Der Feind auf dem Teller

Corinna Huber ist 14 Jahre alt und magersüchtig. Als sie den Kampf gegen die Krankheit beginnt, fängt sie auch an, diesen Kampf aufzuschreiben. Die Reportage, die so entstand, gewann gerade den ersten Preis beim Spiegel-Schülerzeitungswettbewerb. Corinna beschreibt, was ihr durch den Kopf geht, wenn ein Teller mit Essen vor ihr steht und sie ihn einfach nicht leer essen, ja noch nicht einmal ein kleines bisschen vom Essen probieren kann. Sie schreibt diese Gedanken und die Zwänge ihrer Krankheit – wie 500 Situps an jedem Nachmittag und tägliches Fahrradfahren – berührend ehrlich auf und erkennt auch ihr Problem:

„Irgendwann ist jede Diät vorbei und dann habe ich es geschafft. Bin schlank, beliebt und erfolgreich!“, rede ich mir täglich ein. Doch unterbewusst weiß ich ganz genau, dass dies keine „Mal-schnell-zwei-Kilo-weg-Diät“ ist. Es ist ein Zwang, eine Sucht, Leere und Hunger zu spüren, ein Schrei nach Hilfe und Aufmerksamkeit. Ein Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Schwarz und Weiß, zwischen Engel und Teufel – ein Kampf gegen mich. Eine gnadenlose Krankheit: Magersucht.

28 Kommentare zu „Der Feind auf dem Teller

  1. phrasen wie „ein schrei nach .. aufmerksamkeit“ lesen sich ja (egal wie wahr sie sind) schon in „normalen“ artikeln unangenehm (man denkt „aha, jetzt kommt die küchenpsychologie“ und überspringt ein paar absätze). Aber wenn es in der ersten Person geschrieben wird, wirkt es noch künstlicher — ich meine, welches Kind schreibt über sich selbst so?
    „Habe erfolgreich die Magersucht bekämpft. Bin jetzt auf Selbsterniedrigung durch Trashpsychologie umgestiegen, schadet dem Körper weniger.“

  2. Ich habe die Reportage schon gelesen und ich fand sie sehr berührend. Zumal eine ehemalige Freundin von mir magersüchtig ist. Bei ihr hat sich das auf den Wuchs ausgewirkt. Sie ist sehr klein, ein regelrechter Floh.
    Und die Probleme mit dem Geschwätz der Leute auf ihr Essverhalten kenne ich von ihr auch.
    Allerdings war es bei ihr kein Diätwahn, sondern eine Reaktion auf starke familiäre Probleme.

    Hier noch ein Video zur verzerrten Selbstwahrnehmung Magersüchtiger: http://www.youtube.com/watch?v=zSVx4UtwIe4

  3. @ hn: Bei einer Reportage, von Profis geschrieben, würde ich das vielleicht auch bemängeln. Aber bei einer Betroffenen sollte man da viel nachsichtiger sein. Weil ich mir vorstellen kann, dass es mehr als schwer ist, überhaupt Worte zu finden, wenn man sich die Krankheit eingesteht. Und wenn es dann erst mal die tausendfach gehörten Worte „Schrei nach Aufmerksamkeit“ sind, warum nicht. Besser als Schweigen. Oder?

  4. @ hn: Darum geht es leider bei der Mehrheit der psychischen Störungen: um fehlende Aufmerksamkeit. Neben dem Mangel an Selbstsicherheit natürlich. Und bei Magersucht noch dem Zwang zur Kontrolle über den eigenen Körper – Kontrolle, die in anderen Lebensbereichen vielleicht fehlt oder nicht gelingt. Außerdem solltest du bei der Kritik an ihrer Schreibweise beachten, dass die Autorin erst 14 Jahre alt ist und sich vielleicht gerade durch die permanente (in diesem Fall negative) Auseinandersetzung mit ihrem Körper ein hohes Maß an Selbstreflexion angeeignet hat, die es ihr ja gerade erlaubt, so über sich selbst zu schreiben – viel tiefgreifender als der Mehrheit in diesem Alter.

  5. Ein Kind was sehr viel nachdenkt und reflektiert? Normale Kinder denken und verstehen schon meist mehr, als der Durchschnittserwachsene ihnen zutraut. Und Magersüchtige sind meist sehr intelligente, nachdenkliche Menschen. Die Autorin des Textes übrigens auch, wer den Text gelesen hat, wird das auch erkannt haben.

