Kürzlich entschied das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, dass ein pauschales Kopftuchverbot bei Lehrkräften nicht mit der Religionsfreiheit vereinbar ist. Geklagt hatten zwei Pädagoginnen aus Nordrhein-Westfalen, die sich geweigert hatten, im Schuldienst ein aus religiösen Gründen getragenes Kopftuch bzw. eine als Ersatz dafür getragene Wollmütze abzulegen. Damit verstießen sie gegen § 57 Abs. 4 Satz 1 und 2 SchulG NW, wurden abgemahnt und eine von ihnen wurde sogar gekündigt. Ihre Klagen vor den Arbeitsgerichten waren erfolglos. Einige Bundesländer hatten seit der im Jahr 2003 ergangenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in der u.a. eine gesetzliche Grundlage für Kopftuchverbote gefordert wurde, in Schulgesetzen oder weitergehenden sogenannten Neutralitätsgesetzen Verbote für Lehrkräfte und andere öffentliche Amtsträger verankert, religiös konnotierte Kleidungsstücke oder Symbole zu tragen. Im zweiteiligen Interview erklärt die Juristin und Politikwissenschaftlerin Dr. Sabine Berghahn, die sich seit Jahren wissenschaftlich mit dem Thema befasst (hier einer ihrer Texte zum Thema), die Hintergründe der Entscheidung und ihre Bedeutung für die Zukunft.
Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass ein pauschales Kopftuchverbot für Lehrerinnen in öffentlichen Schulen nicht vereinbar ist mit dem Grundgesetz. Wie schätzen Sie die Bedeutung dieser Entscheidung ein?
S.B.: Diese Entscheidung ist wichtig und bedeutsam, sie stellt die Rechtslage endlich wieder vom Kopf auf die Füße! Aus liberal-rechtsstaatlicher Sicht war es schon lange klar, woran die Kopftuchverbotsgesetze in acht Bundesländern und die ausführende Praxis kranken, dass nämlich ein pauschales Kopftuchverbot nicht vereinbar sein kann mit individuellen Grundrechten.
Um welche Grundrechte geht es?
Es geht um Glaubens- und Bekenntnisfreiheit (Art. 4 GG), aber auch um die freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 GG) und den Zugang zu qualifizierten Berufen für muslimische Frauen und Mädchen (Art. 12 GG). Das Grundgesetz garantiert zunächst einmal mit jedem Grundrecht einen Freiheitsraum, so dass Einschränkungen einer Rechtfertigung bedürfen. Verbote müssen „verhältnismäßig“ sein und sollten sich aus den Grundrechten anderer Menschen oder dem Schutz überragender Gemeinschaftsgüter begründen lassen, das gilt insbesondere, wenn es im Wortlaut des Grundrechts keinen „Gesetzesvorbehalt“ gibt („Das Nähere regeln die Gesetze usw.“) wie bei der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit des Art. 4 GG.
Woran wird festgemacht, was entgegenstehen könnte?
S.B.: Eine Einschränkung, d.h. ein Eingriff in die jeweilige Freiheit, z.B. des Bekenntnisses, muss auch im konkreten Einzelfall verhältnismäßig sein. Insofern kommt es beim Kopftuch immer darauf an, ob die einzelne Lehrerin oder Sozialarbeiterin mit ihrer Kopfbedeckung – in dem einen Fall aus NRW war das eine rosa Wollmütze, die die Sozialarbeiterin als Ersatz für das klassische islamische Kopftuch aufgesetzt hatte – eine problematische und vorwerfbare Wirkung hervorruft, also durch ihr Verhalten eine Gefahr oder Beeinträchtigung für die staatliche Neutralität, den Schulfrieden oder die Glaubensfreiheit anderer Menschen (Schüler/innen) darstellt. Eine abstrakte Gefahr reicht hier nicht aus. Wie sollte sie auch festgestellt werden? Das Kopftuch an sich ist nur ein Stück Stoff, es kann von seinen Trägerinnen in vielfältiger Weise gemeint sein, meist wird es tatsächlich als Befolgung einer religiösen Bedeckungspflicht verstanden. Es wird von der Umwelt in Deutschland aber zum Teil ganz anders interpretiert, wobei anti-islamische oder generell rassistische Ressentiments häufig eine Rolle spielen. Eine objektive Aussage oder Bedeutung des Kopftuchs gibt es dagegen nicht, schon gar keine, die verboten werden müsste und die man der Trägerin auch gegen ihren Willen zuschreiben könnte.
Sie haben in der Vergangenheit argumentiert, das Kopftuchverbot sei (unter anderem) eine Diskriminierung von Frauen. Hat das Bundesverfassungsgericht dazu etwas gesagt?
