In vielen aktivistischen Kontexten herrscht die Überzeugung vor, dass die Gesellschaft, in der wir leben, durch Machtverhältnisse sozial konstruiert wird bzw. durch verschiedene Formen von Diskriminierung geformt wird. Strukturen, Institutionen, Weltbilder, Handlungen, Denkweisen, Medien, kulturelle Normen, wie Menschen miteinander umgehen (oder sich so gut wie nie begegnen), Wissen über die eigene Geschichte, Wissen über Diskriminierung und Machtverhältnisse allgemein. Es wird sich gegen jeden Versuch gewehrt, diese sozialen Konstruktionen als etwas Natürliches, Biologisches, Unschuldig-Ursprüngliches, war schon immer so – wird immer so sein, Unveränderbares, Unhinterfragbares vorzustellen. Denn: Menschen haben die Welt geschaffen, in der wir leben, gestalten sie täglich und tragen Verantwortung für ihr Handeln. Der versuch, das als etwas Wertfreies, Folgen- und Harmloses oder Unpolitisches zu interpretieren, macht, dass Diskriminierung (wenn überhaupt) irgendwo herrührt, aber sicher nicht von Menschen.
Die Welt auch als kontinuierliche soziale Konstruktion von Machtverhältnissen zu begreifen und die eigenen Entscheidungsmöglichkeiten und Handlungsspielräume darin wahrzunehmen, sich die eigenen Zugänge zum Leben bewusst zu machen und ggf. zu erweitern, für andere zu nutzen oder gegen ihr Versperrt sein anzukämpfen, ist Teil linker und feministischer Politiken.
Bis Typen ins Spiel kommen.
Es gibt Grenzen, die zu übertreten nach wie vor ein No-Go zu sein scheint, nicht nur, aber vor allem in explizit feministischen Kontexten: Begehren von Typen zu politisieren.
Es ist natürlich okay, dass LGBT gegen Diskriminierung ankämpfen. Nicht okay scheint es, auch im eigenen Alltag zu schauen, in der eigenen Praxis: mit wem ich mein Leben gestalte, wem und damit oft verbunden welchen Themen ich Aufmerksamkeit widme, mit wem ich Beziehungen (jeglicher art) knüpfe, wie wir fürweneinander da sind. Oder schlicht gefragt: Welchen Einfluss haben meine politischen Perspektiven und Haltungen auf meinen Alltag, aktivistisch oder auch nicht. Das Private ist politisch eben. Schon gar nicht okay scheint es, zu hinterfragen, warum ich eigentlich – obwohl Feminist_in – mein Handeln (auch) auf Typen ausrichte. Im Bett, im Plenum, im Job, im Freund_innenkreis.
Die Dezentrierung von cis Typen scheint nach wie vor eine ziemlich radikale Forderung zu sein, Dezentrierung von Typen als lesbische Politik zu rahmen, auch. Besonders, wenn’s dann mal auch nicht um Menschen geht, die Typen begehren. Sofort wird mensch oder die eigenen Politiken wahlweise als bifeindlich, monosexistisch, (wahrnehmungs)gestört, transfeindlich, unrealistisch, männerfeindlich, gewaltvoll, verkürzt, altbacken oder abwertend als lesbe/lesbisch/dyke bezeichnet. In diesen Vorwürfen stecken so viele lesbenfeindliche und insgesamt hetero_cis_sexistische wie pathologisierende annahmen, die vollkommen geschichtslos, kontextbefreit und kritiklos durch den Raum schwirren dürfen.
Klassiker in dieser Diskussion: darauf reduziert werden, wen mensch datet oder vögelt oder dass es einem_einer ja eigentlich nur darum gehen würde, eine bestimmte Sexualität als „moralisch besser“ zu definieren. Begehren wird mit „sexueller Orientierung“ gleichgesetzt. Einem Begriffspaar, das unpolitischer und biologistischer nicht sein könnte und eine psycho-pathologische Geschichte hat. Die Entpolitisierung / Reduzierung von Begehren auf Sexualität ist deshalb so daneben, weil sie a) lesbische Politiken und lesbische Bewegungsgeschichte komplett negiert und b) der Vorstellung auf den Leim geht, in der alle Nicht-Heten hypersexualisiert anderen ihre Sexualität oder „Lebensweise“ grenzüberschreitend (oh gays als predatory – the next homophobic trope) auf die Nase binden und ihren „Lifestyle“ ausbreiten wollen (oh gays als spreading disease – hello fellows!). Offenbar ist es nicht nur unvorstellbar, sondern auch richtig ängstigend, Typen nicht (auch) attraktiv zu finden. Heterosexismus und Lesbenfeindlichkeit 101.
