtbar machen und schützen

  1. Hallo Leo,

    vielen Dank für den sehr interessanten Bericht über die Veranstaltung! Zusammenfassungen von Veranstaltungen finde ich immer sehr hilfreich, mensch kann ja nicht zu allem hingehen :)

    Liebe Grüße,
    Magda

  2. Vielen dank auch von mir! Ich habe über die Veranstaltung auch anderes gehört. Nachdem in den letzten Wochen gerade die SPD-Fraktion sehr deutlich gegen die geschlechtszuweisenden Eingriffe aufgetreten war, erschien der Beobachter_in die Veranstaltung als Kompromisssuche mit der Medizin. Insofern gilt es, die Augen offen zu halten und sehr deutlich gegen die Körperverletzungen durch die Medizin vorzugehen!

    Dazu gibt es aktuell Möglichkeiten für politische Demonstrationen in Hamburg, Leipzig, Dresden und Halle. Informationen:
    http://blog.zwischengeschlecht.info/

    Medizinethisch interessant ist auch die kleine neue Publikation „Intersexualität – Intersex“, aus der sichtbar wird, dass es nicht ausreicht, das Behandlungsprogramm nur verbessern zu wollen, weil die aktuellen Studien zu den Behandlungsergebnissen zeigten, dass das medizinische Behandlungsprogramm den behandelten Menschen Schaden zufügt.
    http://www.unrast-verlag.de/unrast,2,417,18.html

  3. argentinien als positivbeispiel für intersexe verkaufen zu wollen ist absurd: maria marcela bailez, eine der übelsten zwitterverstümmlerinnen heutzutags, ist argentinierin und praktiziert dort, sie macht in all ihren publikationen keinen hehl daraus, dass medizinisch nicht notwendige kosmetische genitaloperationen so früh wie möglich durchgeführt werden sollen und sitzt in internationalen standesorganisationen, die ebenfalls genau das propagieren und praktizieren! (auch historisch war argentinien an der etablierung der frühkindlichen verstümmelungen massgeblich beteiligt.)

    um wessen interessen es da tatsächlich geht, stellt der obige artikel ja unfreiwillig gleich selbst klar:

    „Die Trans*community hat das gefordert und wir haben das gemacht“, zeigte Mouratian den Weg.“

    es wäre an der zeit, endlich aufzuhören, zwitter für lgbt-interessen zu vereinnahmen, während weiter täglich wehrlose kinder verstümmelt werden …

    das weltweit einzige land, das kosmetische genitaloperationen an intersex-kindern als folge höchstinstanzlicher gerichtsentscheide minimal einschränkt (wenn auch leider nach dem motto 3 schritte vor und 2 wieder zurück), ist nach wie vor kolumbien – wie jede_r wissen kann und sollte, der sich tatsächlich und ernsthaft für das wohl der betroffenen kinder einsetzen will.

    in berlin wurde das verstümmelungsangebot in der charité im letzten jahr massiv ausgebaut, während der spd-senat bis heute jegliche kenntnis von „derartigen Operationen“ leugnet:
    http://blog.zwischengeschlecht.info/post/2011/11/08/Genitalverstuemmelung-Charite-ueberregionales-Zentrum

    dass mechthild rawert sich nun offenbar gegen kosmetische genitaloperationen an kindern positionieren will, ist erfreulich. ich warte auf konkrete taten. bisher verweigert sie weiterhin den dialog mit betroffenen von kosmetischen genitaloperationen im kindesalter:
    http://blog.zwischengeschlecht.info/pages/Kosmetische-Genitalkorrekturen-Mail-an-Mechthild-Rawert

    auch das rogate-kloster, das als gastgeberin der veranstaltung in seiner ankündigung so tut, als wären die verstümmelungen längst „Vergangenheit“, stellt sich gegenüber kritischen fragen taub und stumm:
    http://blog.zwischengeschlecht.info/post/2012/09/04/Intersex-Genitalverstummelungen-in-der-Charit%C3%A9-Offener-Brief-Rogate-Kloster-Berlin

    auch amnesty berlin inkl. hochschulgruppe ist offenbar stets dabei, wenn es darum geht, auf kosten verstümmelter kinder personenstandspolitik zu betreiben, wenn es dagegen konkret um die beendigung der verstümmelungen oder um aufarbeitung geht, fühlen sie sich anscheinend nicht zuständig (vgl. veranstaltung fu berlin 9.5.12):
    http://blog.zwischengeschlecht.info/post/2012/05/06/Intersex-Veranstaltungen-an-Universitaeten-praktische-Solidaritaet

    die genitalabschneiderInnen freut’s …

    @ Daniel_e: danke für den hinweis auf die aktionen ab morgen während der nächsten 3 wochen.

    die erwähnte publikation von heinz-jürgen voß ist tatsächlich hochinteressant und wichtig!

  4. @Daniel_e: Ich habe den Podiumsvertreter und Kinderarzt Jörg Woweries nicht als Kompromiss suchend wahrgenommen, sondern als äußerst kritisch. Die Vertreterin des Ethikrats hat die Stellungnahme des Ethikrats sinngemäß wiedergegeben und äußerte sich zu sog. geschlechtzuordnenden und -vereindeutigenden Maßnahmen unterschiedlich in Bezug auf Operationen (siehe deren Stellungnahme).

