liebhaber_innen von zines werden vielleicht maranda elizabeth kennen. maranda schreibt seit vielen jahren das zine telegram. es ist ein personal zine, also ein zine, das eher tagebuch-charakter hat. ich hatte die ausgabe #35 in den händen. in #35 erzählt maranda von marandas letztem (dokumentierten) suizidversuch. maranda wird vor dem todeseintritt ins krankenhaus gebracht und überlebt. es ist nicht der erste suizidversuch von maranda und so dreht sich das zine um den wunsch zu sterben, vergleiche zwischen dem ersten und dem aktuellen suizidversuch, die reaktionen und umgänge des sozialen umfeldes mit der suizidalität von maranda, diverse psychiatrie-aufenthalte, gender-basierte gewalt, diagnosen, medikalisierung gegen psychische und körperliche beschwerden, eingeschliffene verhaltensmuster, die schwer bis unmöglich zu durchbrechen sind, immerwährendes scheitern (von unterstützung, von community, von konkreter ab_hilfe) und wie das alles wiederkehrend zum wunsch nach tod führt, zu verzweiflung, abgestumpftheit, zum verlust von freund_innenschaften und beziehungen.
„the worst part of surviving suicide is still wanting to die. the worst part is wishing i didn’t fuck it up. the worst part is feeling obligated to pretend to care about things when i don’t care at all. the worst part is wondering if the friends i’ve got left are fucking sick of it. the worst part is watching myself repeat patterns of shit i’ve been doing for a decade and feeling no motivation to stop or change. the worst part is knowing the changes i want to make but feeling incapable. the worst part is returning to real life and continuing all the habits that led me to a coma. the worst part is wanting to be alone but not being able to take care of myself.“
[der schlimmste teil am überleben von suizid ist, noch immer sterben zu wollen. der schlimmste teil ist der wunsch, nicht gescheitert zu sein damit. der schlimmste teil ist, sich verpflichtet zu fühlen, so zu tun als ob mensch sich um dinge sorgt, wenn mir im grunde alles egal ist. der schlimmste teil ist, sich zu fragen, ob die freund_innen, die ich noch habe, verdammt nochmal die schnauze voll haben. der schlimmste teil ist, mich selbst beim wiederholen von scheiß mustern zu beobachten, die ich seit einem jahrzehnt tue und keine motivation habe, damit aufzuhören oder sie zu verändern. der schlimmste teil ist zu wissen, welche veränderungen ich machen will, aber mich unfähig zu fühlen. der schlimmste teil ist die rückkehr ins richtige leben und mit all den gewohnheiten weiter zu machen, die mich ins koma geführt haben. der schlimmste teil ist der wunsch nach alleinsein, aber nicht in der lage zu sein, auf mich zu achten.]
das obenstehende zitat hat mich beim lesen sehr gerührt. nicht aus mitleid, sondern aus mitgefühl. ich kann sehr viel mit marandas gedanken anfangen: manchmal zu wissen, wo mensch hin will, oder was getan werden muss, damit … und doch nicht herauszukommen aus der situation, sich immer wieder in stimmungen und mustern zu halten, unbewusst und bewusst. wiederkehrende suizidgedanken oder -versuche zu haben (oder fantasien, sich selbst zu verletzen – körperlich und psychisch). in einem anderen teil des zines schreibt maranda darüber, dass maranda keine unterstützung und hilfe in marandas community findet, dennoch immer wieder zurückkehrt und auf’s neue enttäuscht wird. ich habe diesen abschnitt so gelesen, dass es nicht darum geht, anderen die schuld zu geben oder verantwortung für sich selbst an andere abzugeben, sondern eher um sich zu hause fühlen von gedanken, mustern und handlungen. sich nicht isoliert zu fühlen mit dem, wie mensch gerade ist und fühlt.
