Wir befinden uns im Jahr 1771. Ein Überraschungshit mischt die deutschsprachige Literaturszene ordentlich auf. Einer der ersten deutschsprachigen Briefromane wird anonym vom Herausgeber Christoph Martin Wieland veröffentlicht, eine utopische Geschichte um die emanzipatorische Entwicklung einer Tochter aus gutem Hause – und er entpuppt sich alsbald als Verkaufsschlager. Als Fortsetzungsroman in zwei Teilen begeistert er die Literaturliebhaber_innen. Wieder und wieder muss das Werk allein im ersten Erscheinungsjahr aufgelegt werden. Die Lobpreisungen überschlagen sich: »Man wird nun hoffentlich bald aufhören, von diesem Buch zu reden, und fortfahren, es zu lesen und zu lieben«, fasst Goethe die belletristische Sensation zusammen, für die er so sehr schwärmt, dass sie ihn dazu inspiriert, wenig später die Arbeit an »Die Leiden des jungen Werther« aufzunehmen. Dem Autor der Literatursensation gebühren Ruhm und Ehre. Doch es gibt ein Problem: Es gibt keinen Autor. Es gibt eine Autorin. Die »Geschichte des Fräuleins von Sternheim« ist nämlich von Sophie von La Roche geschrieben worden.
»Was für großartige Dinge hätte ich jetzt schreiben können!«
Einige Jahrzehnte später: In England schreibt eine furchtbar gelangweilte junge Lehrerin in ihr Tagebuch. »Fast eine Stunde lang habe ich mich abgerackert, um Miss Lister, Miss Marriot und Ellen Cook den Unterschied zwischen einem Artikel und einem Substantiv beizubringen«, heißt es da. Angesichts »solcher Faulheit und Interesselosigkeit« ihrer Schülerinnen versinke sie geradezu in Lethargie. Die Lehrerin klagt: »Was für großartige Dinge hätte ich jetzt schreiben können!« Ja, vielleicht hätte Charlotte Brontë noch mehr Weltliteratur produziert – wäre sie nicht in dem ihr von den Umständen aufgezwungenen Broterwerb als Lehrerin gefangen gewesen. Sie sollte trotzdem – ebenso wie ihre drei Schwestern – eine der größten Schriftstellerinnen aller Zeiten werden.
Fast drei Jahrzehnte nach dem Tode Charlotte Brontës, 1882, wird eine weitere große Schriftstellerin geboren: Virginia Woolf. Sie hält irgendwann fest: »Viele erfolgreiche Männer haben keine erfolgreichen Qualifikationen außer der, keine Frau zu sein.« Ihre etwas jüngere Kollegin Dorothy Parker hingegen sollte später ein ganz anderes Mantra pflegen: »Bitte, Gott, lass’ mich schreiben wie ein Mann.«
1951: Ein Buch wird veröffentlicht, das als Klassiker des Feminismus in die Geschichte eingehen wird, ein umfassender kulturgeschichtlicher Meilenstein zur Situation der Frauen in einer patriarchal dominierten Welt – eins der wichtigsten Werke über die Emanzipation der (weißen, europäischen) Frau des 20. Jahrhunderts. Simone de Beauvoir legt mit »Das andere Geschlecht« einen modus operandi vor, der andeutet, was noch Jahrzehnte später tonangebend sein soll im Feminismus des Abendlandes: Die Verflechtung von durchaus privilegiertem Leben und Werk für theoretische Entwicklungen sowie Spaltungsmotive, die vielleicht auch Zeugen sind für Überlebenskompromisse in einer sexistisch-strukturierten Welt – viele ihrer bekanntesten Zitate und Überlegungen beziehen sich immer wieder auf klassische Liebes-, also: Hetero-Beziehungsszenarien.
1983: Alice Walker bekommt den Pulitzer-Preis für »Die Farbe Lila«. Noch im selben Jahr prägt sie in einer Essaysammlung den Begriff »womanist«, der für sie für die Frauenbewegung der Afroamerikanerinnen steht: »Womanist is to feminist as purple is to lavender«. Etwas anders positionierte sich später Toni Morrison, immer wieder auf ihr Verhältnis zum Feminismus und ihrer Wirkkraft als Schwarzer Frau angesprochen: »I merged those two words, black and feminist, because I was surrounded by black women who were very tough and and who always assumed they had to work and rear children and manage homes.«
Die Verkennung als »trivial«
1996: Die Memoiren einer irischen Journalistin werden in den Buchgeschäften aus den Kisten heraus an Millionen Leserinnen und Leser verkauft. Mit »Nur nicht unsichtbar werden« hat Nuala O’Faolain einen Nerv getroffen und unter anderem die Verletzungen festgehalten, die das Leben im misogynen und streng religiösen Irland der 1960er und 1970er Jahre mit sich brachte. Der Lebensbericht, der stellvertretend steht für das Dasein Millionen irischer Frauen in einer männerdominierten Welt, wird ein in der Rezeption zwar ein Achtungserfolg, in der Literaturkritik aber oft als triviale Frauenerinnerungsbelletristik diskreditiert. Als literarisch brillant gilt im Folgejahr und später hingegen die Biographie eines Landsmannes: Frank McCourts »Die Asche meiner Mutter«.