    Ich wünsche ihr auf jeden Fall alles Gute und dass sie es schafft, ihren Weg weiter zu gehen.

  6. Naja, in dem Artikel steht „vermutlich mitverantwortlich“ und ich denke, das kann man so stehen lassen. Natürlich gibt es bei Essstörungen nie nur eine Ursache, sondern komplexere Zusammenhänge, aber in der Studie vom IZI ging es ja in erster Linie um die Analyse von Zeichentrickfiguren und nicht um nicht das Finden von Auslösern für Essstörungen. Dafür wären andere Einrichtungen zuständig.

    Sehr erschreckend sind übrigens die Kommentare unter dem Artikel!

  7. Die Frage für mich liegt zwischen Ursache, wie Familienprobleme, und wieso das kompensiert wird durch z.B. abnehmen. Ich denke bestimmte Idealbilder wie Zeichentrickfiguren gehören dazu. Deswegen dachte ich das gehört eigentlich mit zum Thema.

  8. Natürlich gehört das zum Thema. Hatte mit meinen Ausführen nur auf die von dir angesprochene Einseitigkeit reagiert – die lag an der Art der Studie.

    Das könnte selbstverständlich auch durch andere Reaktionen kompensiert werden, z.B. Alkoholismus, selbstverletzendes Verhalten, Fresssucht, Depressionen bis hin zu siuzidalen Tendenzen… Die Spannweite ist breit. Wer was wählt, hängt mit bestimmten individuellen Voraussetzungen der Betroffenen zusammen und mit dem, was sie zu kompensieren versuchen. Da Essstörungen eine relativ neue Erscheinung sind und sich auf unsere Kulturkreise beschränken, können wir davon ausgehen, dass es da durchaus einen Zusammenhang zu westlichen Schönheitsidealen gibt.

  9. „Kompensieren“ ist vielleicht kein so glücklicher Begriff. Jeder, der von seinem Umfeld nicht das kriegt was er braucht fragt sich doch „stimmt mit mir etwas nicht?“

    Und da wird dann das was als „normal“ aus allen Kanälen herüberkommt fatal. Weil aufgrund des Umfeldes die Bestätigung fehlt, daß das was aus den Medien so auf einen herabrieselt nicht für Voll zu nehmen ist, kann das nicht mehr hinterfragt werden.

    Vielleicht? Ich Hobbypsychologe..

  10. (Ich damit nicht sagen: „Die bösen Medien sind an allem Schuld“, aber manchmal wirken sie fatal, denke ich. Vielleicht gäbe es ohne medial transportiertes Schönheitsideal einfach mehr Alkoholikerinnen und weniger Magersüchtige – Wäre auch nicht besser)

  11. Naja, es ist schon ein gewisser Ausgleich, der dort stattfindet. Über meinen Körper habe ich Macht, ihn kann ich beherrschen, darauf kann ich stolz sein – bei anderen Dingen in meinem Leben klappt das vielleicht nicht. Die Medien bieten in dem Moment einfach nur das passende Bild. Sie sind Mittel zum Zweck – ohne ihre Mitverantwortung mildern zu wollen. Die zur Perfektion stilisierten Körper sind, denke ich, eher der Auslöser als die Ursache. Sicher beeinflussen sie alle unser Bild von Schönheit, aber nur bei Menschen mit bestimmten psychischen Dispositionen kommt es zu Erkrankungen wie Magersucht.

    Ich letztes-Semester-ein-Seminar-zu-psychischen-Störungen-besucht-Haberin… :-)

  12. Dass ein Ausgleich im Umfeld stattfinden sollte, ist definitiv erforderlich. Nur leider dienen unsere Schulen derzeit eher dem sinnlosen Hineintrichtern von Wissen als der Erziehung. (Und paradoxerweise klappt nicht mal das…)

  13. Thx, Steffie, interessant!

    Ach ja, die Schulen.. Ist politisch dann immer die Frage, ob der Staat nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch erziehen soll.