Zweiter Klassiker in der Diskussion, nachdem diese darauf reduziert wurde, mit wem ich vögele oder wen ich date: DAS KANN MAN SICH DOCH NICHT AUSSUCHEN!!1!1 Zunächst wäre hier noch einmal anzumerken, dass es bei Begehren nicht nur ums Anhimmeln, Knutschen und Ficken geht. Es geht darum, wem ich meine Aufmerksamkeit und Zuwendung in allen Lebensbereichen schenke, welche Gesellschaftsanalyse für mich passt, welche Utopie ich vorstelle und mit wem ich dafür kämpfen möchte. Dann: hatten wir das mit der sozialen Konstruktion nicht geklärt? Warum die eigene Sexualität davon ausklammern? Klar, wer möchte schon zugeben, dass die eigene Vorstellung, welche Körper und Identitäten als begehrenswert empfunden werden, den normativen und diskriminierenden Vorstellungen der Mainstream-Gesellschaft folgt? Wer möchte schon zugeben, dass die einzige Form des Nicht-Typen-Begehrens objektifizierend und fetischisierend ist? Selbst erlebtes Praxisbeispiel: Heten, die von Typen die Schnauze voll haben, deshalb in queere Clubs rammeln und sich dann beschweren, wenn sie nicht auffallen, nicht angeflirtet werden. Und auch noch die Unverschämtheit besitzen, das öffentlich als femme- oder bifeindlich zu bezeichnen. (Mit Applaus und Zuspruch von Heten und unreflektierten Queers, versteht sich). Sorry bitch, aber wenn deine Heten- und internalisierten Male-Gaze-Logiken aus jeder Pore stinken, ist das halt ziemlich unsexy für uns.
Wer möchte schon gerne zugeben, sich berechtigterweise über Typen von Mansplainer bis Mörder und Vergewaltiger aufzuregen, die Normalität von patriarchalen Gewaltverhältnissen anzuprangern, aber kein Problem damit zu haben, Typen in unserem Leben Raum zu geben und ihre Existenz in unserem Leben mit Kackscheiße als feministisch zu verteidigen? Aber die Rechtfertigung „ich bin halt so“ ist okay??? Wow, stell dir vor, du bist so ignorant, dass deine kognitive Dissonanz dir nix anhaben kann.
Drittens wäre an dieser stelle auch noch einmal anzumerken, dass die Haltung Typen zu begehren etwas wäre, was unveränderbar sei, schlichtweg auf hetero_cis_sexistischen, eugenischen, völkisch-rassistischen und biologistischen Konzepten von Menschsein und Beziehung zu anderen beruht. Wir alle werden in einer Welt sozialisiert, die diese Konzepte unhinterfragt als Norm setzt und durchsetzt. Wir internalisieren diese Konzepte. Unsere „Begehrensbiografie“ erleben wir trotzdem sehr unterschiedlich. Manchmal scheint das eigene Begehren als etwas, das lange Zeit so war. Manchmal sind wir unsicher, welche Haltung wir dazu einnehmen. Manchmal schämen wir uns oder entwickeln gepflegten Selbsthass, weil die Gesellschaft uns einredet, wie wir begehren, sei ekelhaft und verabscheuungswürdig, niemand würde uns so lieben. Manchmal wissen wir nicht, wie und wen wir begehren. Manchmal stehen wir nicht zu unserem Begehren, weil wir Diskriminierung fürchten oder erstmal die innere Zwangsheterosexualität auseinander klamüsern müssen. Manchmal verändern sich Dinge gefühlt ohne unser eigenes Zutun. Manchmal merken wir, dass wir bestimmte Dinge nicht (mehr) wollen. Manchmal treten diese Dinge gemeinsam in unterschiedlichen Nuancen zu unterschiedlichen Zeiten in unserem Leben auf. Ungeachtet dessen treffen wir immer wieder Entscheidungen in diesem Kontext und finden Umgänge damit. Wir haben Handlungsmacht. Wir haben Agency. Wir haben Verantwortung. „I was born this way“ Rhetoriken zu bemühen, negiert das.