Was also haben wir nun da? Frauenliteratur, Literatur von Frauen, Literatur für Frauen: Das, was Frauen literarisch produzieren, unter all diese Labels zu packen, ist zwar empirisch völlig richtig und eigentlich wünschenswert – fällt aber auch manchmal auf den Nährboden der Verkennung. Das liegt in der Natur der Sache, nämlich dann, wenn in einem Kulturmuster die »Männerliteratur« so sehr Status Quo ist, dass sie als Genre gar nicht erst so betitelt werden muss. Männerliteratur ist Literatur, wenn nicht sogar Weltliteratur, und Punkt. Und bei Literatur an sich denkt man auch erstmal nicht an Schmonzetten – es sein denn, ein Mann hat sie explizit vorwiegend für Frauen geschrieben (wie etwa der Millionenkracher Nicholas Sparks es regelmäßig tut). So schaut’s aus.
Feministische Literatur = »Sparte Abwehr- und Vorwurfsliteratur«
Verhält es sich anders dort, wo feministische Literatur als intendiert feministisch platziert wird? Als tatsächlich politisierte Prosa im Geiste des Widerstands und bisweilen ohne Umschweife auch direkt misandrisch (»männerfeindlich«)? Mitunter, wenn man zum Beispiel auf die literarische Reputation von Marlene Streeruwitz blickt. Hochintelligent und brillant sind ihre fiktionalen Streitschriften, da ist sich die Kritik einig. Trotzdem wird manchmal doch der eine oder andere »Witz« in Richtung Streeruwitz geschossen, und der liest sich dann zum Beispiel so: Die produziere für die »Sparte Abwehr- und Vorwurfsliteratur«.
Andere Millionenseller setzen (vielleicht auch ohne Absicht?) auf verschleierten Feminismus und versteckte Queerness: Banana Yoshimoto etwa, deren beständiges Motiv die Imagination der (Hetero-)Familie und die Erfindung des Geschlechts ist – allein ihr »Kitchen« wurde über sechzig Mal neu aufgelegt. Aber: Trotz ihres Millionenerfolgs kann man nun nicht gerade behaupten, dass um sie derselbe Personenkult betrieben wird, wie um, sagen wir mal, einen männlichen Kollegen wie Haruki Murakami.
Manchmal aber muss es auch umgekehrt laufen: Marlen Haushofer (»Die Wand«) beispielsweise, die zu Lebzeiten fast schon verbissen diszipliniert daran arbeitete zu zeigen, dass ihre Schreiberei kein »Hausfrauenhobby« ist, hatte mit ihren Büchern erst nach ihrem Tod großen Erfolg – und zwar, als die Frauenbewegung ihre Werke für sich entdeckte.
Man sieht schon, das Feld ist komplex und groß, und es kann eigentlich auch gar nicht unhistorisch fernab geografischer, politischer und sozialer Bedingungen verhandelt werden. Kann man alles, was Frauen geschrieben haben, über einen Kamm scheren? Nein. Bildet der Feminismus eine einheitliche Bewegung? Nein – und schon gar nicht dort, wo es um Textproduktion geht. Dennoch gibt es eine fast unüberschaubare Zahl von Büchern, die feministisch-emanzipatorische Kernbotschaften enthalten, ob nun gewollt oder aus Versehen (Anne Tyler: »Atemübungen«!). Und ja: Wahrscheinlich können die Frauen ihre Anliegen am besten selber formulieren und es nicht den Männern überlassen, da sie schließlich Expertinnen in eigener Sache sind.
Einzig eine Faustregel lässt sich vielleicht festhalten, und die Faustregel formulierte ohne Absicht vor Kurzem ein junges Mädchen das mir über den Weg lief: Dass sie schon oft gehört habe, dass »Die Tribute von Panem« sehr lesenswert seien, obwohl die Hauptprotagonistin weiblich sei – dabei würde jedoch niemals jemand sagen, dass Harry Potter ein gutes Buch sei, obwohl ein Junge die Hauptrolle habe. Und so verhält es sich vielleicht auch immer noch mit dem Gegenteil von Männer-Literatur: Dass sie vielleicht nicht erfolgreich ist, weil sie von Frauen und/oder für Frauen ist, sondern obwohl das der Fall ist. Leider.
(Dieser Text ist ein Crosspost und erschien ebenfalls in »analyse&kritik«.)