  14. Ganz offiziell haben Schulen auch eine Erziehungsaufgabe. Deswegen müssen die Lehramtstudierenden (mit denen ich leider oft in Seminaren zusammensitze), Veranstaltungen in Pädagogik und Psychologie besuchen. Dass die Schulen dieser eben nicht gerecht werden, aus welchen Gründen auch immer, ist leider die andere Seite.

  15. Naja, den derzeitigen Erziehungsauftrag der Schulen müsste man schon sehr weit auslegen, um Schülern mit familiären Problemen wirklich zu helfen. Da ist nach meiner Kenntnis das Jugendamt zuständig.

    Soweit ich weiß sind gerade Magersüchtige oft „Musterschülerinnen“ – Da wird eher nichts unternommen, bis sich die Symptome nicht mehr verheimlichen lassen.

  16. ..erschwerend kommt hinzu, daß Magersüchtige oft aus Familien kommen, die sehr viel Wert darauf legen möglichst als „heile Familie“ zu erscheinen (mein frisch angelesenes Wikipediawissen, mag falsch sein)

  17. Die „nach außen heile Familie“ gehört definitiv dazu – wie bei so vielen psychischen Erkrankungen.

    In solch eine Familie wird aber nie das Jugendamt eingreifen. Die sind mit den „richtigen Sozialfällen“ schon überlastet genug. Außerdem: wie sollen sie von diesen Kindern erfahren, wenn nach außen (erstmal) keine Auffälligkeiten bestehen? Es gibt ja keine Regelungen, die besagen, Eltern müssen meinetwegen alle drei Monate ihre Kinder beim Jugendamt oder einem Kinderarzt vorführen. Daher wäre es umso wichtiger, dass die Schule bei solchen Entwicklungen entgegenwirken würde (so wie auch in dem verlinkten Artikel). Dass du der Schule ihren Erziehungsauftrag absprichst – ohne das als Vorwurf an dich zu formulieren – zeigt leider, wie wenig die meisten von uns die Schule auf Grund ihrer gegenteiligen Erfahrungen als eine Erziehungsinstitution sehen. Denn gerade der Ausgleich von sozialen Defiziten jeglicher Art sollte – neben der Vermittlung von Wissen – Aufgabe der Schule sein.

  18. Daß der Status Quo nicht zufriedenstellend ist, darüber sind wir uns ja einig. Ich sage ja nur: Sozialpädagogische Aufgaben haben in den Schulgesetzen – die ja die Erziehungsziele definieren – nicht gerade Priorität. Dementsprechend werden dann die Ressourcen verwendet bzw. zur Verfügung gestellt. Ein Ausgleich, der den Namen verdient kann nach meiner Auffassung im normalen Unterrichtsgeschehen kaum stattfinden.

    Es ist in dem vorliegenden Fall erschreckend, daß erst eine engagierte Referendarin (die ihr Engagement wohl kaum in ihrem ganzen Berufsleben beibehalten wird) bemerkt, daß mit dem Kind etwas nicht in Ordnung ist. Man muß nicht das Schulgesetz ändern, um wenigstens das zu Gewährleisten. Ein Lehrer oder eine Lehrerin, die die Mutter (oder den Vater) beiseite genommen hätte und gesagt hätte „mit den Leistungen ihrer Tochter sind wir ja sehr zufrieden, aber wir machen uns sehr große Sorgen“, verbunden mit einem Hinweis auf entsprechende Hilfsangebote (die der Staat durchaus anbietet) hätte vielleicht geholfen, bevor das Kind zu solchen Mitteln greift.

    Und da gebe ich dir recht: Wozu besuchen denn Lehramtsstudenten Psychologieseminare? Bei einem überangepassten Kind muß man sich doch fragen, ob es „Gesund“ ist? Man muß ja auch bedenken, daß 10% der Magersuchterkrankungen tödlich verlaufen.

    Ich kann mir gut vorstellen, daß die meisten Lehrer und Lehrerinnen vorher hoch zufrieden mit der Schülerin waren, und aus allen Wolken fallen, wenn es plötzich als Magersüchtig auffällt. Da kommen vielleicht gesellschaftliche Ideale ins Spiel: Mit einem Alphamädchen, erfolgreich und schön, „Sozial kompetent“ (bis zur Selbstaufgabe) ist doch alles in Ordnung?