in meinem umfeld sprechen wir viel über diagnosen, psychotherapie, psychiatrie. die meisten menschen, die ich kenne, sind diagnostiziert, therapiert oder gerade in therapie, wiederum einige haben zeit in der psychiatrie verbracht, andere haben medikamente genommen, nehmen noch medikamente. viele behelfen sich außerdem mit diversen heilverfahren und unterstützungsangeboten, die nicht schulmedizinisch anerkannt oder von der krankenkasse bezahlt werden. und ja das tun auch die, die eigentlich nicht so viel geld für sowas übrig haben. manchmal, weil alles andere nicht geholfen hat oder weil mensch nicht will, dass therapie und/oder psychiatrie oder geschweige denn eine diagnose in der krankenakte auftaucht, die trotz schweigepflicht und datenschutz immer wieder ihren weg in andere akten findet, die selbstgewählte pläne für das eigene leben behindern können.
egal, ob ich mich mit menschen über all das austausche, die psychopathologisierung und den medizinischen komplex darum politisieren und kritisieren oder mit menschen, denen das nicht so wichtig ist: eher selten sprechen wir über scheitern. über nicht-anders-wollen. über aufgeben wollen. über muster, die, wie maranda schreibt, ständig wiederholt werden, obwohl mensch es besser weiß. über suizid und suizidgedanken. und über unsere eigene verrücktheit, die immer wieder zu situationen führt, in denen wir uns alleine und nicht wahrgenommen fühlen – selbst mit unseren engsten menschen.
die omnipräsenz von diagnosen, tabletten und therapien führt in meinem umfeld jedenfalls öfter zu selbstpathologisierungen und erklärungen von „i was born this way“ oder „das BIN ich“. wir sprechen selten darüber, welche diagnosen wir bekommen haben und warum es gerade diese diagnosen sind und keine anderen. ich habe mir schon einige diagnoseschlüssel im dsm oder icd angesehen und dachte beim lesen: mensch, im grunde habe ich von vielen diagnosen etwas (ganz gleich welche 1-3 f-schlüssel in meiner akte auftauchen). trotzdem vertrauen wir den diagnosen, von denen wir wissen, dass wir sie bekommen haben und wenden sie auf unser erleben an. „ich bin borderline, deshalb…“ „ich mit meiner angststörung…“ „ich als bipolare person“.
wir reden selten über erfahrungen, die uns zu diesen diagnosen geführt haben, seltener über: warum reagiere und erlebe ich so, wie ich es tue? was hat sich über zeit verändert? ohne all diese medizinischen begriffe, die doch nicht die komplexität unserer persönlichkeiten und handlungen und empfindungen fassen können. ich bin verwundert darüber, dass der unausgesprochene konsens von „alles ist sozial konstruiert/nichts ist einfach so da“ auf das thema „seelische zustände“ selten angewendet wird, wenn es um das selbst geht. witzig. denn bei anderen dingen wird peinlichst darauf geachtet, dass alles von meiner identität eine frage der entscheidung ist und/oder von außen herbei geführt wurde. oder sich verändern kann über zeit und raum. nur mit diagnosen ist das oft nicht so. die sind halt nur ein wort für das, was mensch ist (und schon immer war).
radikale selbstakzeptanz geht offenbar nur auf kosten meiner selbstbestimmung, nur dann, wenn ich mein gesamtes leben in eine diagnose-schublade stecke. wahrgenommen von anderen werde ich häufig nur dann, wenn ich mich permanent selbst pathologisiere und diagnosen als erklärungen für alles nutze, was mich betrifft und mit gesundheitsnormen und normalitätsvorstellungen der gesellschaft bricht oder brechen könnte. wenn ich mich oute mit diagnosen. und wer nicht out&proud ist damit oder keine hat, ist eben gesund_normal und nicht „neurodivers“ (was für ein wort…). ich gehe davon aus, dass alle menschen, die diskriminierung und gewalt erleben, die pathologien dieser diskriminierung und gewalt in sich aufnehmen, darauf reagieren… diese welt ist verrückt, warum sollten wir es nicht sein?