In einer hetero_cis_sexistischen und patriarchalen Gesellschaft zu leben und keine cis typen zu begehren, sich aktiv dagegen zu entscheiden, den Raum von cis typen im eigenen Leben auf das mir momentan mögliche Minimum zu reduzieren und auch mein sprechen darüber zu verändern, ist ein Akt des Widerstands. In dieser Gesellschaft mein begehren auf marginalisierte Identitäten zu richten oder stärker auszurichten ist ein Akt des Widerstands. Denn diese Menschen sind die einzigen potentiellen Mitstreiter_innen, die ein ehrliches und aufrichtiges Interesse am Ende dieser Zustände haben (abgesehen von den Heteras, die es schon als Errungenschaft feiern, wenn ihr BF mal keine scheiße erzählt oder das Kind kurz hält, während sie den Abwasch macht). Das alles ist teil lesbischer Politiken und lesbischer Identitäten, nicht exklusiv, aber eben auch.
kann mensch selbstverständlich nicht teilen diese Perspektive, aber dann bitte: werft nicht bei jeder sich (nicht) bietenden Gelegenheit ein, dass typen auch noch da sind. wissen wir alle, die wir atmen.
Warum bekommen ‚cis Typen‘ eine Sonderkategorie und wie soll diese sinnvoll umgesetzt werden? Woher soll ich denn bitte wissen ob ein Typ trans ist oder nicht? Viele Leute scheinen zu denken, dass alle Transleute einfach offen mit ihrer Geschichte umgehen. Das ist angesichts der Gefahren etc. die das birgt, ganz schön naiv.
„Warum bekommen ‚cis Typen‘ eine Sonderkategorie?“
>> weil ich nicht alle menschen gleich sind??? und weil es tatsächlich typen gibt, die cis sind?
„Woher soll ich denn bitte wissen ob ein Typ trans ist oder nicht?“
>> was hat die frage mit dem text zu tun?
verstehe nicht, warum es so schwer ist, cis typen weniger raum zu geben…ich meine deswegen gibts frauenlesbentrans*räume? oder demoblöcke für FLT*? oder feministischen aktivismus?! wir schaffen es doch auch, es als richtig und wichtig zu erachten, stimmen von marginalisierten lauter zu machen, zu unterstützen, während andere weniger priorität bekommen, weil sie eh schon viel raum einnehmen? warum bilden typen für dich ne ausnahme?
Hallo Nadine,
ich habe nach Lesen deines Artikels etwas überrascht festgestellt, dass ich über die letzten Jahre wie ganz selbstverständlich cis Typen in meinem Privatleben dezentriert habe. Überhaupt nicht aus feministischem Anspruch, sondern irgendwie ist das wie von selbst passiert, weil sie nur selten etwas für mich groß relevantes sagen oder tun. ^^ Insofern: weiterempfehlen kann ich ein solches Leben auch.
Ich fühle mich aber deswegen nicht „progressiver“ als andere und kann zugegeben wenig von deiner Forderung an *andere* verstehen, doch Typen aus deren privaten Leben/als Nahmenschen stärker rauszuhalten.
Wo ich mit dir aber übereinstimme: dass wir Diskussionen über Begehren führen sollten. Das essentialistische „born this way“ darf diese nicht einfach beenden. Allerdings: ich finde es nicht gut, Menschen für das was sie bereits jetzt begehren zu kritisieren, denn das führt eher in ganz dunkle Ecken wie Gay Conversion Therapy. Ein Begehren wegzulöschen funktioniert bekanntermaßen nicht, sondern führt höchstens zu Selbsthass.
Stattdessen sollte es darum gehen, warum wir bestimmte Dinge *nicht* begehren, warum bestimmte Menschen aus dem Begehren ausgegrenzt werden. Um cis Männer zu „dezentrieren“, braucht es m.E. nicht eine persönliche Infragestellung des Begehrens auf diese (das zentriert diese ja auch schon wieder!), sondern eine Infragestellung des Nicht-Begehrens auf andere Menschen: zum Beispiel behinderte, dicke, trans Menschen sowie PoC. Da haben sich lesbische Politiken übrigens auch mal an die eigene Nase zu fassen, so gerne wie dort biologistische Erklärungen von Geschlecht und Begehren sowie ein essentialistisches Verständnis von Lesbischsein bemüht werden, um den Ausschluss von trans Weiblichkeiten wie mir zu rechtfertigen.
Dass du da zu ganz anderen Schlüssen kommst, hat wohl wirklich etwas damit zu tun, wie unterschiedliche Utopien verschiedener Feminist*innen aussehen. In meiner Utopie gibt es viel kritische Reflektion von Machtstrukturen, aber gleichzeitig keine persönliche Kritik an Menschen, dass diese nah mit cis Männern oder Weißen oder anderen Menschen mit Privilegien sind, dass sie ihr Begehren auf diese ausrichten. Persönlich nahe Beziehungen gelten dabei nicht je nach Privilegienstatus des Gegenübers automatisch als unterschiedlich „progressiv“.