S.B.: Die neue Entscheidung sieht im Kopftuchverbot eine der Gleichberechtigung abträgliche Wirkung, dass muslimische Frauen von der qualifizierten Tätigkeit als Pädagoginnen ferngehalten werden, wenn sie darauf bestehen, ein Kopftuch auch im schulischen Alltag zu tragen und man sie deshalb nicht einstellt, sie abmahnt oder sie gar entlässt. Dasselbe gilt natürlich auch für andere qualifizierte Berufe im öffentlichen Dienst, die teilweise in manchen Bundesländern wie etwa Berlin oder Hessen mit Kopftuchverboten belegt sind, wie z.B. höhere Beamtinnen, Richterinnen, Justizangestellte, Polizistinnen oder Erzieherinnen in Kitas. Die Senatsmehrheit sieht hier die Verbotsgesetze „in einem rechtfertigungsbedürftigen Spannungsverhältnis zum Gebot der tatsächlichen Gleichberechtigung von Frauen (Art. 3 Abs. 2 GG)“. Manche Feministinnen zäumen das Pferd von der anderen Seite auf und schreiben dem Kopftuch eine angeblich gleichberechtigungswidrige Symbolik zu, dass nämlich die Trägerinnen der Haarverhüllung Frauen die Unterordnung von Frauen und Mädchen unter Männer und Jungen für richtig halten und auf diese Weise propagieren. Das trifft jedoch in dieser Pauschalität empirisch nicht zu, schon gar nicht für die Lehrerinnen, Referendarinnen, Studentinnen oder sonstigen Berufstätigen, die freiwillig das Kleidungsstück tragen und mit häufig sehr selbstbewussten und egalitären Einstellungen ihr Outfit begründen.
Die aktuelle Entscheidung wurde vom ersten Senat gefällt, das „erste“ Kopftuchurteil, das ein Verbot ja für möglich erklärt hat, stammt vom zweiten Senat. Besteht hier nicht ein Anlass für eine Entscheidung im großen Senat, bei Uneinigkeit der Senate?
S.B.: Offenbar bestand im Bundesverfassungsgericht selbst kein wirkliches Bedürfnis nach der Anrufung des Großen Senats. Vor 12 Jahren war der Zweite Senat zuständig, weil es beim Fall Fereshta Ludin um die Einstellung als Beamtin ging, diesmal ging es um angestellte Lehrkräfte. Einen wirklichen Unterschied macht das allerdings nicht, denn auch Angestellte werden von den Verboten der Schul- und anderen Gesetze in manchen Bundesländern getroffen. Damals hat die liberal eingestellte Gruppe der Richter im Zweiten Senat einen Kompromiss mit einem Richter der anderen, konservativen Fraktion finden müssen, anderenfalls wäre die Verfassungsbeschwerde von Fereshta Ludin komplett abgeschmettert worden (bei Stimmenpatt ist die Beschwerde abgelehnt). So kam ein eher „fauler Kompromiss“ heraus, der die Entscheidung in die Bundesländer verschob. Dass schon die „abstrakte Gefahr“ ein Verbot begründen kann, ohne dass es auf das konkrete Verhalten der einzelnen Person und die konkreten Wirkungen des Kopftuchtragens ankommt, war sozusagen die Kröte, die zugunsten der Mehrheitsbildung im damaligen Zweiten Senat geschluckt werden musste. Gleichzeitig war es ein Experiment, wie die Bundesländer Gesetze machen würden und wie die Justiz mit Einzelfällen solcher Art umgehen würde.
Wie verlief das Experiment?
