Warum erst an kleinen Babies im Intimbereich herumdoktoren, wenn man bereits während der Schwangerschaft eingreifen kann? So lässt sich die Intention zweier Forscher_innen beschreiben, die seit längerem Schwangeren Medikamente verabreichen, um deren Auswirkungen an Neugeborenen zu testen. Betroffen sind Embyros, bei denen das Adrenogenitale Syndrom (CAH) vermutet wird. Bei dieser genetisch bedingten Krankheit ist die Hormonbildung, vor allem von Kortisol, gestört. Darüberhinaus kann es bei Jungen zur frühzeitigen Pubertätsentwicklung kommen, während Mädchen „vermännlichte” äußere Geschlechtsorgane besitzen, also eine vergrößerte Klitoris. Frühzeitige Hormonersatztherapie ermöglicht den Betroffenen heutzutage allerdings ein beschwerdefreies Leben, auch wenn die Hormone lebenslang genommen werden müssen.
Um den Mädchen mit vergrößerter Klitoris nun die möglichen psychischen Probleme zu ersparen, sowie die Folgen späterer „Klitorisreduktionen”, wird werdenden Müttern schon während der Schwangerschaft das Medikament Dexamethasone verabreicht. Ein Steroid, das eigentlich bei Entzündungs- und Autoimmunkrankheiten eingesetzt wird. Es verhindert einige der Symptome von CAH, vor allem die Vermännlichung weiblicher Embryos. Die weiteren, teilweise lebensgefährlichen Hormonprobleme werden allerdings nicht beeinflußt und die lebenslangen Hormongaben nach der Geburt bleiben weiter nötig. Die einzige Studie, die sich bisher mit den möglichen Nebenwirkungen beschäftigt hat, fand dafür noch Anzeichen leichter geistiger Behinderungen. Mit nur 26 Teilnehmerinnen sind die Ergebnisse jedoch nur begrenzt aussagekräftig.
Trotzdem bekommen Schwangere das Mittel, wenn die Möglichkeit besteht, dass das Ungeborene an CAH leiden könnte. Dabei ist der frühzeitige Einsatz wichtig. Genetische Untersuchungen sind allerdings erst später möglich, so dass im Zweifel völlig gesunde Embryos unnötigen Steroidgaben ausgetzt werden, ebenso Jungen, bei denen diese pränatale Behandlung nicht sinnvoll ist.
Alice Dreger und Ellen K. Feder, die bereits die operativen Klitorisverkleinerungen an jungen Mädchen kritisierten, weisen abermals daraufhin, dass die meisten weiteren Studien und Untersuchungen nie von Institutional Review Boards (IRB) auf ihre ethischen Implikationen untersucht und die Eltern über mögliche Nebenwirkungen nicht aufgeklärt werden. Überhaupt: Dass Kinder mit uneindeutigen Geschlechtsorganen psychische Probleme bekommen, ist nicht bewiesen. Stattdessen geht es eher um elterliche Ängste und ärztliche Normvorstellungen. Welche das genau sind verraten die Forscher_innen Maria New und Heino Meyer-Bahlburg in ihren Veröffentlichungstiteln.
- Sexual Orientation in Women with Classical or Non-Classical Congenital Adrenal Hyperplasia as a Function of Degree of Prenatal Androgen Excess – Sexuelle Orientierung von Frauen mit klassischem oder nicht-klassischem Adrenogenitalen Syndrom als eine Funktion des Grades von prenatalem Androgenüberschuss
- What Causes Low Rates of Child-Bearing in Congenital Adrenal Hyperplasia? – Was verursacht die geringe Fortpflanzung bei Adrenogenitalen Syndrom?
Durch ihre „Forschung” erhoffen sie die beiden dabei Erkenntnisse über den Einfluss pränataler Androgenlevel auf die sexuelle Orientierung, denn Homo- und Bisexualität seien unter CAH-Frauen überdurchschnittlich häufig. Außerdem stellten sie fest, dass die Betroffenen unterdurchschnittlich Interesse an Fortpflanzung und dem Einfügen in die „traditionelle Rolle als Hausfrau und Mutter” hatten. In einem weiteren Paper (leider nicht online verfügbar) führt New mit einem anderen Kollegen diese Überlegungen dann weiter aus:
Gender-related behaviors, namely childhood play, peer association, career and leisure time preferences in adolescence and adulthood, maternalism, aggression, and sexual orientation become masculinized in 46,XX girls and women with 21OHD deficiency [CAH]. These abnormalities have been attributed to the effects of excessive prenatal androgen levels on the sexual differentiation of the brain and later on behavior.
Geschlechts-spezifisches Verhalten, also Kindheisspiele, Freundeskreis, Karriere und Freizeitaktivitäten während der Pubertät und im Erwachsenenalter, Mütterlichkeit, Aggression und sexuelle Orientierung werden vermännlicht in 46,XX Mädchen und Frauen mit 21OHD Defizit [Adrenogenitalen Syndrom]. Diese Störungen sind auf die Einflüsse übermäßiger prenataler Androgenlevel zurückzuführen, die sich auf die sexuelle Entwicklung des Gehirns und später des Verhaltens auswirken.
Frauen mit Interesse an „männlichen Dingen” sind also abnormal und gestört. Und diese Logik geht noch weiter: Angst vor vermeintlichen Hänseleien ist wichtiger, als sich für ein gesellschaftliches Klima einzusetzen, dass Respekt fördert und in dem unterschiedliche Körper akzeptiert werden. Ärzt_innen und Wissenschaftler_innen legen ihrer Forschung ein einziges, begrenztes Modell von geschlechter-spezifischem Verhalten zugrunde und grenzen daraufhin vermeintliche Abnormalitäten ab. Völlig egal, dass etwa das Bild der Hausfrau und Mutter bereits in jeder gesellschaftlichen Schicht ein anderes ist. Dieser willkürliche Rahmen wird nun im Gegenzug benutzt, um Therapien zu rechtfertigen und immer weiter zu entwickeln. Da wirkt das Geschnippel im Intimbereich schon von gestern, heute kann man die Kollateralschäden von zerstörtem Nervengewebe und Orgasmusfähigkeit verhindern – auch wenn man dabei an Wesen herumexperimentiert, die das Wort „Einverständniserklärung” nicht mal hören können. Irgendwann werden wir dann Abweichler_innen aller Art schon vor der Geburt korrigieren können. Gruselig.
> Frauen mit Interesse an „männlichen Dingen” sind also abnormal und gestört.
Da muss man sich nicht wundern, wenn Mädels weiterhin Fächer und Berufe wählen, die als „weiblich“ gelten (und entsprechend bezahlt werden)
Helga, danke für diesen schrägen Einblick – dear goodness…