Ich wäre nun total neugierig zu erfahren, wie *deine* Utopien konkreter aussehen, um deine Perspektive besser nachvollziehen zu können. Mit wem willst du Seite an Seite kämpfen, mit wem eher nicht oder auf keinen Fall? Was tun Heteros in dieser Utopie, was tun cis Menschen und gerade cis Typen?
Ich bin neugierig auf deine Antwort!
PS: Ich möchte noch kritisch anmerken, dass Schwule in deinem Artikel total unter den Tisch fallen. Eingangs schreibst du von LGBT, und dann geht es um cis Typen und diese zu dezentrieren, aber dies wird mit *heterosexuellem* Begehren gleichgesetzt. Auch lesbische Politiken müssen eine Positionierung zu cis Schwulen finden und können sie nicht mit cis hetero Typen in einen Topf werfen, zumindest kann man diese dann nicht mehr mit Heterosexismus begründen. Gleichzeitig ist die zu große Zentrierung cis schwuler Interessen in der LGBT-Community gegenüber cis lesbischen Interessen ebenfalls ein Ding, also Kritik ist da natürlich auch angebracht.
Hallo Natanji,
danke für deinen ausführlichen Kommentar. Ich werde auch mal etwas ausführlicher darauf antworten.
Das Wort „progressiv“ stammt aus anderen, US-amerikanischen Debatten rund um Begehren innerhalb der dort viel heterogeneren LGBT*Community und ist eine sarkastische Bezugnahme auf Entwicklungen, nach denen zum Beispiel lesbisches Begehren oder eine lesbische Identität auf cis Frauen, die ausschließlich cis Frauen lieben, reduziert wird, während für andere Begehrensformen eine „fluidere“, „flexiblere“ – vermeintlich „modernere“ Haltung zu Begehrens- und Identitätsfragen konstruiert wird. Das ist ja nicht nur sehr verkürzend und verallgemeinernd, sondern auch an lesbischer Bewegungsgeschichte in den USA vorbei. ein Beispiel: Lesbian Avengers, eine radikale lesbische Gruppe, die nie einen Unterschied zwischen cis und trans gemacht (in Bezug auf, wer darf mitmachen), in der Cis Lesben z.B. Eskortservices für Trans Lesben organisiert haben, damit diese sicher von A nach B kommen. Auch die Auffassung zu Gender und Identität war eine andere, als viele Cis Lesben und solche, die sich nicht auf dem binären Genderspektrum verorten, heute noch pflegen und dafür zurecht kritisiert werden. In der lesbischen Bewegung haben sich schon immer Frauen getummelt, die transfeindlich und transweiblichkeiten/-femme-feindlich im Speziellen sind, genauso wie in anderen sozialen Bewegungen auch. In feministischen Kontexten generell geht mensch bis heute biologistischen und essentialistischen Vorstellungen von Gender und Begehren auf den Leim, die gleichzeitig in Bezug auf Rassismus, Ableismus und Schön- und Schlankheitsnormen höchst problematisch sind. Mich überrascht es, diese Kritik lediglich auf eine Gruppe zu richten und zu begründen, Transfeindlichkeit sei lesbischen Bewegungen oder Lesben inherent. Das negiert obendrein, dass es schon immer Lesben, die sich nicht als cis verstehen, in der lesbischen Bewegung und Theoriebildung gegeben hat.
Conversion Therapy: Es gab schon immer Versuche, Begehren jenseits der Cis-Hetero-Norm durch Essentialisierungen zu schützen, auch um Konversionstherapien den Boden zu entziehen oder Menschenrechte zu begründen. Die können ja nix dafür, weil sie sich das nicht ausgesucht haben. In der Vergangenheit führte das jedoch zu eugenischen, biologistischen und pathologisierenden Vorstellungen von Begehren, die auch nicht vor Mord schützten, Stichwort Magnus Hirschfeld. Das führt bis heute dazu, dass Begehren jenseits der Cis-Het-Norm als Krankheitsbild existiert, wenn auch versteckter und „Behandlung“ unterzogen wird. Ein Problem mit dem (Cis)Heten schlichtweg nicht dealen müssen. Wenn ich kritisiere, dass Begehren zu wenig politisiert wird, gerade in Bezug auf Cis Typen, gehe ich keineswegs davon aus, dass das von jetzt auf gleich veränderbar wäre oder ich vorschreibe, mit wem Sex politisch okay ist und mit wem nicht. Das steht auch nirgendwo im Text. Das Argument „Ich bin halt so“ ist aus meiner Perspektive entpolitisierend. Mir geht es darum zu verstehen, dass auch Begehren sozial hergestellt wird – Heteronormativität im Zusammenspiel mit anderen Diskriminierungsverhältnissen gibt vor, wer begehrenswert ist, nach welchen Idealen, Beziehungsformen, Menschen wir streben sollen, nach wem wir uns auszurichten haben. Wir leben im Patriarchat. Das bestreitet sicherlich keine_r. Dass damit auch eine Typenzentrierung einhergeht, die bis ins kleinste Detail unseres Denken und Handelns reicht, hingegen schon. Feminismus 101 negiert. Sorry, aber auf der Ebene diskutiere ich dann nicht mehr.
