Peet Thesing ist Kulturwissenschaftlerin, Wendotrainerin für feministische Selbstverteidigung und Selbstbehauptung und Aktivistin. Sie beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Psychiatrie, der Konstruktion von psychischen Krankheitsbildern und feministischen Widerstandsstrategien. Im März erschien ihr Buch über feministische Psychiatriekritik im Unrast Verlag. Wir sprachen mit Peet über Anerkennung von Leid und Diagnosen und Alternativen zu Therapie und Psychiatrie.
Wer in dieser Gesellschaft welche Diagnose bekommt und wessen Situation und Verfassung medizinisch anerkannt wird, wird durch gesellschaftliche Machtverhältnisse und Diskriminierung bestimmt. Einerseits sind viele von uns permanenter Psycho_Pathologisierung ausgesetzt, andererseits werden bestimmte Wahrnehmungen, Verfassungen und Lebenssituationen von Mediziner_innen nicht ernst genommen. Braucht es diskriminierungssensible / machtkritische Diagnostik oder lehnst du psychiatrische Diagnosestellungen gänzlich ab?
Innerhalb des psychiatrischen Systems kann es keine echte Emanzipation geben, da immer zwischen den Gesunden und Kranken unterschieden wird und Vorstellungen von psychischer Normalität geschaffen werden. Die Verschiebung dieser Grenze verändert nicht die Problematik der Grenze. Im Gegenteil, Diagnostik die sich machtkritisch nennt, versteckt, wie sehr Psychiatrie und ihr System zu Aufrechterhaltung ebendieser Strukturen beiträgt, die Menschen verletzen, diskriminieren und ausschließen. Ich verstehe den Wunsch danach, denn wir müssen in dem System klar kommen in dem wir leben – aber den psychiatrischen Zugriff noch mehr ausweiten ist nicht die Lösung.
Feministische Psychiatriekritik kann sehr herausfordernd sein, auch weil (diskriminierungssensible) Hilfs- und Unterstützungsangebote außerhalb des psychiatrischen und psychotherapeutischen Komplexes rar und/oder für viele finanziell nicht möglich sind. Braucht es überhaupt medizinische, psychiatrische und psychotherapeutische Ansätze zum Umgang mit Belastung, Leid, Schmerz und Gewaltfolgen? Welche Alternativen hält die feministische Psychiatriekritik bereit?
Ich würde grundsätzlich einfach die Annahme in Frage stellen, dass in der Psychiatrie um Hilfe geht. Heute wie auch historisch wird Gewalt und Ausschluss ist argumentiert mit „Es ist zu deinem Besten.“ Natürlich ist in der Welt in der wir leben individuell der Rückgriff auf therapeutische Unterstützung oft nötig, weil es zu wenig alternative Strukturen gibt. Wir brauchen vor allem gesellschaftliche Konzepte zum Umgang mit Gewalt und ihren Folgen, zum Umgang mit Schmerz, Leid und Krisen. Wie reden wir miteinander? Wie wohnen wir? Wie unterstützen wir Freund_innen? Die Menschen mit denen wir politisch arbeiten? Es gibt den Trend statt in Gruppen in unverbindlichen, losen Zusammenhängen politisch zu arbeiten. Das wirkt erstmal offener und zugänglicher. Gleichzeitig werden so keine konstanten Strukturen geschaffen, und Einzelpersonen können sich in Krisen nur schwer begleiten. Communities, die dann nicht überfordert sein oder Krisen, Leid und Schmerz auslagern wollen, brauchen ein gewisses Maß an Commitment.
Auf der Umschlagsseite zu deinem Buch schreibst du, dass Psychiatriekritik aus dem Blickfeld feministischer Aktivist_innen verschwunden ist. Warum glaubst du, ist das so? Stand das Thema irgendwann auf der Agenda und wenn ja, welche Interventions- und Widerstandsformen gab es?