auf der anderen seite nehme ich wahr, dass es viel darum geht, sich selbst zu verändern. den leidensdruck zu lindern, ein gutes leben führen zu wollen mit einem zustand von sich selbst, der sich im heilungsprozess befindet oder geheilt ist. muster zu durchbrechen, sich umzuprogrammieren oder mindestens andere überlegungen, prozesse und empfindungen in sich hineinzuschreiben. mehr möglichkeiten der reaktion und interaktion zu haben. in diesen erzählungen ist selten platz für die frage: warum eigentlich? für wen eigentlich? warum stoße ich mit bekannten mustern auf so viele barrieren? warum leide ich manchmal an meinem zustand? warum will ich mich nicht verändern (in teilen)? und es ist wenig platz für destruktivität, selbstverletzung und all die schönen dinge, die mit mustern einhergehen, die von außen jedoch als selbstzerstörerisch, falsch, … bewertet werden.
warum haben nicht all meine persönlichkeitsfacetten platz in diesem imaginierten guten leben? warum kann ich das gute leben erst haben, wenn ich muster aufgebe, die bekannt sind, gewohnt sind, manchmal stabilität bieten? warum ist das eine absurde logik? muster, mit denen ich mich schon so viele jahre meines lebens (und oft den überwiegenden teil meines lebens) wohl fühle? die schmerz und linderung zugleich sind? wo ist platz für widersprüche (gegen selbstpathologisierungen und gegen diesen ungebrochenen fortschrittsglauben der immer mit leistung_produktivität_anpassung verbunden ist)?
warum haben meine diagnosen platz im jetzt, jedoch nicht das konkrete oder akute? warum haben leere worthülsen wie trauma, depression, suizid, ptsd, panikattacken ihren angestammten platz in unseren erzählungen (weil kennen wir ja alle irgendwie), jedoch weniger, wie wärmend sich einsamkeit und verzweiflung anfühlen können, wie gut es tun kann, zu leiden, weil es emotion ist, weil es was auslöst in meinem körper, andere gefühle als angst und ausschalten wollen, überhaupt ein gefühl haben, spüren, mich spüren, mich spüren beim gedanken, mir ein messer in den handrücken zu rammen, blut zu sehen, auszurasten vor wut und sachen kaputt zu machen, zu klauen, ein öffentliches ärgernis sein, zuzuschlagen beim nächsten versuch des übergriffes, tagelang nicht die wohnung oder das bett zu verlassen, zu scheitern an den anforderungen des über_lebens oder (je nach erleben und perspektive) des chronischen sterbens (z.B. wegen lohnarbeit, beziehungsarbeit), einfach zu springen, soviel tabletten zu nehmen, dass ich nicht mehr aufwache, in gedanken abschiedsbriefe zu schreiben, heute einfach nicht an morgen und die konsequenzen meiner handlungen für mich und mein leben zu denken, an die konsequenzen meiner handlungen zu denken und traurig darüber zu sein, dass es nicht anders sein kann, tiefe trauer zu empfinden, sie zuzulassen, sich von ihr einnehmen zu lassen, einfach sein ohne das mantra der produktivität, der konstruktiven reaktion, des „du musst an diesen und jenen punkt kommen, damit…“. ohne unterbrechung, ohne stopps.
wer sind wir und was tun wir, wenn wir nicht darüber nachdenken, wer wir sein könnten, wie wir zu sein haben, was wir tun sollen… was der EIGENTLICH richtige weg wäre? wenn all das zu unserem er_über_leben gehört, wenn wir all das mit anderen teilen können, ohne gedanken zuzulassen, dass das gerade vielleicht nicht hilfreich sein könnte (für wen und warum?), dass es angeblich ein marker für „being stuck“, stillstand oder „opfer sein“ ist (für wen und warum)?
wenn wir keine erklärungen und rechtfertigungen in diagnosen finden müssten? wenn wir nicht ständig auf der suche nach neuen/anderen strategien des umgangs mit der welt wären, die uns dazu zwingt, uns auf bestimmte anerkannte art und weise zu verhalten? wenn community auch heißt, veränderungen anders zu denken, als aufzuhören mit mustern, die in der medizin wie in polit-kontexten als passive, nicht selbstbestimmte, nicht freie, selbstzerstörerische handlung gewertet werden? die angeblich macht über uns haben, aber wir angeblich keine macht über sie. wenn muster als etwas begriffen wird, das es partiell zu überwinden gilt, aber nicht als etwas, das zu uns gehört und dass es wert ist zu leben, solange wir anderen damit nicht gewalt antun. wenn wir ehrlich und offen sein können damit, dass die muster auch nach jahren des durchschauens, erklärens, verändern wollens noch immer zu uns gehören und einfluss auf unser er_leben und unsere interaktion mit anderen nehmen? einfach, weil wir sie nicht (vollständig) loslassen können_wollen?