S.B.: Die jetzt entschiedenen zwei Fälle haben mit großer Deutlichkeit die praktischen Konsequenzen eines pauschalen Kopftuchverbots aufgezeigt, und es gab leider noch viele weitere Fälle, die aber nicht in Karlsruhe landeten, in denen berufliche Werdegänge abgebrochen oder jedenfalls sehr erschwert wurden. Die Kopftuchverbote bringen eine Dimension der Diskriminierung wegen der Religion, der Ethnie und des Geschlechts zum Ausdruck. Der Erste Senat hat hier quasi die Notbremse bezogen, die die Arbeitsgerichtsbarkeit versäumt hat zu ziehen. Bekanntlich gibt es europäische Richtlinien gegen Diskriminierung, die besonders im Erwerbsleben und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen gelten und mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) eigentlich seit 2006 in Deutschland umgesetzt sein sollten. Obwohl der öffentliche Dienst mit seiner Bindung an Grundrechte als Vorbild für Pluralismus und Toleranz vorangehen sollte, war es im Fall des Kopftuchs ja sogar umgekehrt, d.h. die Kopftuchverbote für Lehrerinnen und manche anderen öffentlichen Bediensteten wurden zum Teil von Firmen der Privatwirtschaft übernommen. Hier haben einzelne Arbeitsgerichte bisweilen korrigierend eingegriffen, z.B. im Fall einer Bewerberin auf eine Ausbildungsstelle als Arzthelferin, aber dennoch schien der Öffentlichkeit das Kopftuchverbot in Teilen des öffentlichen Dienstes als gerechtfertigt, als Regel und als Gebot der Staatsräson. Damit hat es jetzt hoffentlich ein Ende. Das hätte aber auch schon spätestens das Bundesarbeitsgericht feststellen müssen oder es hätte eigentlich die Frage nach der europäischen Richtlinienkonformität der Kopftuchverbotsgesetze dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg vorlegen müssen. Dann hätte man Wetten darauf abschließen können, dass dieser so entscheidet wie jetzt der Erste Senat.
Wieso wäre das so klar gewesen?
S.B.: Weil all diese Lehrkräfte sich nichts haben zuschulden kommen lassen. Es hatte in ihrer Schulpraxis keine Beschwerden oder Probleme gegeben. Die Sanktionen der Abmahnung und sogar der Kündigung trafen die Frauen, ohne dass sie Veranlassung zu Beschwerden oder Vorwürfen gegeben hatten, sie haben nichts getan außer das Kopftuch zu tragen. Und dies war die durchaus beabsichtigte Folge der Gesetzgebung auf der jeweiligen Landesebene. Gerade das Beispiel NRW macht deutlich, worum es ging, nämlich um eine ideologisch-politische Profilierung: 2003 eröffnete der Zweite Senat des BVerfG den Bundesländern völlig überraschend die Möglichkeit, auch die „abstrakte Gefahr“, die religiöser Kleidung bei Lehrkräften angeblich innewohnt, durch Verbotsgesetze zu bannen. Zwar sollten dabei alle Religionen gleich behandelt werden, aber die CDU in NRW sah eine Profilierungschance und setzte nach ihrem Wahlsieg 2005 – in der Koalition mit der FDP – eine anti-islamische populistische Wende durch: Während unter Rot-Grün circa 20 Lehrerinnen unbeanstandet unterrichtet hatten, setzte die damals neue Mehrheit im Landtag eine Verbotsnorm (§ 57 Abs. 4 SchulG) durch, die fast wortwörtlich in Baden-Württemberg abgeschrieben worden war. Und ab dem Inkrafttreten ging es den Lehrerinnen mit Kopftuch auch in NRW an den Kragen. Später kam es erneut zum Machtwechsel in NRW, wie übrigens auch in Baden-Württemberg und in Niedersachsen, wo rot-grüne Regierungen und eine grün-rote Landtagsmehrheit zustandekamen. Trotzdem blieb es bei den rigiden Kopftuchverboten, die CDU und FDP eingetütet hatten, und die repressive Praxis wurde weitergeführt. Hier haben sich also weder die Gerichte noch die Schulverwaltungen noch die Landtage im Sinne des individuellen Rechtsschutzes gegen offenkundig illiberale und grundrechtsfeindliche Verbotsnormen verdient gemacht. Alle haben abgewartet, dass das Bundesverfassungsgericht erneut entscheidet. Der Erste Senat hat sich dabei lange Zeit gelassen. Wenn auch die verfassungsrechtlichen Implikationen der Senatsmehrheit wohl klar vor Augen lagen und auch die nötige Mehrheit vorhanden war, so dass hier zurechtgerückt werden konnte, was offenkundig an der Entscheidung des Zweiten Senats von 2003 „schief und krumm“ war, so fürchtete vermutlich auch der Erste Senat die politischen Reaktionen in manchen Bereichen der Öffentlichkeit und der politischen Institutionen.
Morgen veröffentlichen wir den zweiten Teil des Interviews, der sich unter anderem mit der Frage beschäftigt, was die Entscheidung in Karlsruhe nun für die Praxis bedeutet.
Literatur: Sabine Berghahn und Petra Rostock (Hg.): Der Stoff, aus dem Konflikte sind. Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Transcript Verlag, Bielefeld 2009. Sowie europäisch vergleichend das VEIL-Projekt: Sieglinde Rosenberger and Birgit Sauer (ed): Politics, Religion and Gender. Framing and regulating the veil. Routledge, London and New York 2012.
Einen aktuellen Beitrag dazu gibt es auch von Michael Wrase auf http://www.juwiss.de/15-2015/