In den 80ern ist einiges an feministischer-
Seit einiger Zeit setzen sich feministische Aktivist_innen vermehrt für die Anerkennung sogenannter psychischer Krankheiten als Behinderung ein, auch um auf Barrieren innerhalb linker / feministischer Communities und Leerstellen aktivistischer Widerstandsformen aufmerksam zu machen. Was hältst du von der Strategie?
Auch hier würde ich sagen: Ich verstehe den Impuls, aber ich will nicht Anerkennung vom Patriarchat oder den rassistischen und kapitalistischen Strukturen, sondern die Auflösung von eben diesen. Das ist einfach ein grundlegend anderer Ansatz. Klar, manchmal ist pragmatische Politik notwendig, aus finanziellen Gründen zum Beispiel. Aber das sagt nicht, dass meine politische Zielsetzung nicht eine andere sein kann. Ich will mich nicht abfinden mit einem scheinbar verbesserten Status quo.
In manchen identitätspolitischen Ansätzen werden sogenannte psychische Krankheiten nicht nur als Folge von Diskriminierung und Gewalt, sondern als Teil der körperlichen und biochemischen Konstitution der jeweiligen Person definiert. Nach diesem Ansatz gibt es „neurotypische“ und „neurodiverse“ bzw. nicht-behinderte und behinderte Menschen…
Das soziale Modell von Behinderung als behindert werden durch die Gesellschaft war ein wichtiger Erkenntnisschritt. Durch die Idee eines neurotypischen oder „normalen“ Gehirns wird sich auf ganz dünnes Eis begeben und diese Erkenntnisse vernachlässigt. Ein Gehirn ist keine biologische Konstante. Unsere Erfahrungen verändern das Gehirn. Was soll ein neurotypisches Gehirn sein? Und wo bleibt die Gesellschaftskritik, die dies in Frage stellt und nicht nur Anerkennung von einem kaputtmachendem System sucht? Was ist das Ziel dieser Bewegung, die Neurodiversität quasi auf sämtliche nicht-konforme Formen von psychischen Zuständen ausweitet? Anerkennung von einem System, das aussondert? Ich glaube nicht, dass dadurch die Verhältnisse grundlegend verändert werden können.
Dem eigenen Nicht-Funktionieren oder der Nicht-Erfüllung eigener und Erwartungen anderer wird manchmal mit Selbstpathologisierung begegnet. „ich bin … / ich habe …, also kann ich … nicht tun.“ Es scheint, als ob die Erklärung bzw. Offenbarung eines Krankheitszustandes ein effektiver Weg ist, sich gesellschaftlichen Annahmen über Leistungsfähigkeit, Gesundheit und soziale Interaktion zu widersetzen. Warum plädierst du dennoch dafür, mehr darüber in Austausch zu gehen, was eine_r nicht will, statt was eine_r nicht kann?
Wenn ich nur darüber rede, was ich kann oder nicht, aus welchen Gründen auch immer, rede ich nicht mehr darüber was ich will. Diese Gesellschaft treibt uns das wollen so sehr aus, gerade Frauen und auch viele trans Personen lernen, dass sie nichts wollen dürfen. Veränderung werden erkämpft in dem eine_r mehr will, anderes bewusst ablehnt, nicht durch die Wiederholung des Glaubens an eigenes Nichtkönnen. Das soll überhaupt nicht heißen, dass es nicht manchmal Sachen gibt die nicht gehen, möglich sind, einfach auch strukturell. Es geht mir nicht um persönliche Allmachtsfantasien in dem Glauben an absolute Autonomie. Es geht mir um eine politische Strategie, in der es Träume und Handlungsmöglichkeiten gibt. In der gerade Frauen und trans Personen sich als selbstwirksam erfahren können und in denen es den Hunger nach mehr gibt. Nach mehr vom guten Leben. Nicht nur das bisschen, was einer_m angeboten wird.