was ist, wenn wir all die gründe auflisten, die uns davon abhalten, vermeintlich destruktive dinge zu tun? was ist, wenn wir all die gründe auflisten, die uns in die vermeintliche destruktivität treiben und feststellen, dass es überschneidungen gibt?
was würde das machen mit uns, unseren beziehungen zu anderen?
Die spannende Frage ist für mich, was das mit unseren Beziehungen zu anderen machen würde. Ich glaube, viel von dieser Anpassung und Selbstpathologisierung passiert, damit wir* für andere „verdaulich“ werden. Und diese Verdaulichkeit führt wiederum zu flüssigeren Beziehungen und damit zu einer höheren Lebensqualität – jedenfalls erstmal, bis die Selbsteinschränkung zu sehr nervt.
Ich frage mich oft, wie Communities beschaffen sein müssen, dass das nicht nötig ist. Ich glaube, es geht da sehr viel um Stehenlassen-Können, und um Aushalten-Können von Nichtverstehen und Nicht-Helfen-Können. Es wäre z.B. so schön, einfach mal jammern zu können, ohne signalisieren zu müssen, dass 1 eine Veränderungsperspektive hat, oder nicht darüber nachdenken zu müssen, ob die Erzählung eines krassen Erlebnisses die Stimmung zerstört.
Danke für diese Betrachtung, es fühlt sich für mich irgendwie wärmend/ermutigend an, daß auch Scheitern, Leiden, Nicht-ändern-wollen einen Raum, eine Daseinsberechtigung haben kann. Bisher habe ich mich dessen zugegebenermaßen meist beschämt und mich selbst dafür verachtet im Glauben, nicht verstanden werden zu können, gerade im Hinblick des vorherrschenden Leistungsdenkens.
Über die angesprochenen tief eingebrannte Muster stolperte ich auch oft und stelle mir die Frage, inwieweit ich diese ändern soll/muß und ob ich dazu überhaupt in der Lage bin/jemals sein werde. Vielleicht könnte es weniger um eine komplette Überwindung von Teilen, die die eigene Persönlichkeit fundamental ausmachen, gehen, sondern eher um Strategien gegen selbst ungewollte zu starke Exzesse dieser Muster? Womöglich waren die solche Muster Problembewältigungsstrategien, die zu früheren Zeiten geholfen haben, aber innerhalb der sich verändernden eigenen Lebensumstände zunehmend disfunktional geworden sind? Daher versuche ich bisher so vorzugehen: Ich gucke, ob ich in einem „problematischen“ Muster gar keine positiven/nur negative Auswirkungen auf mein Befinden und die Dinge, die ich selbst aus innerer Überzeugung erreichen möchte, erkenne. Ist dies der Fall, so erscheint es mir sinnvoll, dieses Muster zu hinterfragen und Gegengedanken zu entwickeln (und natürlich auch ein Scheitern daran zu akzeptieren). Das ist für mich auch ein positives Ziel für Selbstakzeptanz: Gnädig sein mir selbst, wenn die Dinge nicht so laufen, wie geplant/angedacht. Ganz schwierig manchmal.
Diagnosen versuche ich als den Versuch eines Modells der Realität zu sehen, um ansatzweise Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen erlebten Leiden und Problemen erfassbar zu machen. Da aber die Realität des individuellen Erlebens wohl viel komplexer als jedes erdenkliche Modell ist, erscheinen ich Diagnosen nur als grobe, kompakte Beschreibungsmöglichkeit, die möglicherweise zu bestimmten Eigenschaften meines Erlebens passt oder auch nicht, aber nicht in Stein meißelt, was ich bin und wie ich werden kann. Auch wenn es nicht einfach ist und ich manchmal dabei scheitere, mir dies ins Gedächtnis zu rufen.
Vielen Dank jedenfalls!
Liebe Grüße,
Jan