  19. Mit dem „Eltern-beiseite-Nehmen“ muss nicht viel geholfen sein, möglicherweise eher verschlimmert, wenn es eine Familie ist, die nur heile Welt ertragen kann und mehr nicht. Wenn die Störung des Kindes auf Störungen/Probleme der Eltern hinweist, dann wird es schwierig.

  20. Ja, das Problem sehe ich auch. Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen ist ja auch irgendwie das Eingeständnis, versagt zu haben – Und was sollen erst die Nachbarn denken, wenn Mutter und Kind beim sozialpädagogischen Dienst gesichtet werden?

    Es ist schon ein Elend..

  21. Aber was könnte man tun? Ich habe ja nicht so die Ahnung, ich bin einfach ein politisch interessierter Mensch und sehe, daß in dem Bereich viel schief läuft.

    Welche Maßnahmen würden helfen?

  22. Ich denke, Bewusstsein schaffen hilft. Man muss da nicht im speziellen Fall mit der Magersucht anfangen, sondern einfach allgemein mit bewusstem sozialen/politischen/… Denken und Handeln. Irgendwelche Projekte, wo Schüler Erfahrungen mit diesem Denken, Handeln und Bewusstsein erfahren und lernen können. Das kann irgendwas Ökologisches sein, oder was Stadt- oder Gemeindepolitisches. Was auch immer.

    Ich hatte einen engagierten Deutsch- und Relielehrer, der sich sehr für das Selbstwertgefühl und das Selbstbewußtsein seiner Schüler eingesetzt hat. Er hat sie als kritische, denkende Wesen gesehen. So etwas hilft, denke ich.

  23. Stimmt schon, und eigentlich gäben die Schulgesetze das auch her. Gute Frage, warum solche Lehrer eher die Ausnahme sind. Vielleicht wird ja viel zu viel Wert auf die Fachkompetenz und viel zu wenig auf die Soziale gelegt.

    Ich denke Ganztagsschulen, die nicht nur Wissen vermitteln, sondern darüber hinaus auch Freizeit/Projektangebote machen könnten gerade Kindern aus problematischen Elternhäusern helfen.

  24. Ich glaube, Ganztagesschulen sind wieder im Kommen. Kann’s nicht genau sagen, weil ich nicht aufgepaßt habe.

    In Berlin (auch anderswo, aber da hat es angefangen) hat ein Pastor (Pastor Siggelkow) ein Projekt für arme Kinder angefangen (es gibt ein Buch darüber: „Deutschlands vergessene Kinder“). Die bekommen da in einem Haus eine warme Mahlzeit, Hausaufgabenbetreuung, Kinderfreizeiten und viel, viel Liebe. Arche heißt dieses Haus. Das Buch ist sehr, sehr berührend und ich finde, so etwas sollte es für alle Kinder geben.

    Und nicht nur für Kinder. Die Kinder sind ja oft so alleine gelassen, weil die Eltern schon alleine sind.

  25. Ich habe im Fernsehen einen Bericht darüber gesehen und war sehr angetan.

    Ja, Erwachsene finden leider oft nur in Veranstaltungen zusammen, die einen ökonomischen Zweck verfolgen. (z.B. Arbeitsstelle, Kneipe…)

  26. Also, das ein ist, wie Erwachsene zusammen finden. Und da haben es Leute mit Hartz IV verdammt schwer, denn so ziemlich alles kostet Geld. Also wird da schon mal nicht Gemeinschaft geübt bzw. gelebt.

    Es geht aber um mehr. Selbst wenn man eine Gemeinschaft um sich rum hat, kann man sich einsam und wenig wert fühlen bzw. mit seinen Problemen alleine dastehen. Und eben das geben die Erwachsenen dann an die Kinder weiter.
    Die Leute von der Arche wissen das, und wollen den Kindern mit der Arche eine Perspektive geben.

  27. Der Artikel ist hochinteressant-
    Das Mädchen ist, wie ich aus dem Kontakt weiß, sprachlich unglaublich begabt und kann somit ihre Gedanken in eine angenehm flüssige Sprache fassen.
    Glücklicherweiße möchte sie später beruflich als Journalistin arbeiten.
    Ich freue mich auf jeden Fall jetzt schon auf weitere Artikel eine der besten Newcomerinnen.
    mfg
    Felix

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