  5. @markus bauer: Richtig ist, dass Pedro Mouratian nicht über ein Intersexgleichstellungs- und -schutzgesetz gesprochen hat, sondern über ein (imho äußerst fortschrittliches) Transidentitätsgesetz, das erst im Mai 2012 in Kraft trat und hoffentlich bereits wirkt. Er erklärte in diesem Zusammenhang aber – so steht es auch im obigen Blogposting – , dass durch das Zustimmungsrecht bei Geschlechtsoperationen, das auch für Minderjährige gilt, intersexuelle Menschen von diesem Gesetz ebenso profitieren. Mouratian hat intersexuelle und trans*idente Menschen jedoch nicht gleichgesetzt, sondern hier nur einen Zusammenhang dargestellt.
    Richtig ist die Beobachtung, dass Trans*- und Intersexthemen teils durcheinander diskutiert wurden. Das lag sicherlich auch an den eingeladenen Podiumsgäst_innen. Im Übrigen finde ich nichts Negatives daran, wenn Kämpfe gemeinsam gefochten werden. Ich persönlich hatte nicht den Eindruck, dass bei dieser Veranstaltung jemand vorhatte, Interessen gegeneinander auszuspielen oder zu vereinnahmen.
    Vielen Dank übrigens für den Hinweis auf Maria M. Bailez. Pedro Mouratian hatte dies in meiner Erinnerung so dargestellt, als seien Beschneidungen an Kindern ohne ihre Zustimmung nicht mehr möglich (seit Mai 2012), auch wenn sicherlich nicht ausgeschlossen werden kann, dass Kinder hier manipuliert werden (sollen).
    Auf das Land Berlin bin ich deswegen nicht eingegangen, weil sich diese Veranstaltung um eine Lösung auf Bundesebene drehte.

  6. Jörg Woweries meinte ich nicht. Ich befürchte, dass die SPD-Abgeordneten nicht konsequent sind, sondern voreilig auf Kompromiss setzen. Ethikrat ist indiskutabel – das in Bezug auf ihn alles geht, zeigt ja aktuell die CDU, die mit Bezug auf den Ethikrat weiter medizinische Eingriffe fordert.

  7. Mir erscheint es schon so, dass Intersex-Themen regelmässig unter „ferner liefen“ bei Trans*-Themen drangehängt werden. Als eine vermutliche Konsequenz erlebe ich beispielsweise oft, dass Leute denken, Intersex* sei nur ein weiterer Begriff für Trans*, und das macht Kommunikation nicht leichter. Klar ist es gut, wenn intersexuelle Menschen von einer Regelung für Trans* auch profitieren können, alles, was die Lage verbessert, ist erstmal schön. Aber „gemeinsam Kämpfe ausfechten“ klingt für mich wie ein Ideal, das nicht gegeben ist, ich beobachte da auch oft eher Vereinnahmung (die vermutlich nicht mit Absicht geschieht, aber trotzdem…).

  8. @Daniel_e: Ah okay! Jetzt hab ich den Punkt verstanden ;) Ich wünsche mir auch, dass die SPD-Fraktion nun die entsprechenden Konsequenzen aus dieser Veranstaltung zieht und es nicht dabei belässt. Und ich wünsche mir auch, dass das kein Wahlkampfthema wird, sondern vor der Wahl längst gelöst ist.
    @Stephanie: Zustimmung.

  9. Stephanie sagt:
    „Mir erscheint es schon so, dass Intersex-Themen regelmässig unter “ferner liefen” bei Trans*-Themen drangehängt werden. […] ich beobachte da auch oft eher Vereinnahmung (die vermutlich nicht mit Absicht geschieht, aber trotzdem…).“

    Leo sagte:
    „@Stephanie: Zustimmung.“

    grad ein aktuelles beispiel: die taz Nord möchte über die intersex-proteste dieses wochenende berichten, bringt dazu ein interview – schreibt aber konsequent und einzig von „Transsexualität“ …
    http://blog.zwischengeschlecht.info/post/2012/09/14/taz-ofter-jungen-gebastelt-intersex-15-9-12

    und „natürlich“ lauft sowas immer in dieselbe richtung …

    auch wenn es also (vermutlich) nicht mal beabsichtigt oder bös gemeint ist, gibt es da strukturelle gegebenheiten, die dazu führen, dass auch durch in ihrer eigenwahrnehmung wohlmeinende regelmässig „die Nicht-Sichtbarkeit und die Objektivierung der Intersexuellen perpetuiert“ wird, wie das emi koyama / lisa weasel schon 2002 treffend formulierten.

    und auch 10 Jahre später ist ein reflektierter umgang mit dieser tatsache immer noch die grosse ausnahme, und auch eine kritische Aufarbeitung der lgbt(t)-geschichte unter diesem aspekt immer noch ganz am anfang …

    offenbar auch (um den kreis wieder zu schliessen) im umfeld der oben besprochenen veranstaltung

Kommentare sind geschlossen.

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