Menschen, deren Begehren Cis Typen nicht einschließt, müssen sich gezwungenermaßen jeden Tag fragen (lassen), warum? Menschen, die für sich feststellen, dass ihr Begehren nicht nur Cis Typen einschließt, ebenso. Homophobie und Zwangsheterosexualität. Wer sich tatsächlich mit Begehrensbiografien von Menschen beschäftigen würde oder im Freund_innenkreis öfter mal die Frage nach dem Warum thematisieren würde, würde feststellen, dass sehr viele Menschen, die heute jenseits der Hetennorm begehren, Zwangsheterosexualität und Homophobie sehr wohl als Grund benennen, sich nicht „früher“ überhaupt mit der Möglichkeit beschäftigt zu haben, anders zu begehren oder sich immer wieder auf Cis Typen eingelassen zu haben, obwohl die für sie immer uninteressanter wurden. Ob es Reaktionen des Umfeldes sind oder das eigene Denken betrifft. Kurz: Die Existenz von Heteronormativität in Begehrensfragen zu ignorieren mit „ich kann’s halt auch nicht ändern“ ist problematisch und entspricht einer Norm, die damit unhinterfragt reproduziert wird. Die eigenen Politiken und Bezugnahmen permanent als partikular und von gesellschaftlichen Verhältnissen beeinflusst wahrzunehmen, ist für mich Teil feministischer Handlungen. Da sehe ich in deiner Perspektive keinen Widerspruch zu meiner. Und nein, ich würde eben nicht per se behaupten, dass „sich anderen zuwenden“ automatisch in Typendezentrierung niederschlägt. Soziale Handlungen haben unterschiedliche Auswirkungen je nach Kontext. Priorisierung von Liebesbeziehungen über Freund_innenschaften, Schützen von Tätern im eigenen Umfeld, Konkurrenzverhalten, Geld, Zeit, Netzwerke, Lebenswege… Nicht umsonst orientieren sich weiße Feministinnen viel zu häufig an den Privilegien und Zugängen weißer Typen, wenn politische Forderungen gestellt werden. Würden diese Frauen von sich behaupten, Kritik am Patriarchat zu üben und sich stärker an den Bedürfnissen von Frauen auszurichten? Sehr wohl.
Zu meiner Utopie: Es reicht sicher, sich mal anzuschauen, was ich in den letzten Jahren so veröffentlicht habe an Texten, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie sich mein Begehren verändert hat über Zeit und welche Politiken für mich vorstellbar sind. Ein Teil davon ist Umverteilung: von Geld, Ressourcen, Aufmerksamkeiten, Zugängen zum Leben, Positionen/Hierarchien, Netzwerken, Care-Arbeit, Liebe und Freund_innenschaft.
Schwule Cis Typen sind nicht explizit Teil meiner Politiken, das stimmt. Das ist Absicht aus den von dir genannten Gründen und hat den weiteren Grund, dass ich der Meinung bin, dass Politiken, die sich dezidiert an einen bestimmten Teil der LGBT*-Community richten auch für schwule Cis Männer relevant sind. Ich finde zudem nicht, dass Lesbische Politiken Antworten finden müssen, die explizit schwule Cis Typen einschließen. Dass es lesbische Politiken dafür auch gar nicht braucht, sieht mensch ja an den Hierarchien innerhalb der Community, sowie an den politischen Forderungen, die im Hetenmainstream gehört und zum Teil umgesetzt werden. Politik für LGBT* hat sich schon immer an schwulen Cis Typen (in der Regel weiß, middle- und upperclass, able-bodied, citizenship) ausgerichtet. Eine lesbische Politik, die sich an intersektionalen Machtverhältnissen ausrichtet, macht automatisch Politik für schwule Cis Typen, deren Körper und Lebensverhältnisse nicht Teil der Norm sind.
PS: Meine Kritik richtet sich keineswegs nur an Heten, sondern alle, die cis Typen über andere priorisieren in ihrer Politik und in ihrem Alltagshandeln. Deswegen ist die Antwort „ich kann mir nicht aussuchen, mit wem ich Sex habe“ auch sehr kurz gesprungen.